Verkaufen Redaktionen ihre Seele?
Stephan Weichert: "Erarbeitet Richtlinien für den Umgang mit KI, werdet resilienter!" (Foto: Bertram Solcher)
Medienmacher*innen glaubten immer noch an Künstliche Intelligenz, schreibt Medienwissenschaftler Stephan Weichert in unserer Serie "Mein Blick auf den Journalismus". Dabei sei längst klar, dass KI den Journalismus gefährde. Text: Stephan Weichert
26.06.2024
Das smarte Lächeln, die Hand- und Mundbewegungen, selbst die gekünstelten Schwätzchen zwischendurch wirken so gruselig-echt, dass die Illusion perfekt ist. Beim US-Start-up Channel 1 präsentieren Avatare die Nachrichten charmant und kompetent wie echte News-Anchors. Eine einzige KI-Show.
Das klingt nach Science-Fiction-Dystopie, doch so schlimm ist es nicht. Die gesamte Redaktion von Channel 1 besteht noch aus echten Menschen, die journalistische Qualität garantieren sollen. Und dass nicht nur die Nachrichten, sondern auch die Geschichten, Recherchen und Schlagzeilen der Sendung von Künstlicher Intelligenz gemacht sind, darüber informieren die virtuellen Sprecher immerhin. Der Rest ist, nun ja, ein bisschen „Truman Show“, ein bisschen „West World“. Deshalb bleiben Zweifel, wenn man sich die formvollendete Liaison zwischen Technologie und Journalismus ansieht. Ist das alles noch vertretbar oder nicht schlicht pervers?
Siegt die Künstlichkeit über die Authentizität?
In der französischen Malerei spricht man von Trompe-l’œil, wenn durch eine perspektivische Darstellung Dreidimensionalität vorgetäuscht wird und damit Scheinarchitekturen geschaffen werden. Ähnlich verhält es sich mit der illusionistischen Macht der KI in den Medien: Sie erweckt eine surreale Phantasielandschaft zum Leben, in der mehrere Varianten von Wahrheit gelten, in der vermeintliche Diskursräume kreiert und eine Scheinkommunikation kultiviert werden, der sich Journalisten unterzuordnen haben.
Seit rund 2000 Jahren arbeitet sich der Journalismus an Gerüchten und Unwahrheiten ab, er kämpft gegen fingierte Informationen: Fakten nicht schaffen, sondern recherchieren; Realität nicht verfälschen, sondern so objektiv wie möglich abbilden; Ereignisse nicht erfinden, sondern tatsachenbasiert erzählen. Durch den KI-erzeugten Augentäuscheffekt siegt die Künstlichkeit über die Authentizität, weil beides plötzlich austauschbar erscheint: Ist der Sprecher noch ein Mensch oder nicht? Sind die Teaser von einer KI geschrieben? Und was ist mit den News selbst?
Bei der KI-Revolution kommt vieles zusammen: Einerseits die Chancen einer Technologie, die Journalisten lästige Arbeiten abnimmt. Das ständige Social-Media-Geposte, das Exzerpieren von Artikeln, das Transkribieren von Interviews oder das Auswerten voluminöser Datenmengen. Andererseits gibt es versteckte Risiken, bei denen heute nicht abzusehen ist, was sie morgen für den Journalismus bedeuten. Verkaufen Redaktionen ihre Seele an KI? Machen sie sich von den Launen der Big Tech-Industrie abhängig?
Zurück zum Journalismus
Es tritt noch eine dritte Ebene zutage, die sich wenige in der Branche laut auszusprechen wagen: Die wachsende Irrelevanz des Journalismus. Was, wenn es den Nutzern irgendwann total egal ist, ob das, was sie sehen, hören, lesen, überhaupt echt ist? Nicht nur Team-Trump und AfD-Liga wirken mit ihren Täuschungsmanövern auf das öffentliche Nervensystem, sie kommen jetzt auch als „friendly fire“ aus dem Newsrooms wie dem von Channel 1. Kein Wunder, wenn „die Seele des Journalisten“ aufgekratzt ist, um es mit den Worten des Chronisten August Heinrich Kober von vor 100 Jahren zu sagen.
Der aktuelle Umbruch sei „genauso tiefgreifend, wenn nicht noch tiefgreifender, wie der Wechsel von Print zu digital“, sagte Jim VandeHei, Digitalpionier und Gründer von Politico und Axios, kürzlich der New York Times. In einer mit KI beschichteten Medienwelt würden in den kommenden fünf bis zehn Jahren nur Akteure im Journalismus überleben, die intelligente, vernünftige Inhalte anbieten, so VandeHei: „Und das sollten besser wir sein!“
Der US-Journalist will der Medienlandschaft nun ein Gegengift injizieren: Sein digitales Nachrichtenportal Axios werde jetzt kräftig investieren, verriet er der Times – allerdings nicht in KI-Technologie, sondern in handgemachten Journalismus und zwischenmenschliche Begegnungen: journalistische Live-Events, exklusive Newsletter, Mitgliederprogramme, persönliche Kontakte zur Redaktion.
„Trotzdem bleiben Zweifel, wenn man sich die formvollendete Liaison zwischen Technologie und Journalismus ansieht. Ist das alles noch vertretbar oder nicht schlicht pervers?“
Solche klaren Bekenntnisse „zurück zum Journalismus“ (Siegfried Weischenberg) sind in der KI-Debatte eher selten zu vernehmen. Und wenn sich einer vom Kaliber VandeHeis äußert, hat das in der Branche Gewicht. Nicht nur, weil die journalistische Glaubwürdigkeit angezählt ist und seine Relevanz für die öffentliche Meinungsbildung schwindet. Sondern, weil seine Geschäftsgrundlage zu implodieren droht. Wenn wir davon ausgehen, dass Channel 1 und all die anderen KI-News-Start-ups, die gerade entstehen, das Ökosystem der Nachrichtenverbreitung empfindlich rekartografieren und das Nutzungserlebnis weltweit revolutionieren – ja, was dann eigentlich… ?
Während in den USA Leute wie VandeHei darüber nachdenken, wie Redaktionen dem Aufstieg von KI begegnen sollen, tut sich die Mehrheit der deutschen Medienmacher schwer: Noch immer fahnden sie in putzigen Stellenanzeigen nach „AI Prompt Craftern“ und „KI-Flüsterern“. Euphorisiert beginnen thematisch einschlägige Artikel mit dem obligatorischen KI-Selbstversuch („Den ersten Absatz/das Aufmacherbild dieses Textes hat ChatGPT geschrieben/Midjourney erstellt.“), dessen man längst überdrüssig ist.
Am liebsten würde man sich per Zeitmaschine einige Monate in die Zukunft beamen, um zu erfahren, wie ungelenk manche Medien-Orakelei war. Einige erinnern sich vielleicht an die Imagekampagne „Am I AI-ready?“ aus dem Herbst 2023, mit der Thomas Rabe die Weltbevölkerung von KI überzeugen wollte. Der Bertelsmann-Boss schickte sich in unzähligen TV-Spots bei RTL, Vox und NTV an, zu betonen: „KI birgt enormes Potenzial für Innovationen, Effizienzsteigerung und Produktverbesserungen in allen Geschäften.“ Man darf Rabe keine vorschnellen Schlüsse vorwerfen. Allerdings zeugt derlei Werbegeschwafel, zumal aus dem Munde eines der mächtigsten Medienmogule der westlichen Hemisphäre, weder von Weisheit noch von Weitsicht. Über den Stellenabbau in den wenigen von Bertelsmann geführten Medienhäusern und deren Redaktionen verlor Rabe in den launigen Spots jedenfalls kein Wort.
In einem Punkt behielt der KI-Euphoriker jedoch recht: Die Geschwindigkeit, mit der KI-Innovationen unsere Öffentlichkeit durcheinanderwirbeln, ist schwindelerregend. Wir erleben im Raketentempo eine Evolutionsstufe nach der anderen. Nicht nur die händeringend gesuchten Prompter werden gerade wieder arbeitslos, weil auch das Prompten inzwischen die KI übernimmt. Einige KIs sind inzwischen so ausgereift, dass Journalisten Angst bekommen. Selbst Sam Altman, der reinstallierte CEO des Technologieunternehmens OpenAI (ChatGPT), warnte vor kurzem davor, dass KI „für Desinformation im großen Stil eingesetzt werden könnte“.
Ab ins Tal der Enttäuschungen
Richtig ist: Immer weniger Menschen stellen in sogenannten „Troll-Fabriken“ Desinformationen her. Vielmehr tut dies KI vollautomatisiert im großen Stil, sie spielt sie über die sozialen Medien wie TikTok und X aus. Im aktuellen US-Wahlkampf gilt umso mehr der Schlachtruf des ehemaligen Trump-Beraters Steve Bannon: „Flood the zone with shit“. Nur diesmal KI-gestützt: Dem Vernehmen nach hat Trump schon vor Monaten Washingtoner Thinktanks beauftragt, sich mit den Manipulationsmöglichkeiten mittels KI-Content-Farming zu befassen.
Wenig charmant ist auch die Vorstellung, dass das Heer der Creator und Influencer, die sich selten was aus Fakten machen, in der öffentlichen Meinungsbildung auf dem Vormarsch sind und die Journalismusprofis verdrängen. Und zu allem Überfluss können nun auch Laien dank KI per Mausklick täuschend echte Videos und Bilder erzeugen, um Stimmung zu machen. Wir erleben – nach Social Media – eine zweite Welle unkontrollierbarer Regellosigkeiten.
Anstatt Effizienz zu steigern, nimmt die Arbeitsverdichtung von Journalisten zu, weil sie sich mit neu implementierten KI-System befassen müssen. Fallen wir von der Euphoriewelle nun ins Tal der Enttäuschungen? Oder wird sich KI als redaktioneller Innovations- und Effizienztreiber durchsetzen? Beides stimmt. Einerseits agiert man in vielen Medienhäusern nicht mehr so naiv wie zu Beginn des KI-Hypes. Andererseits besinnt man sich wieder auf professionelle Tugenden und stellt richtige Fragen: Werden Redaktionsstellen durch KI abgebaut (vermutlich), wird KI zu Verzerrungen in Medieninhalten führen (wahrscheinlich), werden neue Geschäftsideen gebraucht (sicherlich).
„Ist der Sprecher noch ein Mensch oder nicht? Sind die Teaser von einer KI geschrieben? Und was ist mit den News selbst?“
Der KI-Komplex erfordert eine dringende Kurskorrektur, viele deutsche Redaktionen gehen sie an. Sie arbeiten an KI-Richtlinien und setzen dadurch erste Leitplanken. Kölner Stadt-Anzeiger, taz, NDR, SWR und andere haben ihre KI-internen Richtlinien veröffentlicht: Es geht darin um Transparenz, um durch Menschen abgenommene Inhalte („human-in-the-loop“), um Datenschutz und Urheberrecht. Was derzeit fehlt, sind Erfahrungswerte solcher Guidelines, weil sie bislang kaum angewendet wurden.
Der Spiegel geht sogar noch einen Schritt weiter: Ähnlich wie die New York Times, Washington Post und Financial Times leistet er sich nach angelsächsischem Vorbild mit Ole Reißmann einen „Leiter Künstliche Intelligenz“. Er soll KI-Kenntnisse in den Redaktionen bündeln und ressortübergreifende Innovationsprojekte anstoßen.
Damit es dem Journalismus nicht an den Kragen geht, müssen Medienhäuser solche Schnittstellenressorts aufbauen und eine „KI-Resilienz“ entwickeln. KI wird im ersten Schritt niederschwellige journalistische Tätigkeiten kompensieren. Aber wir wissen längst, dass sie auch Kompetenzen von menschlichen Redakteuren ersetzen wird: Recherche, Kreativität und Kommunikation.
KI-Resilienz wird deshalb eine Schlüsselkompetenz werden. Journalisten brauchen sie, um den Ausgleich hinzukriegen: zwischen machtvollen KI-Systemen in ihren Redaktionen und den Ansprüchen einer unabhängigen, demokratisch legitimierten Medienöffentlichkeit.
Stephan Weichert steht dem Vocer Institut für Digitale Resilienz vor. „KI-Resilienz“ gehört zu seinen aktuellen Beratungs- und Forschungsschwerpunkten. Zuletzt hat er gemeinsam mit Matthias Daniel das Buch „Resilienter Journalismus“ (Halem Verlag, Köln: 2022) herausgegeben.