Wir produzieren keine Eiscreme
Heute bauen Lokaljournalisten eher Bildstrecken zu Banalitäten, statt Skandale aufzudecken.
Was Journalisten recherchieren, entscheiden Redaktionen immer häufiger nach betriebswirtschaftlichen Kriterien. Damit werden sie ihrem öffentlichen Auftrag nicht mehr gerecht. Ein Aufschrei aus der Mitte einer Regionalzeitung.
Text: Jacob Goldmann (Pseudonym)
07.11.2024
Wer sich im Spätsommer 2022 durch die Seiten der Regionalverlage geklickt hat, der musste davon ausgehen, dass die Nosferatu-Spinne die lokalen Bevölkerungen ausrotten würde. Jeder einzelnen Spinne, die jemand in seinem Haus entdeckte, widmeten die Redaktionen einen Text: Spinne in Badewanne gesichtet! Spinne hängt in Lampenschirm! Spinne kriecht aus Küchenschublade! Ekel-Alarm!
Viele User klickten auf diese Texte und befeuerten so indirekt und ungewollt eine nicht existente Nosferatu-Plage. Die Redaktionsleiter werteten ihre Dashboards aus und fanden überall: Spinnen. Sie bestellten Texte, Bilderstrecken, immer mehr Nosferatu-Content. Schließlich wollen sie liefern, was der Kunde möchte.
Das ist die Logik der Marktwirtschaft. Stellen sie im Hause Langnese fest, dass niemand mehr ein Magnum-Eis kauft, aber alle Cornetto wollen, werden sie die Produktion von Magnum drosseln und den Markt mit Cornetto fluten. Das erscheint einleuchtend, wenn man ein solches Unternehmen betreibt.
Das Problem: Zeitungsverlage produzieren keine Eiscreme. Wenn die Redaktionen messen, dass sich „Demokratie“ nicht klickt, wie schon in mancher Konferenz zu hören war, was geschieht dann? Werden Lokalreporter angehalten, den Besuch des Stadtrats auszulassen, um lieber die Kandidatin für das TV-Format Love Island aus der Region zu treffen? Ja, genau so ist es.
„Retten wir den Journalismus, bevor nur noch eine Content-Produktion übrigbleibt, der egal ist, ob sie Journalismus verkauft oder Mettwürste.“
Die Zeit erklärt auf einer Lernplattform für Schüler: „Der Journalismus hat den rechtlichen Auftrag, eine Kritik- und Kontrollfunktion in der Gesellschaft wahrzunehmen: also Missstände aufzudecken, Gegebenheiten zu hinterfragen und Kritik zu üben.“ Nirgendwo steht, dass dieser Auftrag an ein Printprodukt gebunden wäre und für den Onlinejournalismus nicht gilt. Doch es ist genau dazu gekommen: Der Journalismus erfüllt vor allem online seinen ureigenen Auftrag nicht mehr. Und das muss sich dringend ändern.
Kritik unerwünscht
Das Pseudonym. Warum schreibe ich all das nicht unter meinem echten Namen, warum kämpfe ich nicht in meiner Redaktion mit offenem Visier dafür?
Weil schon demjenigen, der das Wort „Zeitung“ nur in den Mund nimmt, eine revisionistische Geisteshaltung angedichtet wird. Weil ein offener Diskurs über den Kurs nicht mehr möglich ist. Weil sich alle einig sind: mittelalte Unternehmensberater, mittelalte Chefredakteurinnen, mittelalte Verlagsgeschäftsführer. Sie erklären sich und ihr Digitalverständnis für allgemeingültig, schon um ihren jeweiligen Job zu sichern. Wer widerspricht, muss damit rechnen, als ewig Gestriger zu gelten, der einfach nicht begreift, welche Stunde geschlagen hat.
Aber nun ist es genug. Es muss ein Aufschrei durch die Redaktionen dieser Republik gehen. Wie lange wollen wir warten? Bis jeder Politikreporter Bildstrecken über den Kinderwagen des NRW-Ministerpräsidenten Hendrik Wüst anlegt, statt mögliche Skandale in seiner Staatskanzlei aufzudecken? Wir müssen den Journalismus retten, bevor nichts weiter übrigbleibt als eine Content-Produktion, der egal ist, ob sie Journalismus verkauft oder Mettwürste.
Selbstverständlich muss mit Journalismus Geld verdient werden (wobei manche Verleger durchaus auf etwas Rendite verzichten könnten, um in die Zukunft zu investieren, aber das nur nebenbei). Selbstverständlich wandert der Journalismus immer stärker ins Internet. Selbstverständlich sinkt die Print-Auflage weiter und weiter.
Die Kreativen verabschieden sich
Entschuldigung, das ist wahr, aber das sind Binsenweisheiten. Die vergangenen Jahre bis Jahrzehnte ist mehr als genug über Kanäle diskutiert worden, über Audiences, über „Online First“ und SEO-Zeilen. Wann sprechen wir endlich darüber, nicht wo und wie wir Journalismus verkaufen, sondern welchen?
Ein Satz, den man nun oft hört, lautet: Der Köder muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler. Die Journalistin soll also nicht schreiben, was sie lesen will, sondern was der Leser will. Das ist so banal wie alt. Wer vor 15 Jahren in einer printlastigen Zeitungswelt groß geworden ist, hat da schon gelernt, dass Journalismus nicht den Journalisten zu dienen hat, sondern den Lesern.
Niemand schreibt oder fotografiert gern am Publikum vorbei. Es ist nicht das Problem, dass gemessen wird, welche Texte und Bilderstrecken „performen“ und welche nicht. Das Problem ist, was mit diesen Informationen geschieht, siehe Nosferatu-Spinne.
„Wer sagt denn, dass viele Klicks Qualität bedeuten?“, fragt Deichkind. „Ich hab‘ mich niemals ausgezogen für die Klicks“, singt die Rapperin Loredana. Vor fünf Jahren schämten sich Journalisten noch dafür, bloß auf die Klicks zu starren. Heute ist es selbstverständlich geworden.
Es gibt darüber eine riesige Enttäuschung bei den Reporterinnen und Redakteuren, man spürt sie in allen Redaktionen und Verlagen. Das ist auch ein Aspekt dieses Dramas: Wird der Journalismus im Internet immer stärker nach den Regeln des Boulevards gestaltet, verabschieden sich die Kreativen, Denker und echten „Worker“, wie Julian Nagelsmann sagen würde, aus der Branche.
„Die letzten Jahre ist mehr als genug über Kanäle diskutiert worden. Wann sprechen wir endlich nicht mehr darüber, wo und wie wir Journalismus verkaufen, sondern welchen?“
Warum entscheidet sich denn jemand, Journalistin zu werden und was macht sie dann zu einer guten Journalistin? Einer der Hauptgründe dürfte derselbe sein, mit dem sie in den Personalabteilungen die Gehälter zu drücken versuchen: Ideale.
Dashboard vor Qualität
Gute Journalisten wollen aufklären, Licht ins Dunkel bringen, Zusammenhänge aufzeigen, sagen, was andere lieber nicht hören möchten. Sie wollen den Mächtigen auf die Finger schauen und unsaubere Machenschaften aufdecken. Das gilt im Lokalen, Regionalen, im Bund, in Brüssel, im Feuilleton wie im Sport und in der Wirtschaft.
Deswegen stehen gute Journalistinnen und Journalisten morgens auf. Sie stehen nicht auf, um das Dashboard zum Glühen zu bringen. Doch genau solche Dinge bringen wir denen bei, die einmal die Zukunft des Journalismus gestalten werden. Die Redaktionen feiern Volontärinnen und Volontäre nicht mehr dafür, dass ihnen ein guter Text gelungen ist, sondern dass ihre Bildstrecke gut lief. Und noch schlimmer ist: die Volontäre feiern mit.
Hier könnte also auch eine Antwort auf die Frage liegen, weshalb der journalistische Nachwuchs den Häusern zwischen Flensburg und Rosenheim nicht mehr die Türen einrennt. Auch wenn manch einer in der Verlagswelt einen Fachkräftemangel leugnet, ist unübersehbar, dass Quantität und Qualität der jungen Journalisten in der Breite nachlassen.
Es darf uns nicht verwundern, in einer Branche, die seit Jahrzehnten ihren eigenen Untergang herbeiredet. Und der die Freude an kreativer, inspirierender Redaktionsarbeit konsequent ausgetrieben wird. Wer also junge, mittelalte und ältere Journalistinnen für sich gewinnen will, sollte eine Idee von seinem Journalismus formulieren. Die könnte lauten: „Wahrheit existiert. Wir möchten ihr so nahe wie möglich kommen. Deshalb recherchieren wir mit allem, was wir haben. Dazu müssen wir unabhängig sein. Wir trennen Redaktion von Reklame. Streit nützt der Wahrheitsfindung.“ So postuliert es der österreichische Falter.
Marketing übernimmt
Über die Trennung von Redaktion und Reklame können sie beim Kölner Stadt-Anzeiger wohl nicht einmal mehr lachen. Es ist zu ernst. Dort haben sie das geltende Prinzip – es wird nur produziert, was in den Dashboards performt – zur Vollendung getrieben. Nicht mehr die Redaktion hat das Sagen über den Online-Auftritt, sondern die Marketing-Expertinnen. Da muss man sehr aufpassen, nicht zynisch zu werden.
Aber niemand braucht sich auf die Schulter zu klopfen, weil die Zustände nicht ganz so absurd sind wie in Köln. Denn in vielen anderen Redaktionen wird das geltende Prinzip der Marktwirtschaft (siehe oben) auch von den Journalisten selbst sehr eifrig umgesetzt. Als hätten sie eigentlich immer schon Betriebswirte werden wollen. Nein, lieber nichts zur Europawahl, lieber was mit Sex! Ja, kein Scherz.
Das Bild mit dem Fisch und dem Köder ist in vielerlei Hinsicht schief. Aber es ist entlarvend. Denn es offenbart das wahre Denkmuster. Es geht nicht mehr darum, in der Gesamtheit ein attraktives Angebot zu schaffen, das eine unterschiedlich große Anzahl von Menschen unterschiedlich interessiert (schon im Print-Zeitalter haben mehr Menschen den Sport als das Feuilleton gelesen, aber ja, auch das Feuilleton wird gelesen!). Sondern die Texte werden singulär betrachtet und in ihrer Singularität gemessen.
Dementsprechend könnte man auf die Idee kommen, dass man immer mehr Sport und immer weniger Feuilleton liefern sollte. Doch dadurch verliert man die Feuilletonleser an Die Zeit, die SZ oder die FAZ. Und man gewinnt überwiegend illoyale Leser, die nur wegen der Transfernews beim FC Augsburg gekommen sind und sich eigentlich gar nicht an die regionale Marke gebunden fühlen. Sie sind weg, sobald das 99-Cent-Angebot abgelaufen ist oder sie die nächste interessante Nachricht bei der Konkurrenz finden.
Warum „funktioniert“ ein Text?
Und es ist nicht so, dass die Dashboards unumstößliche Wahrheiten verkünden würden. Wer entscheidet, wann ein Text gut oder schlecht läuft? Und anhand welcher Kriterien? Was ist der Richtwert dafür? Wenn man im Redaktionsalltag genauer hinschaut, kann man sich des Gedankens nicht verwehren, dass es hier mitunter willkürlich zugeht. Denn die Redaktionsleiterinnen und die Verantwortlichen suggerieren, dass die Dashboards eine statistische Eindeutigkeit hätten, die es gar nicht gibt.
Ein Beispiel: Hat ein Text über einen Sternekoch „funktioniert“ (also Klicks und Abos gemacht), weil die Leserinnen sich für Gastronomie interessieren? Oder für gehobene Gastronomie? Oder für eine andere Lebenswelt? Oder für den Beruf des Kochs? Oder weil der Koch gerade im Fernsehen zu sehen war? Oder weil in dessen Küche Ratten gefunden wurden, und es eine Lust am Scheitern erfolgreicher Menschen gibt?
„Redaktionen feiern Volontärinnen und Volontäre nicht mehr dafür, dass ihnen ein guter Text gelungen ist, sondern dass ihre Bildstrecke gut lief. Und noch schlimmer: die Volontäre feiern mit.“
Man weiß es nicht. Möglich ist auch eine Kombination aus allem. Aber Dashboards wägen solche Fragen nicht ab. Wenigstens ihre Anwenderinnen sollten es tun.
Und jetzt? Jetzt ist alles mal raus und gesagt, die Wut hat ihren Weg in diesen Text gefunden. Aber was bedeutet das nun für die Zukunft des digitalen wie analogen Journalismus?
Es wäre anmaßend zu behaupten, dass ich die Lösung für alle Probleme hätte. Ein erster Schritt wäre, die offene Debatte darüber zuzulassen, welchen Journalismus wir betreiben sollten. Ein zweiter Schritt wäre, anzuerkennen, dass wir hier keinen internen Kulturkampf betreiben, sondern um die Zukunft der Branche kämpfen.
Demokratie ist gefährdet
Die Branche ist, nebenbei bemerkt, etwas systemrelevanter als irgendeine hippe Contentagentur, die für Cornetto Werbung gestaltet. Wenn lokale und regionale Reporterinnen nicht den Verantwortlichen in den Kommunen, Kreisen und Ländern auf die Finger schauen, tut es niemand. Und wo niemand hinschaut, wird es dunkel. Dort stirbt die Demokratie.
Der englische Schriftsteller John Boynton Priestley schrieb 1934: „Die Abkehr von der Politik ist der Boden, auf dem Autokratien gedeihen und die Freiheit stirbt.“
Ein regionaler Journalismus der Zukunft (print wie digital) sollte sich also zuerst seinen ureigenen Aufgaben widmen: Aufdecken und Aufklären. Die ganzen Klicks für Listicles und Bilderstrecken kann demnächst die KI einsammeln. Keine KI, kein Spiegel-Reporter, kein Meta-Angestellter wird herausfinden, dass der Bürgermeister die Knöllchen seiner Parteifreunde löscht. Der lokale Reporter vor Ort schon. Wenn man ihm den Auftrag dazu gibt und ihn nicht mit boulevardesken Aufgaben zumüllt.
Ein regionaler Journalismus der Zukunft sollte mutig sein und nicht verzagt. Er sollte nicht um sich selbst und seine Ausspielkanäle kreisen. Er sollte stärker in seine Marke investieren, die wiederum als Ganzes die Leserinnen und Leser anzieht. Und er sollte sich nicht mit Debatten über die Performance einzelner Texte ablenken.
Ein regionaler Journalismus der Zukunft sollte Freude bereiten. Den Leserinnen und Lesern zuerst. Aber den Journalistinnen und Journalisten auch. Denn betreiben sie ihre Arbeit mit Leidenschaft, werden die Leserinnen und Leser sich bei ihnen gut aufgehoben fühlen. Sie kündigen ihr Abo dann vielleicht nicht, wenn die Probe-Phase abgelaufen ist, sondern bleiben am Ball. Weil sie erwarten, dass da noch etwas kommt. Wir sollten diese Erwartung endlich erfüllen.
Jacob Goldmann ist ein Pseudonym. Die Person arbeitet in einem regionalen Verlagshaus und ist der Redaktion bekannt.