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Wie gefährlich ist Bild?

Ist Bild noch Teil der aufklärenden demokratischen Öffentlichkeit?

Die Kritik an Bild reißt nicht ab. Dem Skandal um Ex-Chef Julian Reichelt folgt massiver öffentlicher Protest gegen den redaktionellen Umgang mit Wissenschaftler*innen. Wieder mal geht es um nichts weniger als den Platz von Bild in der Gesellschaft: Ist der Branchenriese Teil der aufklärenden demokratischen Öffentlichkeit – oder im Gegenteil eine Gefahr für den gesellschaftlichen Frieden? Text: Michael Kraske

23.01.2022

Dieser Skandal ist anders. Zwar ging es auch in der Causa Julian Reichelt über die Frage unangemessenen Verhaltens gegenüber Mitarbeiterinnen hinaus darum, wie toxisch eigentlich die Unternehmenskultur bei Bild ist. Zwar hat der Fall des selbstherrlichen Ex-Chefredakteurs auch den Verlag Axel Springer und dessen Vorstandschef Mathias Döpfner schwer beschädigt. Der hatte Reichelt, bevor er ihn später fallen ließ, Berichten zufolge in einer privaten Textnachricht als letzten und einzigen Journalisten verteidigt, der gegen einen „neuen DDR-Obrigkeitsstaat“ aufbegehre. Fast alle anderen Journalist*innen wurden dagegen zu „Propaganda-Assistenten“ erklärt.

Doch weder das Zögern des Axel-Springer-Verlags im Umgang mit Reichelt noch die enthüllte Verachtung gegenüber Kolleg*innen und der Demokratie seitens des Springer-Chefs bewirkten eine sichtbare Kurskorrektur. Reichelt wurde zwar als Bild-Chef durch Johannes Boie ersetzt. Döpfner darf hingegen weiter als oberster Vertreter des Bundesverbands Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) für jene Branche sprechen, die er privat schon mal schmäht. Am Ende dampfte die „Springer-Affäre“ medial zur bunten Personalie ein, als die Zeit im Interview fragte: „Herr Reichelt, können Sie ohne Bild leben?“ Die viel wichtigere Frage bleibt offen: Wie gut oder schlecht kann dieses Land mit Bild leben?

Nun aber wird diese heikle Frage mit neuer Vehemenz gestellt: etwa als Bild in „Die Lockdown-Macher“ die Wissenschaftler*innen Viola Priesemann, Dirk Brockmann und Michael Meyer-Hermann in reißerischer Aufmachung für harte politische Corona-Maßnahmen verantwortlich gemacht hat. Nach 94 eingegangenen Beschwerden beim Deutschen Presserat hat der ein Verfahren eingeleitet. So weit, so normal. Doch anders als bei vorherigen Skandalen kommt die Kritik diesmal nicht nur von kritischen Langzeit-Beobachtern wie dem Bildblog, sondern von  Persönlichkeiten und Institutionen, die sich sonst eher selten laut in Medien-Debatten einschalten. Die Allianz der Wissenschaftsorganisationen kritisiert, Bild habe einzelne Forschende diffamierend „zur Schau gestellt“. Dies könne ein Meinungsklima befördern, das zu „physischer und psychischer Gewalt“ führe. Die Berliner Humboldt-Universität verwahrt sich gegen gefährliche „Falschbehauptungen“ weit „entfernt von jeder journalistischen Redlichkeit“. Harsche Kritik üben auch Mitglieder des Hanns-Jo­achim-Friedrichs-Vereins in einem gemeinsamen Appell. Darin prangern sie „eine fundamentale Verletzung journalistischer Standards an“ und werfen Bild einen „Missbrauch der Pressefreiheit“ vor. Wider besseres Wissen habe man die Forschenden „ins Fadenkreuz gerückt von möglicherweise gewalttätigen Angriffen“. Wie reagiert Bild auf diese Vorwürfe?

"Bild ist pro Impfen, pro Wissenschaft, pro Freiheit, gegen Hetze und Hass." Johannes Boie, Bild-Chefredakteur

Der journalist hat Springer und Bild mit der Kritik konfrontiert und den neuen Bild-Chefredakteur Johannes Boie um ein Interview gebeten. Der hat es vorgezogen, schriftlich auf Fragen zu antworten. Wie ist also die Reaktion des neuen Bild-Chefs auf die erhobenen Vorwürfe? Boie gibt an, die Kritik ernst zu nehmen. Gleichwohl sei Bild heute „pro Impfen, pro Wissenschaft, pro Freiheit, gegen Hetze und Hass“. Auf die konkrete Kritik von Wissenschaftler*innen und Kolleg*innen geht Boie nicht ein. Stattdessen verweist er auf eine geplante Gesprächsreihe. Für Ende Januar hat Bild gemeinsam mit Wissenschaftsorganisationen zu einem „öffentlichen Gespräch“ über Wissenschaft und Journalismus in der Pandemie eingeladen. Zugesagt haben auch Viola Priesemann und Michael Meyer-Hermann.

Auf die Frage nach konkreten Fehlern in der Corona-Berichterstattung und notwendigen redaktionsinternen Änderungen antwortet Boie: „Bild ist nicht wissenschaftsfeindlich, sondern mit Forschern im engen Austausch.“ Er verweist auf sein „herausragendes Team“ im Ressort Leben und Wissen. Natürlich passierten in der Corona-Berichterstattung Fehler, so Boie, doch der Kritik liege „leider auch und gelegentlich eine selektive Wahrnehmung zugrunde“. Manche Kritiker hätten „Bild oft gar nicht gelesen“. Der Hamburger Medienwissenschaftler Volker Lilienthal kennt dieses Argument und hält es für eine typische Bild-Reaktion auf Kritik von außen. Wer Kritikern vorwirft, Inhalte gar nicht zu kennen, muss sich mit der Kritik selbst gar nicht auseinandersetzen. Ein Umdenken oder auch nur Selbstzweifel scheinen die eindringlichen Appelle von außen bei Bild jedenfalls nicht zu bewirken.

"Ich würde von ideologischem Tendenz-Journalismus sprechen." Medienwissenschaftler Volker Lilienthal

Dabei sind die „Lockdown-Macher“ keine Ausnahme. Zuvor wurde schon der Virologe Christian Drosten von Bild für Schulschließungen verantwortlich gemacht. Wenn übrigens von Bild die Rede ist, dann meint das seit der Ära Reichelt nicht mehr nur die Zeitung, sondern auch bild.de und Bild TV. Wer Bild-Berichte aus den vergangenen Monaten zum Thema Corona auswertet, stellt zunächst fest, dass durchaus auch faktenbasiert berichtet wird, so über die weit verbreitete Sorge vor etwaigen Impfrisiken. Da stellt dann etwa ein Ratgeber-Stück fest, dass mRNA-Impfstoffe nicht wie vielfach behauptet dauerhaft in die menschliche DNA eingebaut werden. „Häufig berichtet Bild sogar auf der Basis von korrekten Fakten über Corona“, so der langjährige Zeit-Wissenschaftsredakteur Jan Schweitzer. „Als normaler Leser ist das allerdings nur schwer zu erkennen in dem Corona-Geschrei der Zeitung.“

Populistischer Sound nahe Querdenken

In der Pandemie hat Bild auf allen Kanälen eine Kampagne gegen die Corona-Politik der Regierenden gefahren. Und sich dabei dem populistischen Sound der Querdenken-Bewegung angenähert. Mit Schlagzeilen wie: „Kanzlerin, wir wollen Einigkeit und Recht und Freiheit“. Was insinuiert, dass die in der Nationalhymne besungenen Grundlagen des Gemeinwesens außer Kraft gesetzt seien. Pandemie-Maßnahmen wurden nicht einfach kritisiert, sondern als „Willkür“, „Corona-Irrsinn“ oder „Regel-Horror“ diskreditiert. Ex-Chef Reichelt behauptete auf Bild TV: „Wir haben Corona besiegt.“ Und: Die Politik wolle gar keinen Ausweg aus der Pandemie aufzeigen. Ein andermal raunte Bild-Meinungs-Chef Filipp Piatov, der Staat habe sich „Corona-Macht gesichert und will sie auch nicht abgeben“. Behauptungen nahe am Verschwörungsdenken.

Als die vierte Welle, vor der Wissenschaftler seit Monaten warnten, im Herbst längst Fahrt aufnahm, forderte Moderatorin Nena Schink bei Bild TV unverdrossen: „Hört auf mit der Panikmache.“ Dennoch weist der neue Bild-Chef Boie den Vorwurf des Kampagnen-Journalismus zurück. Vielmehr habe man seinerzeit gefragt, warum in Dänemark ein „Freedom Day“ möglich sei, in Deutschland aber nicht. Tatsache ist, dass hierzulande wenige Wochen nach der Bild-Kampagne gegen „Corona-Panikmache“ Patienten aus überlasteten Intensivstationen ausgeflogen werden mussten, weil sie mancherorts nicht mehr versorgt werden konnten.

„Die Konsequenz der Berichterstattung von Bild kann sein, dass ihre Leser dem Staat und Behörden wie dem RKI nicht mehr trauen“, sagt Zeit-Redakteur Jan Schweitzer. Das wiederum könne dazu führen, sich nicht impfen zu lassen, denn Studien zeigten, dass Vertrauen in den Staat ein entscheidender Faktor für eine hohe Impfquote ist. „Man kann und soll wissenschaftliche Ergebnisse immer kritisch hinterfragen“, so Schweitzer, „aber auf der Basis von Fakten – und so eine Berichterstattung sehe ich bei Bild häufig nicht.“ Starke Meinungen scheinen allzu oft wichtiger als sachliche Analyse. Während andere Medienhäuser eine eindeutige politische Positionierung zugunsten differenzierter Sichtweisen aufgaben, habe Julian Reichelt die Bild-Redaktion als eine Art außerparlamentarische Opposition aufgestellt, so Medienforscher Lilienthal. Die landläufige Kategorisierung von Bild als knalligem Boulevard hält er für untauglich: „Ich würde von ideologischem Tendenz-Journalismus sprechen.“

"Wir bieten Journalismus für alle." Johannes Boie

Der Hamburger Medien-Professor konnte vor gut einem Jahr auf Einladung des damaligen Chefredakteurs Reichelt tiefe Einblicke in den Alltag von Bild nehmen. Lilienthal nahm an Redaktionskonferenzen teil und führte ausführliche Interviews mit 43 Journalistinnen und Journalisten. Dabei gewann er exklusive Erkenntnisse über deren Selbstverständnis und die Fehlerkultur im Haus. Der Forscher hat Bild bei seinen Besuchen als hochprofessionelles Medium mit einer vorausschauenden Themenplanung erlebt. Überall sei er auf „freundliche, auskunftsbereite und kluge Kolleginnen und Kollegen getroffen“. Die Redaktion habe zudem geringe Zutrittsbarrieren und beschäftige sowohl ganz Junge, die ein Praktikum oder eine freie Mitarbeit als Sprungbrett nutzen konnten, als auch hochausgebildete Akademiker. Mit dem Klischee erkennbar unseriöser Boulevard-Schreiberlinge habe die Bild-Redaktion nichts zu tun.

In den Interviews und von ihm besuchten Konferenzen konnte Lilienthal feststellen, dass bei Bild „ein ganz starkes Chefredakteurs-Prinzip herrscht“. Ein geflügeltes Wort lautete: „Wenn Julian das so möchte, dann kriegt er es auch so.“ Demnach gibt der Bild-Chef in den Konferenzen eindeutig die Lesart der aktuellen Faktenlage vor. Zur internen Fehlerkultur bekam der Medienforscher zu hören: Ja, man könne dem Chefredakteur durchaus kritisch die Meinung sagen. Aber es bewirke nichts. Und wenn Bild, wie jetzt auch wieder, massiv von außen kritisiert wird, sei die Haltung im Haus klar: „Die Reihen fest geschlossen. Wenn wir von außen so angegriffen werden, dann müssen wir zusammenhalten. Man könnte es auch Bunker-Mentalität nennen.“ Bei Lilienthal entstand sogar der Eindruck: „Je stärker die Kritik, vor allem auch auf Social Media, desto weniger setzt man sich ernsthaft damit auseinander.“

Was nicht bedeutet, dass bei Bild alle mit Krawall, Skandalisierung und Sensation um jeden Preis einverstanden sind. Im Fall des gewaltsamen Todes von fünf Kindern in Solingen hatte bild.de Passagen aus einem Whatsapp-Chat des überlebenden 11-jährigen Bruders mit Freunden veröffentlicht. Karsten Krogmann, Sprecher des Opfervereins Weißer Ring, bewertet das Vorgehen von Bild in diesem Fall als „skrupellos, empathielos und rücksichtslos“. Bild habe die „Verstärkung eines Traumas“ sowie die „Traumatisierung und öffentliche Beschädigung eines weiteren Kindes in Kauf genommen“. Der Deutsche Presserat sprach in diesem Fall neben anderen auch zwei Rügen gegen bild.de aus. Das Gremium stellte eine Verletzung der Menschenwürde fest. Springer-Chef Döpfner hat die Kritik inzwischen als berechtigt anerkannt und Besserung gelobt.

Immer wieder hätten Bild-Leute in den von ihm geführten Interviews eine Distanz zur Chefredaktion erkennen lassen, berichtet Volker Lilienthal. Zum Fall Solingen sei jedoch „das stärkste Befremden geäußert worden. Da hieß es: Ich habe mich für meine Zeitung geschämt.“ Der neue Bild-Chef Johannes Boie erklärt, mittlerweile Abläufe für die Berichterstattung über Verbrechen, bei denen Kinder Opfer sind, neu geregelt zu haben. Insbesondere, was Fotos und Abbildungen betreffe. Zudem sei ein Sechs-Augen-Prinzip eingeführt worden.

Umgang mit Opferschutz und Privatsphäre

Doch es geht nicht um Einzelfälle und Ausrutscher – und auch nicht nur um Kinder. Es geht um das System. Der Weiße Ring kritisiert seit langem den Umgang von Bild mit Opferschutz und Privatsphäre. Die traditionell schmutzige Seite des Boulevard-Journalismus also. „Bild veröffentlicht unerlaubt und unverpixelt Opferfotos, breitet öffentlich persönliche Details aus dem Leben von Tatopfern aus, zeigt Fotos und nennt Tatumstände, die die Opfer retraumatisieren und andere Kriminalitätsopfer triggern können“, sagt Weißer-Ring-Sprecher Krogmann. Er verweist auf den Fall der Influencerin Kasia Lenhardt. Auch hier sei aus privaten Nachrichten zitiert worden. Zudem habe die Redaktion dem prominenten Ex-Freund die Möglichkeit gegeben, in einem Interview einseitig Vorwürfe gegen die junge Frau zu erheben: „Kasia Lenhardt war anschließend Unmengen von Hassnachrichten ausgesetzt, wenig später nahm sie sich das Leben.“

Die Buchautoren Mats Schönauer und Moritz Tschermak (Ohne Rücksicht auf Verluste – Wie Bild mit Angst und Hass die Gesellschaft spaltet) haben den Fall des verstorbenen Schwiegervaters von Günther Jauch dokumentiert. Gegen den ausdrücklichen Willen der Familie hatte Bild ausführlich berichtet: „Todes-Drama bei Familie Jauch“. Immer wieder geht es um die Verletzung der Privatsphäre. Seit Jahren kassiert Bild mit Abstand die meisten Rügen vom Presserat – und macht danach trotzdem weiter wie immer. Medienforscher Lilienthal erklärt das mit einer speziellen „Bild-Kultur“, in der man sich die Freiheit herausnehme, den Pressekodex mitunter zu ignorieren und „Grenzen zu überschreiten“. Auch, weil dazu von der jeweiligen Chefredaktion ermutigt werde.

"Es gibt bei Bild eine starke Redaktionskultur, die durch die Tradition des Hauses und mit einer vom Personal internalisierten Blattlinie definiert wird." Volker Lilienthal

Eine lange, unheilvolle Tradition hat bei Bild die stigmatisierende Darstellung von Menschen und Menschengruppen – bis hin zum rassistischen Ressentiment. In der Finanzkrise ätzte Bild gegen „Pleite-Griechen“ und „Griechen-Raffkes“ und behauptete: „So verbrennen die Griechen die schönen Euros.“ Das Narrativ: Hier die fleißigen Deutschen mit ihrem schwer verdienten Geld. Da die faulen und gierigen Griechen, die vernichten, was ihnen gar nicht zusteht. Ein Bild-Klassiker, der negative Emotionen wie Wut und Angst schürt, sind zudem Schlagzeilen über „kriminelle Ausländer“, über die dann angeblich in „Klartext“ eine exklusive „Wahrheit“ mitgeteilt wird.

Nachdem sich Bild unter Ex-Chef Kai Diekmann kurzzeitig als Teil einer Willkommenskultur für Geflüchtete verortet hatte, kehrte die Redaktion danach trotz einer massiven Welle rechter Gewalt gegen Geflüchtete zu alter Schärfe gegenüber Minderheiten zurück. Mit Schlagzeilen wie „Burka-Frau verprügelt Dessous-Verkäuferin“ oder „Nur eins von 103 Kindern spricht zu Hause deutsch“. Eine Schul-Rektorin aus Neukölln wurde in dem Artikel mit den Worten zitiert: „Wir sind arabisiert.“ Das ist keine sachliche Kritik an interkulturellen Problemen des Zusammenlebens. Vielmehr werden hier Narrative verbreitet, die kulturalistischen Rassismus befördern. Wobei die Schmähung einer Gewalttäterin als „Burka-Frau“ nicht vom AfD-Vokabular einer Alice Weidel zu unterscheiden ist, die junge Musliminnen im Bundestag als „Kopftuchmädchen“ diffamierte.

Stigmatisierende Sprache und Schlagzeilen

Konfliktforschende und Opferberatungsstellen werden nicht müde, auf den Zusammenhang von radikalen Worten und hasserfüllten Taten hinzuweisen. Im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise explodierte die Gewalt gegen Flüchtlinge und deren Unterkünfte. Diesen Hochkonjunkturen rechter Gewalt geht regelmäßig rassistische Mobilisierung und Emotionalisierung durch menschenverachtende Ideologie und Sprache voraus. Das war im Zuge von Pegida so, in der Anti-Asyl-Bewegung (Gruppe Freital) oder auch bei den rechtsextremen Ausschreitungen in Chemnitz im Jahr 2018. Trotz der gesellschaftlichen Radikalisierung bis hin zum Rechtsterror hat Bild seine stigmatisierende Berichterstattung, die Migrant*innen wahlweise als fremd, ungebildet oder kriminell framed, fortgesetzt. „So viele Flüchtlinge haben keinen Schulabschluss“, titelte Bild im August 2017 und bezifferte den Anteil auf 59 Prozent. Stimmt so nicht, zeigten Faktenchecker vom Bayerischen Rundfunk. Bei den 59 Prozent seien jene Geflüchteten, die bereits eine Arbeit oder Ausbildung gefunden hatten, gar nicht berücksichtigt.

Fragen an den neuen Chefredakteur: Kann Bild einfach weitermachen wie bisher? Oder müssen angesichts einer gesellschaftlichen Radikalisierung die Folgen eigener Berichterstattung stärker als bisher bedacht werden? Johannes Boie bekennt sich angesichts der enormen Reichweite durchaus zu einer großen journalistischen und gesellschaftlichen Verantwortung, beharrt aber darauf, Themen anzusprechen, „die Menschen wirklich bewegen“. Man wolle weiter den Finger in die Wunde legen und Missstände klar benennen. Klingt nach: Weiter so. Allenfalls beim Themenmix stellt er moderate Änderungen in Aussicht. Bild solle, wo es denn geht, „freundlicher und lustiger“ werden.

"Bild wird immer Boulevard bleiben." Johannes Boie

Die Buch-Autoren Schönauer und Tschermak befinden, Bild sei zuletzt „noch brutaler, menschenverachtender und populistischer“ geworden. Muss sich also auch grundlegend etwas ändern? „Wir bieten Journalismus für alle“, so Boie. „Bild trägt substanziell zur politischen Willensbildung und damit zur Demokratie in Deutschland bei.“ Sieht der neue starke Mann denn konkret Korrekturbedarf, was stigmatisierende Sprache und Schlagzeilen angeht? Boie: „Bei uns arbeiten Menschen aus verschiedensten Nationen, darunter sind mehrere, die in den vergangenen Jahren nach Deutschland geflüchtet sind. Wir haben ein eigenes LGBT-Team.“ Mehrere Reporterteams hätten zuletzt über das Leid der Migranten an der Grenze von Belarus zu Polen berichtet.

Trotzdem produziert Bild weiterhin Schlagzeilen wie „Tausende drängen Richtung Deutschland“. Dazu das Foto einer diffusen Menschenmenge hinter einem Zaun. Als hätte es die unheilvolle Erfahrung nie gegeben, was passiert, wenn medial und politisch die Gefahr von „vollen Booten“ wie in den 1990er Jahren oder von „Flüchtlingswellen“ (2015/16) heraufbeschworen wird. Woraufhin Asylbewerberheime brannten und Sprengsätze explodierten. Sozialforscher*innen warnen eindringlich davor, Menschen durch entsprechendes Framing ihrer Individualität zu berauben und sie wie apokalyptische Naturkatastrophen erscheinen zu lassen. Weil das massive Ängste schürt, aus denen beinahe zwangsläufig Gewalt erwächst. Weder divers zusammengesetzte Redaktionsteams noch wissenschaftliche Erkenntnisse halten Bild davon ab, hilflose Menschen bisweilen zu einer Bedrohung zu stilisieren.

Was nicht bedeutet, dass Bild durchweg nur den journalistischen bad guy gibt. Vielmehr kultiviert die Marke bei heiklen Themen eine ganz eigene Art von Widersprüchlichkeit. Da werden über Monate hinweg politische Maßnahmen gegen die Pandemie delegitimiert und Persönlichkeiten wie RKI-Chef Lothar Wieler oder Karl Lauterbach als „Corona-Panik-Chor“ an den Pranger gestellt. Übergangslos prangert Bild aber auch an, auf die vierte Welle schon wieder nicht vorbereitet zu sein. In Inhalt und Ton hat sich Bild dem Querdenker-Milieu angenähert, aber die Bewegung selbst verurteilt und eigene Impfaktionen gestartet. Der neue Chefredakteur betont, dass „Opfer des Querdenken-Hasses übrigens gerne mit uns sprechen“.

Die Kampagne gegen eine behauptete Corona-Willkür ist typischer Populismus gegen „die da oben“. Angesichts einer zunehmenden Eskalation auf den Straßen ruft die Redaktion dann aber eine Aktion gegen gesellschaftliche Spaltung ins Leben: „Das Land zusammenhalten“. Zur Methode von Bild gehört es, jene Fehlentwicklungen anzuprangern, an denen die Redaktion ihren Anteil hat.

"Häufig berichtet Bild sogar auf der Basis von korrekten Fakten über Corona. Als normaler Leser ist das allerdings nur schwer zu erkennen in dem Corona-Geschrei der Zeitung." Jan Schweitzer, Zeit-Wissenschaftsredakteur

Die Digitalisierung wirkt auf die bildtypischen Zutaten der Zuspitzung, Emotionalisierung, Kommentierung und Skandalisierung noch einmal wie ein Verstärker. Zum einen steigt der Druck, noch krassere Inhalte zu produzieren, um Leseanreize für das kostenpflichtige Bild+ zu schaffen („Freund telefonierte mit dem Sohn, der überlebte“). Zumal in Zeiten eines Stellenabbaus. Darüber hinaus wird auf Bild TV nunmehr ungefiltert in Echtzeit drauflos kommentiert. Anfangs habe ihn Bild TV an „Garagen-Fernsehen“ erinnert, sagt Medienforscher Lilienthal. Mittlerweile werde das Medium maßgeblich durch Studiogespräche geprägt: „Die geladenen externen Gäste werden offenbar als opportune Zeugen gecastet.“ Entscheidend sei, ob sie zu der gewünschten Tendenz passen. „Durch die schnelle, ungefilterte Live-Kommentierung kommen viele Thesen in die Welt, die man bei genauerem Hinsehen kaum noch als restrational bezeichnen kann“, urteilt Lilienthal. Einige betrieben auf Bild TV „regelrechten Krawall-Journalismus“.

Wie also geht es weiter mit Bild? Wenn Johannes Boie geplante Veränderungen anspricht, klingt das allenfalls nach Feinjustierung, nicht nach Kurskorrektur. So geht auch Medienforscher Lilienthal davon aus, dass der neue Chefredakteur allenfalls auf einige Reichelt-typische Schärfen verzichten wird: „Ich glaube, dass Bild sich gleich bleiben wird. Es gibt bei Bild eine starke Redaktionskultur, die maßgeblich durch die Tradition des Hauses und mit einer vom Personal internalisierten Blattlinie definiert wird.“ Dazu gehöre eben auch zu provozieren und zu skandalisieren. Eines sei klar, kündigt denn auch Johannes Boie an: „Bild wird immer Boulevard bleiben.“

Dank Größe und Machtfülle

Dass Bild schon so lange mit seinen Grenzverletzungen durchkommt, ohne gesellschaftlich dafür geächtet zu werden, liegt an der Größe und Machtfülle. Stolz verweist Chefredakteur Boie darauf, pro Monat crossmedial 40 Millionen Menschen im Land zu erreichen. (Die verkaufte Auflage liegt bei etwa 1,2 Millionen.) Eines der ersten großen Interviews als neugewählter Bundeskanzler gab Olaf Scholz der Bild am Sonntag. Und weder der spätere neue Kanzler noch das grüne Spitzenduo Annalena Baerbock und Robert Habeck mochten darauf verzichten, die große Springer-Spendengala „Ein Herz für Kinder“ mit ihrem Erscheinen aufzuwerten. Das Trio habe sich in Bild einwickeln lassen, befand Willi Winkler süffisant in der SZ. Viel scheint sich nicht im Verhältnis der großen Politik zu den Springer-Medien geändert zu haben, seit Gerhard Schröder als Kanzler „Bild, BamS und Glotze“ zur kernigen Formel für erfolgreiches Regieren erklärte. Der prominente Zuspruch trotz eklatanter Normverletzungen erhöht jedenfalls nicht gerade den Druck auf die Redaktion, journalistische Regeln einzuhalten.

Angesichts der breiten, fundierten Kritik an Bild hat der journalist auch Springer-Chef Mathias Döpfner um eine Stellungnahme gebeten. Wie kann es sein, dass Bild seit Jahren die meisten Rügen durch den Deutschen Presserat kassiert, und was folgt eigentlich daraus? Wie erklärt Döpfner, dass er bei der Veröffentlichung seiner eigenen Privatnachricht in der Causa Reichelt eine Grenzüberschreitung beklagt, Tabubrüche im eigenen Haus aber hinnimmt? Braucht Springers Boulevardmarke eine inhaltliche und redaktionelle Kurskorrektur? Und welche Verantwortung trägt Bild dafür, nicht zur gesellschaftlichen Radikalisierung beizutragen? Döpfners Wort hat Gewicht. Er hat eine doppelte Vorbildfunktion, weil er eben nicht nur der Kopf des Springer-Verlags, sondern auch der journalistischen Medienhäuser im Land ist. Döpfner lässt über einen Sprecher mitteilen, dass er es vorzieht, die journalist-Anfrage nicht zu beantworten. Das sagt dann auch einiges.

Michael Kraske lebt als Journalist und Buchautor (aktuell: Tatworte) in Leipzig.

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