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Wie ich einmal fast eine Reportage schrieb

Szene bei der Recherche: Alexander Krex (M.) war eine Woche in Indien unterwegs. Alles schien da zu sein – aber am Ende passte die Geschichte nicht zusammen. (Foto: LAIF/Helene Schaetzle)

Acht Tage lang recherchierte Alexander Krex im Jahr 2017 in Neu Delhi und Umgebung. Der freie Journalist sollte für Geo eine Reportage über ein blindes Kind schreiben, das nach einer Operation wieder sehen kann und das Leben neu lernt. Eine große Geschichte, aber die Puzzle-Teile passen nicht zusammen. Die Nachzeichnung einer gescheiterten Recherche. Von Alexander Krex

05.04.2019


Unser Fahrer drückt die Hupe beidhändig. Was nichts daran ändert, dass der Mann vor uns Mühe hat, seinen Ochsen dazu zu bewegen, den mit Ähren beladenen Karren von der Straße zu ziehen. Wir sind auf dem Weg von Neu Delhi in den benachbarten Bundesstaat Uttar Pradesh, wo wir die Protagonisten für unsere Reportage zu finden hoffen. Neben mir auf der Rückbank sitzt die deutsche Fotografin, Rucksack auf dem Schoß, auf dem Beifahrersitz unsere Übersetzerin aus Mumbai. Auf breite Asphaltstraßen folgen schmale Plattenwege folgen schlammige Pisten. Im Dorf muss ein Händler seinen Gemüsestand abbauen, damit unser Auto die enge Kurve nehmen kann. Kurz darauf erreichen wir das flache, weiß gestrichene Lehmhaus in dem Farhana und Bushra wohnen, Schwestern, 15 und 13 Jahre alt, bis vor einiger Zeit blind. Sie müssen es sein, sie müssen meine Geschichte tragen. Unter dem gedrungenen Tamarindenbaum vor dem Eingang zieht der Fahrer die Handbremse. Tamarinde, so steht es in meinem Block, dahinter ein Fragezeichen in Klammern: Noch mal checken, heißt das. Habe ich noch mal gecheckt?

Vor zwei Jahren scheiterte ich an einem Text für das Geo Magazin. Nein, hier muss ich präziser sein: Ich scheiterte an der Geschichte. Der Text erschien trotzdem (Vom Dunkel ins Licht, Geo, 12/2017), nur in anderer Form. Ursprünglich sollte ich eine Reportage über ein blindes Kind schreiben, das nach einer Operation sehen lernt. So sollte ich, Pars pro toto, die Arbeit der Hilfsorganisation Project Prakash beleuchten, deren Mission es ist, Kinder aus armen Familien in Nordindien vom grauen Star zu befreien. Aus der Geschichte über ein gewendetes Schicksal wurde ein Feature über die Hilfsorganisation und ihre Grundlagenforschung zur visuellen Wahrnehmung. Ich hatte viel erlebt, viel zu viel notiert, und doch ließ sich daraus keine dichte Reportage machen.

In einem Waisenhaus in Delhi hatte ich eine Reihenuntersuchung beobachtet, bei der Augenärzte nach betroffenen Kindern suchten. Ich hatte in einem kühlen Operationssaal gesessen und einem Chirurgen in Schlappen dabei zugesehen, wie er einem Mädchen den Augapfel mit dem Skalpell öffnete, um ihre vom grauen Star getrübte Linse gegen eine künstliche auszutauschen. Ich hatte den 15-jährigen Karan getroffen, der vor wenigen Tagen operiert worden war, und ihn mit der Rikscha in sein Blindeninternat begleitet. Juanid hatte ich zu Hause bei seinen Eltern besucht, einen jungen Mann mit Brille und Seitenscheitel, der, seit er operiert worden war, mehr verdiente als sein Vater.

Sie alle hatten Spannendes zu erzählen, taugten aber nur bedingt als Protagonisten. Juanid etwa verdiente sein Geld bei eben der Organisation, die ihm geholfen hatte. Er könnte befangen sein, fürchtete ich. Karan erholte sich noch von der Operation, träufelte sich alle paar Stunden ein Antibiotikum in die Augen. Ich würde nicht lange genug da sein, um zu beschreiben, wie sich sein Alltag veränderte.

Auch sie schweigt

Jetzt also Farhana und Bushra, die schon vor einigen Jahren operiert wurden. Vor der Tür wartet ihr Vater, ein kleiner, frommer Mann mit robusten Händen, der sein Geld auf den Zuckerrohrfeldern der Gegend verdient. Er heißt uns willkommen, deutet auf die Plastikstühle im gepflasterten Innenhof. Ringsum stehen Nachbarn und Kinder. Besuch aus Delhi ist ein Ereignis, und dann noch Europäer. Während wir Limonade trinken und süßes Gebäck essen, erklärt der Vater, wie dankbar er sei, dass seinen Töchtern geholfen wurde. Schon als sie Kleinkinder waren, habe er gewusst, dass etwas nicht stimme, immerzu stolperten sie über die Steine im Hof. Zur Schule habe er sie deshalb nicht geschickt. Jetzt, da sie sehen können und also ihre Pflichten im Haus verrichten, dürfe er hoffen, sie bald zu verheiraten.

Die Mädchen hocken abseits, den Blick gesenkt auf ihre Zehen, die in abgelaufenen Flipflops stecken. Als ich ihn darum bitte, winkt der Vater sie heran. Ob sie sich noch an ihr Leben ohne Augenlicht erinnern könne, will ich von der Älteren wissen. Ich warte auf die Übersetzung, warte auf eine Antwort. Sie redet nicht. Ich frage die Jüngere: Wie war das, als du nach der Operation das erste Mal die Augen aufgeschlagen hast? Auch sie schweigt, sie sind es nicht gewohnt vor Onkeln, Nachbarn, Fremden zu sprechen. Stattdessen springt ihr Vater ein. Große Angst hätten seine Töchter gehabt, sagt er, vor der Stadt, vor dem Krankenhaus, vor der Operation. Er habe lange überlegt, ob er sie den Ärzten anvertrauen soll. Die einzige Frau, die mir in die Augen schaut und auch mal laut lacht, ist die Großmutter. Früher habe sie beim Essen immer die Fliegen verscheucht, erzählt sie, damit die Mädchen sie sich nicht versehentlich in den Mund steckten. Solche Details brauche ich.

Was hat sich noch verändert seit der Operation? Der Vater habe sie danach in die Schule geschickt, erzählt die Großmutter, aber die Mitschüler schimpften sie so lange „Schielauge“, bis sie vor Bauchschmerzen nicht mehr zum Unterricht gehen konnten. Stattdessen besuchten sie zwei Jahre lang eine Koranschule im Dorf, wo sie lernten, Verse aus dem heiligen Buch vorzulesen. Sie können also lesen, sage ich. Die Übersetzerin stutzt, lehnt sich zu mir, sagt: Gemeint sei wohl eher auswendig gelernte Suren aufsagen. Mumbai ist mehr als 1.300 Kilometer entfernt, manchmal hat sie Probleme mit dem Dialekt hier im Norden. Sie hakt noch einmal nach, die Großmutter sagt noch einmal „lesen”. Um sicher zu gehen, müsste man die Mädchen hier vor aller Augen einem Lesetest unterziehen, was wir nicht vorhaben. Später beobachten wir, wie die Schwestern Armbänder knüpfen, was genaues Hinsehen erfordert. Sollten sie wirklich nicht lesen können, dann nur aus dem Grund, dass man es ihnen nicht beigebracht hat.

Wie durch Butterbrotpapier

Bevor die Sonne untergeht, will die Fotografin Bilder von Farhana und Bushra machen, oben auf dem Dach. Die Minarette der benachbarten Moschee legen ihre Schatten auf die Terrasse aus fest getretenem Kuhdung, auf der Wäscheleine trocknen bunte Saris. Ich gehe wieder runter in den Hof, hoffend, dass die Mädchen etwas auftauen, wenn sie unter Frauen sind. Die Übersetzerin habe ich gebeten, meine Fragen noch einmal zu stellen. Aber die Antworten werden so vage sein, dass ich nicht viel damit anfangen kann. Das liegt nicht allein an der Schüchternheit, sondern auch daran, dass die Mädchen es nicht gewohnt sind, über ihre Befindlichkeiten zu sprechen. In ihrem Alltag ist dafür kein Platz. Szenen aus ihrem Leben zu rekonstruieren, die mehrere Jahre zurückliegen, scheint unmöglich. Es liegt aber auch an der bildhaften Art, wie die Menschen hier von den Dingen erzählen, die ich als Europäer nicht entschlüsseln kann und unsere Übersetzerin aus der urbanen Mittelschicht auch nur zum Teil. Es kommt mir vor, als würde ich durch Butterbrotpapier auf dieses abgelegene Dorf in Nordindien blicken.

Am Ende des Tages merke ich, da ist noch etwas, das gegen Farhana und Bushra als Protagonistinnen spricht: Sie sind Mädchen im ländlichen Nordindien. Das ist nicht zynisch gemeint, es ist nun mal so, dass sich für einen Jungen in Delhi mehr ändert. Karan, der, wenn er genesen ist, das erste Mal auf eine reguläre Schule gehen wird, träumt davon, Verwaltungsbeamter zu werden. Ob blind oder nicht, die Schwestern verlassen ihr Elternhaus so gut wie nie, seit sie die Koranschule im Dorf nicht mehr besuchen. Warum sollten sie, fragt der Vater verwundert. Nur manchmal folgen sie ihm, ein leuchtend buntes Tuch um Hals und Haar geschlungen, aufs Zuckerrohrfeld, wo sie die Pflanzen aufsammeln, die der Vater mit der Sichel geschlagen hat.

Wie zuvor bewegen sie sich fast ausschließlich im Schatten des Innenhofs. Gegen fünf Uhr früh stehen sie auf, sie waschen sich Hände und Füße unter dem unsteten Wasserstrahl der Pumpe, dann rollen sie ihre Gebetsteppiche aus, und knien sich nieder, Blick nach Westen. Die Mädchen beten still, so wie sie all ihre Pflichten erledigen, still hocken sie vor dem kleinen Ofen, wo sie über offener Flamme das Essen zubereiten, still füttern sie die Zicklein, kümmern sich um die Geschwister, still drücken sie sich an der Wand entlang, wenn ein Onkel oder ein Nachbar zu Besuch ist. Dass sie sehen können, hat ihr Leben verändert, natürlich, auch ihren Alltag. Ihr Schicksal hingegen zeigt sich davon recht unbeeindruckt.

Alexander Krex ist Redakteur im Entdecken-Ressort von Zeit Online, außerdem arbeitet er als freier Autor für verschiedene Magazine.

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