Wie machen wir den Journalismus widerstandsfähiger?

Fragen, was wirklich wichtig ist

18.05.2021

Warum beschäftigen sich Journalist:innen so viel mit dem "wogegen" und so wenig mit einem "wofür"? Journalistin und Neurowissenschaftlerin Maren Urner plädiert für eine konstruktive Perspektive im Journalismus. Gerade jetzt sei dafür eine gute Zeit. Diese von Matthias Daniel und Stephan Weichert herausgegebene Reihe "Wie wir den Journalismus widerstandsfähiger machen" ist eine Kooperation von Vocer und dem journalist. Text: Maren Urner

"Die Corona-Pandemie ist für den Journalismus eine dringend benötigte Intervention", sagt Maren Urner.

Ich kann es nicht mehr hören. Ich will auch nicht mehr darüber lesen oder davon sehen: dieses Jammern. Die Medienschaffenden, die wahlweise über das Ende oder den Untergang des Journalismus philosophieren. Ich habe genug von der digitalen Klagemauer der Branche mit teilweise wilden Thesen dazu, wer oder was Schuld daran trägt, dass der Journalismus auf der roten Liste gelandet sei.

Es ist paradox: Wenn es um die mögliche Zukunft des Journalismus geht, bestimmen viel zu oft Sündenbocksuchen, der Fokus auf das, was schlecht läuft und Fehleranalysen den Diskurs. Anders formuliert: Wie können wir eine Zukunft schaffen, wenn wir den Blick vor allem auf die Vergangenheit richten? Wenn wir ständig die Dinge ins Scheinwerferlicht rücken, die wir abschaffen wollen, statt unsere begrenzte Aufmerksamkeit auf das zu fokussieren, was wir in Zukunft haben wollen, also auf die Ziele? Wenn wir unsere Köpfe die meiste Zeit mit dem „wogegen“ beschäftigen statt mit einem „wofür“? Die Kurzantwort lautet in etwa so: Nicht besonders gut!

Dann kam Corona. Nach einem Jahr Pandemie  wage ich eine mutige These: Die Corona-Pandemie ist für den Journalismus eine dringend benötigte Intervention. Wenn Journalist:innen diese Chance jetzt nutzen, kann sie den Weg für einen zukunftsorientierten und widerstandsfähigen Journalismus ebnen. Denn die Pandemie hat es geschafft, überall auf der Welt eine Frage in den Fokus zu rücken: Was jetzt? Genau das fordert auch der konstruktive Journalismus, für den ich seit einigen Jahren stehe und eintrete. Ich beschreibe ihn gern anhand von drei Zutaten und wage dies heute entlang von drei Gründen, warum die Corona-Pandemie eine Primetime für konstruktiven Journalismus ist und damit gleichzeitig einen Weg für die Zukunft des Journalismus generell aufzeigt.

Und täglich grüßt die Frage „Wie kann es weitergehen?“

Aus Sicht der Psychologie ist die Pandemie ein globales Trauma, weil sie die Menschheit von einem auf den anderen Tag in vielen oder gar allen Lebensbereichen vor bis dato unbekannte Herausforderungen stellt. Im Frühjahr 2020 war plötzlich nichts mehr wie es war, von den kleinen Alltagsfragen wie dem Weg zur Arbeit bis hin zu den großen gesellschaftlichen Debatten zur Systemrelevanz und der Gestaltung einer nachhaltigen Zukunft auf diesem Planeten. Seitdem beginnen wir unseren Tag morgendlich mit der Frage: „Wie kann es weitergehen?“

"Die Corona-Pandemie ist eine Primetime für konstruktiven Journalismus und zeigt gleichzeitig einen Weg für die Zukunft des Journalismus generell auf."

Die Frage nach dem „Was jetzt?“ ist die erste wichtige Zutat des konstruktiven Journalismus. Dabei ist sie mehr als eine zusätzliche W-Frage, die den journalistischen Standardfragen nach dem „wer“, „wann“ und „wo“ hinzugefügt wird. Sie steht für ein grundsätzliches Umdenken, das sämtliche journalistische Arbeitsschritte betrifft. Was das bedeuten kann, zeigen exemplarisch die zwei folgenden Aspekten jeweils in Verbindung mit der Pandemie.

Worum geht es wirklich?

Der Kontrast könnte kaum größer sein: Ein kleines Virus, das wir mit bloßen Augen nicht sehen können, hat uns auf teilweise schmerzhafte und mit viel Leid verbundene Weise offenbart, worum es im Leben wirklich geht. Gerade in den ersten Monaten der Pandemie haben wir national und international intensiv über Systemrelevanz gesprochen und beraten. Zugrundeliegend war dabei stets die sowohl persönliche als auch gesamtgesellschaftliche Frage: Was ist wirklich wichtig, und was brauchen wir für ein gutes Leben? Die möglichen Antworten darauf haben viel mit Ehrlichkeit zu tun, weil es auch darum geht, Interessen offenzulegen. Bedürfnisse und Ziele können nur gegeneinander abgewogen werden, wenn sie offen diskutiert werden.

Genau darum geht es auch im konstruktiven Journalismus: zukunftsorientiert zu berichten und vor allem entsprechende Fragen zu stellen. Konstruktive Journalist:innen befragen ihre Interviewpartner:innen beispielsweise öfter zu möglichen Ausblicken und Lösungen, statt sich nur auf Aspekte aus der Vergangenheit und Gegenwart zu beziehen. Neben diesem anderen zeitlichen Horizont stellen sie auch inhaltlich andere Fragen. Sie sind nicht auf der Suche nach einfachen Aussagen, die sie möglichst plakativ und polarisierend in Schlagzeilen quetschen können. Stattdessen recherchieren sie umfangreiche Antworten und sind offen für neue Perspektiven.

„Geht nicht!“ - gibt’s nicht!

Als unser Leben im Frühjahr 2020 zum Stillstand kam, waren wir gleichzeitig auf sämtlichen Ebenen überfordert. Was zunächst paradox wirken mag, lässt sich psychologisch leicht erklären. Plötzlich funktionierten alle unsere Gewohnheiten und Routinen nicht mehr. Unser Gehirn musste sehr viel Energie darauf verwenden, neue Denk- und Verhaltensweisen zu entwickeln. Aus neurowissenschaftlicher Sicht sind Gewohnheiten und die damit einhergehenden Automatismen nichts weiter als ein praktischer Energiesparmechanismus. Im Umkehrschluss bedeutete das auch, dass die gern genutzte Pauschal-Absage „Das haben wir noch nie so gemacht. Das geht nicht!“ ihre Gültigkeit verloren hat. Egal, ob es um gestoppten Flugverkehr, Homeoffice oder Digitalkonferenzen ging.

Auch der konstruktive Journalismus bricht mit journalistischen Gewohnheiten, weil kreative und mutige Antworten auf die „Was jetzt?“-Frage meist mit einem Umdenken und Andersmachen zu tun haben. Als Eselsbrücke nenne ich gern drei „Ns“, die Journalist:innen dafür brauchen:

- Naivität, die es ermöglicht, vermeintlich einfache – oder „dumme“ – Fragen zu stellen. So können fest Verankertes hinterfragt und neue Perspektiven ermöglicht werden.

- Nachsicht mit anderen Menschen, inklusive deren Überzeugungen, Wünschen und Empfindungen sowie die Nachsicht mit sich selbst, wenn es um die eigenen Ansprüche und den Mythos der Unfehlbarkeit geht.

- Zuletzt und vielleicht am wichtigsten: Neugier! Eine Fähigkeit, die ich vor allem bei jungen Journalist:innen beobachte und die dann häufig auf dem Weg auf der Karriereleiter verloren zu gehen scheint. 

Der Ton macht die Musik

Die Pandemie lässt uns nicht nur über systemrelevante Berufe diskutieren, sondern verlangt uns auch große Entscheidungen ab, meist gekoppelt an die Frage: öffnen oder schließen? Drumherum führen Vertreter:innen aus Politik, Wirtschaft und Kultur Diskussionen, die uns nahelegen, wir müssten uns je nach Kontext zwischen Freiheit und Sicherheit oder zwischen Wirtschaft und Gesundheit entscheiden. Dabei haben bestimmte Wörter längst nicht mehr nur eine politische Färbung, sondern stehen häufig für eine Weltanschauung und lösen so bei Rezipient:innen bestimmte Reaktionen aus. 

Die zweite wichtige Zutat des konstruktiven Journalismus fasse ich gern mit einem Begriff zusammen: Auswirkungen. Gemeint ist die Erkenntnis, dass jede Information, die ein Mensch wahrnimmt, Auswirkungen auf ihn hat. Stärker noch: Jeder Gedanke – häufig angeregt durch mediale Inhalte – verändert unser Gehirn; wir können uns nicht nicht verändern. Das zu akzeptieren, scheint vielen Medienschaffenden extrem schwer zu fallen, da sie auf Biegen und Brechen an der Wunschvorstellung eines objektiven Journalismus festhalten.

"Wir alle wissen, dass die Welt und die meisten Zusammenhänge nicht schwarz-weiß sind. Trotzdem wird von Journalist:innen viel zu oft genau das vorgegaukelt."

Das bringt mich zurück zur Diskussion um Freiheit und Sicherheit, die wir in Zeiten von Corona unweigerlich führen müssen. Sie führt uns anschaulich vor Augen, dass Wörter und damit Nachrichten nur darum eine Bedeutung haben, weil wir bestimmte Assoziationen und Werte mit ihnen verbinden. So macht es einen Unterschied, ob wir von der Corona-Krise oder von der Corona-Pandemie, von Corona-Hilfen oder Corona-Zuschüssen lesen, hören und sprechen.

Vertreter:innen des konstruktiven Journalismus haben nicht nur ein Bewusstsein dafür, dass sie niemals objektiv „sagen (können), was ist“, sondern sind sich vor allem auch der enormen Verantwortung bewusst, die sie aufgrund ihrer Arbeit automatisch haben. Beginnend mit der Tatsache, dass sie als Sender:innen die Gehirne und Weltbilder ihrer Rezipient:innen stets verändern. Als konstruktive Journalist:innen kennen sie außerdem die grundlegenden kognitiven Biases wie den „Negativity Bias“ und den „Confirmation Bia“s. Der erste beschreibt die bevorzugte und schnellere Verarbeitung unseres Gehirns von Negativem. Der zweite ist Teil unseres psychologischen Immunsystems: Wir alle verarbeiten Informationen so, dass sie unsere bisherigen Überzeugungen festigen. Die eigenen Wahrnehmungen kritisch zu hinterfragen ist anstrengender. Das alles sehen konstruktive Journalist:innen aber nicht als Beschränkung, sondern als Auftrag zum kritischen Denken – für sich selbst und selbiges bei anderen anzuregen.

Den Grautönen auf der Spur

Sieben-Tage-Inzidenzen und R-Werte, Aerosole und Tröpfcheninfektion, Antikörper und RNA-Impfung: Gern wird das bunte Um-Sich-Werfen mit Begrifflichkeiten rund um die Corona-Pandemie als kritische Warnung auf die wachsende Zahl an Hobby-Virolog:innen, -Epidemiolog:innen und (mit Beginn der Impfungen) -Immunolog:innen ausgesprochen. Klar geht da auch einiges durcheinander. Viel wichtiger – nicht nur aus Sicht meiner These, die Corona-Pandemie als Chance für mehr konstruktiven Journalismus zu nutzen – erscheint mir die Hinwendung zu einer wissenschaftlichen Denkweise.

Genau darum geht es bei der dritten und letzten Zutat: den Grautönen. Wir alle wissen, dass die Welt und die meisten Zusammenhänge nicht schwarz-weiß sind. Trotzdem wird von Journalist:innen viel zu oft genau das vorgegaukelt. Da ist eine Maßnahme „gut“ oder „schlecht“, da haben Menschen „recht“ oder „unrecht“. Am schlimmsten sind solche binären Darstellungen, wenn sie außerdem nicht thematisieren, was das eigentliche Ziel ist (siehe Zutat Nummer 1 „Worum geht es wirklich?“).

"Zwei wichtige Aussagen lauten 'Ich weiß es nicht!' und 'Ich habe mich geirrt!'"

Das Stichwort der Grautöne motiviert konstruktive Journalist:innen, einzuordnen und so Komplexität abzubilden. Das bedeutet auch, mit Unsicherheiten umzugehen und Fehler zu kommunizieren. Zwei wichtige Aussagen, die dabei zentral sind, lauten „Ich weiß es nicht!“ und „Ich habe mich geirrt!“ So erinnert diese dritte Zutat der Grautöne am stärksten an gute Forschung und die daran gekoppelte Erkenntnis: Wissenschaft ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Spätestens das sollte uns allen vor Augen führen: „Das war schon immer so!“ ist kein besonders gutes Argument, wenn wir wirklich über die Zukunft sprechen und berichten wollen.

Maren Urner ist Professorin für Medienpsychologie an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft (HMKW) in Köln. Nach dem Studium der Kognitions- und Neurowissenschaften in Deutschland, Kanada und den Niederlanden wurde sie am University College London in Neurowissenschaften promoviert. 2016 gründete sie Perspective Daily mit, das erste werbefreie Online-Magazin für Konstruktiven Journalismus. 2019 erschien ihr erstes Buch „Schluss mit dem täglichen Weltuntergang“, 2021 folgte „Raus aus der ewigen Dauerkrise“.

Dieser Beitrag ist in einer Kooperation von Vocer und dem journalist entstanden.Vocer ist eine gemeinnützige Organisation für Medieninnovation und journalistische Bildungsprogramme. Der Beitrag wird in dem Buch "Wie wir den Journalismus widerstandfähiger machen" erscheinen, das im Sommer im Vistas Verlag erscheinen wird. Herausgeber sind Vocer-Mitgründer Stephan Weichert und journalist-Chefredakteur Matthias Daniel.

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