Unter Zockern

Journalismus und Twitch – wie passt das zusammen?

Der Livestreaming-Dienst Twitch ist die größte internationale Gaming-Community. Medien experimentieren dort mit neuen politischen Formaten. Lohnt sich das?

Text: Sonja Peteranderl

07.04.2025

Kai Cenat isst und schläft vor der Kamera, er lädt Rapper und Promis in eine Luxus-Villa in Los Angeles ein, zwischendurch stürmen Polizisten mit gezückten Gewehren das Haus, weil der Streamer geswattet wurde, heißt: Jemand hat ihm mit einem Fake-Notruf die Polizei auf den Hals gehetzt. All das wird Ende 2024 live auf der Streaming-Plattform Twitch übertragen, 24/7, einen ganzen Monat lang, Cenat nennt sein Event „Mafiathon“.

Cenat ist international einer der erfolgreichsten Streamer auf Twitch, rund 17 Millionen Fans folgen ihm – durch seine Events gewinnt er neue „subs“, also Abos dazu, verdient ein paar Hunderttausend Dollar pro „Mafiathon”. Lange, meist Stunden dauernde Video-Livestreams, oft mit viel Austausch zwischen Streamenden und Zuschauern über den Chat, sind typisch für die Plattform. Twitch.tv wurde 2011 gegründet, 2014 übernahm Amazon die beliebte Streaming- und Gaming-Plattform. Dem Online-Video-Monitor 2023 zufolge sind rund 80 Prozent aller Streamenden auf Twitch Männer, aber unter den Neugründungen sind viele Frauen. Twitch bietet immer noch vielen Gamern eine Bühne, die dort oft stundenlang zocken. Doch langsam wird die Plattform auch inhaltlich vielseitiger – mit Unterhaltungsformaten, Sportstreams, Musikformaten bis hin zu Bastelanleitungen oder Politik. Robert Habeck war als Kanzlerkandidat bei Maximilian Knabe alias HandofBlood im Livestream zu Gast, der mit rund1,3 Millionen Followern einer der erfolgreichsten deutschen Streamer ist.

Auch Medien experimentieren mit Twitch. Wie sehen journalistische Formate aus, die in diesem Kosmos funktionieren – und lohnt sich das?

Die Washington Post startete als einer der journalistischen Twitch-Pioniere schon im Jahr 2018 einen Kanal, mit den Politikformaten „Live with Libby Casey“ und „Playing Games with Politicians“ – bei letzterem Format spielte ein Redakteur mit Politiker*innen live Videospiele, dabei diskutierten sie über Politik.

In Deutschland bespielen verschiedene Landesrundfunkanstalten gemeinsam den ARD-Twitch-Kanal mit verschiedenen Talkformaten, einem Musik-Quiz und Comedy. Der Kanal hat fast 83.000 Follower. Im Vorfeld der Bundestagswahl 2025 diskutierten Politiker*innen bei dem Format „Politik & wir – Der Community Talk ” vom rbb etwa Fragen von Twitch-Nutzern zu Wirtschaft, Migration und Sozialem. Auch die Twitch-Version der tagesschau, „tagesschau together“, streamte zu den Wahlen.

„tagesschau together” wurde im Oktober und November 2024 zum ersten Mal auf Twitch getestet. Die interaktiven Live-Nachrichten sollen Twitch-Nutzer zwischen 18 und 28 ansprechen.

Bei „tagesschau together“ streamen Hanin Kleemann und Felix Edeha rund zwei Stunden, sie setzen jeweils mehrere Themenschwerpunkte wie deutsche Politik, Nahostkonflikt oder US-Wahlen, spielen auch kurze Videos ein, auf die sie reagieren. „Wir haben versucht, nicht nur aktuelle Themen auszusuchen, sondern auch Themen, von denen wir wissen, dass viele Menschen noch nicht genug in den Austausch dazu gekommen sind“, sagt Kleemann. Sie senden aus einem speziellen, beim NDR in Hamburg eingerichteten Streaming-Studio mit eigenen Bildschirmen für jeden Host und Streaming-Mikrofonen.Mit dem Streamdeck kann das Duo Bildschirme und Bilder steuern. Im Hintergrund laufen bunte, virtuelle Menschen um einen Erdball – Avatare für die Personen aus dem Chat.

„Es braucht eine gute Mischung: nicht zu albern, nicht zu seriös“

Über den Chat können Nutzer sich an Umfragen beteiligen, Fragen stellen oder Themenvorschläge einbringen. Die beiden Hosts gehen darauf ein. „Auf Twitch setzen wir gezielt auf mehr Interaktivität, auf Dialog“, sagt Edeha. Ein Community-Team unterstützt sie beim Filtern des Chats, denn der „rauscht manchmal sehr schnell an einem vorbei“.

Expert*innen aus dem Netzwerk der ARD werden zugeschaltet. Washington-Korrespondentin Kerstin Klein erklärt etwa, was Donald Trumps Präsidentschaft für Europa bedeuten könnte. Klein wird von den beiden Moderator*innen geduzt, sie beantwortet auch Fragen direkt aus dem Chat. Die kommen von Twitch-Nutzern, die sich zum Beispiel „fingerhutgiftig“ nennen. Zwischendurch diskutiert der Chat auch abwegige Fragen – etwa, wie teuer der Campingstuhl ist, auf dem eine zugeschaltete Korrespondentin sitzt.

Vor „tagesschau together“ hat Edeha auf Twitch privat Schach-Streams geschaut, Kleemann treibt sich seit längerem in der englischsprachigen Twitch- Community herum. Selbst gestreamt hatten beide bisher noch nicht. Das Sendekonzept zu entwickeln, dauerte fast ein Jahr. Bei Trockenübungen ließen sich Edeha und Kleemann von Kolleg*innen, die den Chat simulierten, fiese Fragen stellen. Sie versuchten einen Ton zu finden, der zu Twitch passt: „Es braucht eine gute Mischung: nicht zu albern, nicht zu seriös“, sagt Edeha. „Authentizität ist für mich der Erfolgsgarant auf Twitch – egal ob es um News geht oder um anderen Content.“

„tagesschau together“ konnte einen bestehenden ARD-Kanal als Startrampe nutzen, der damals schon rund 45.000 Follower hatte. Den 50.000-Meilenstein erreichte das neue Format dann schnell. Videos und Ausschnitte aus „tagesschau together“ werden auch auf Youtube oder Instagram veröffentlicht.

Derzeit evaluiert das Team die Erfahrungen. „Durch das Feedback, das wir bekommen haben, haben wir festgestellt, dass einige Menschen nur durch unsere Streams auf die tagesschau aufmerksam geworden sind“, sagt Edeha. „Wir konnten auf Twitch also wirklich eine neue Zielgruppe erreichen und die Reichweite der ARD vergrößern, so dass wir aufgrund des großen Zuspruchs über eine Fortführung des Formats nachdenken.“ Hanin Kleemann glaubt: „Es gibt eigentlich nichts besseres, als auf Twitch die Fühler auszustrecken: Da passiert gerade so viel, das ist so dynamisch, und der Nachrichtenmarkt im deutschsprachigen Raum ist noch gar nicht so tief ergründet worden.“

„Twitch ist die wohl wichtigste Livestreaming-Plattform der Welt“

Auch Moderator und Formatentwickler Florian Prokop findet Twitch spannend. Mit Formaten auf Instagram und Co sei es der ARD gelungen, junge Frauen zu erreichen. Bei jungen Männern besteht dagegen noch viel Potenzial. Für Twitch müssten traditionelle Medienmacher jedoch umdenken: „Normalerweise will man eine Sendung abliefern, die ruckelfrei ist und in der alles glatt ineinander überläuft“, sagt Prokop. „Das geht auf Twitch nicht, das braucht es aber auch nicht.“ Es dürfe „menschlich“ sein und „die ganze Dramaturgie springt durch die Fragen im Chat immer wieder hin und her.“

Prokop moderierte erst das Twitch-Format „ARTE FAQ“, mittlerweile ist er einer der drei Moderator*innen von „Politik & wir“, das Prokop auch mitentwickelt hat. „Das Format richtet sich an Leute, die Talkshows nicht mehr im Fernsehen konsumieren und die von der klassischen Talkshow abgetörnt sind“, sagt der Moderator. Sie seien Ende 20 bis Mitte 30, eher männlich.

Bei „Politik & wir“ geht es mal um hohe Mieten oder Lebensmittelpreise, mal um Waffenlieferungen an die Ukraine oder Erben. Dazu werden Betroffene, Expert*innen sowie Politiker*innen eingeladen, die im Bundestag sitzen und tatsächlich etwas bewegen können. Über den Chat kann die Twitch-Community mit ihnen diskutieren. „Dieser Rückkanal ist in keiner klassischen Talkshow so intensiv“, sagt Prokop.

Etwas ungewohnt sei es für ihn anfangs gewesen, dass der Chat wie eine Person behandelt wird, als würde jemand mit am Tisch sitzen. „Chat, sag doch mal…“. Ein fünfköpfiges Moderationsteam unterstützt ihn dabei, den Überblick zu behalten. Prokop zufolge schalten sich immer wieder Personen mit Fachwissen ein. Etwa ein Nutzer, der in einer Behörde gearbeitet hat und die anwesenden Politiker bei einer E-Fuels-Diskussion herausforderte. „Es war schon sehr nerdy, aber auch ein Gewinn für den Stream, denn so tief hätte ich mich gar nicht einarbeiten können“, sagt Prokop. „Da ist Magie passiert.“ Die Twitch-Talkshow soll kritisch, aber konstruktiv und respektvoll sein – nicht „alles nur kontra“. Prokops Fazit: „Es gibt zwar ein paar Trolle, die nur kommen, um Rundfunkgebühren zu kritisieren, aber es gibt immer Leute, die sich freuen, dass die ARD auf Twitch ist.“ Die Twitch-Community reagiere „kritisch, aber wohlwollend“ auf das Format.

Feedback, das sich lohnt

Das beste Schaufenster für Streams ist die Startseite von Twitch.tv, deren Inhalte das Twitch-Team bestimmt: „Wenn wir da sind, sind die Views super“, weiß Prokop. „Politik & wir“ experimentiert auch damit, Ausschnitte aus der Sendung auf Youtube zu stellen, auch exklusive Agenturmeldungen mit Aussagen von Politikern könnten künftig auf das Format aufmerksam machen.

„tagesschau together“-Moderatorin Hanin Kleemann glaubt, dass sich Experimente auf Twitch für viele Journalist*innen lohnen könnten. Man bekomme ungefiltert und in Echtzeit direktes Feedback. „Nutzende sagen: Das gefällt mir, das gefällt mir nicht, das ist langweilig. Das kann natürlich auch ein Schock sein, aber ich glaube, das lohnt sich.“

Markus Böhm beobachtet Twitch als Netzwelt-Redakteur beim Spiegel. „Für traditionelle Medien könnte Twitch interessant sein, weil es ein Weg ist, in der Streaming- und Gaming-Bubble überhaupt wahrgenommen zu werden“, sagt er. Diese Community sei in Deutschland einige Millionen Menschen stark. „Ob es dafür eigene, von Null aufgebaute Kanäle braucht? Schwer zu sagen.“

Potenzial gibt es auf jeden Fall, denn bisher wirken traditionelle Medien und Streaming-Community oft noch wie Parallelwelten. „Unser Netzwelt-Ressort porträtiert regelmäßig Streamer*innen, zugleich kennen einige dieser Stars nicht einmal den Unterschied zwischen dem Spiegel als Wochenmagazin und Website und Spiegel TV“, sagt Böhm. Weiten Teilen der Spiegel-Leserschaft wiederum seien selbst extrem reichweitenstarke Streamer*innen unbekannt. 

„Es gibt eigentlich nichts besseres, als auf Twitch die Fühler auszustrecken“
 

„Der oft raue Umgangston auf Twitch, die Memes und auch die erfolgreichsten Inhalte haben noch immer viel mit Gaming zu tun“, sagt Böhm. Wolle man das bestehende Publikum abholen und Twitch nicht neu erfinden, brauche man Inhalte, die diese Zielgruppe interessieren. Wer im Dialog mit Twitch- Stars nicht wie ein Exot wirken wolle, sollte ein paar Gaming-Fachbegriffe kennen.

„Twitch ist für viele Nutzer, die nicht im Chat aktiv sind, eher ein Nebenbei-Berieselungsmedium, das läuft, während sie auf einem zweiten Bildschirm arbeiten oder selbst Videospiele spielen“, sagt Böhm. „Inhalte, die sich nur extrem konzentriert und fokussiert verstehen lassen, haben es auf Twitch daher schwer.“

Neben Gaming-Livestreams sind auch Live-Reactions beliebt, dabei kommentieren Streamer*innen zusammen mit ihrem Publikum etwa Videoreportagen live. Im Vergleich zu Instagram sei Twitch Böhm zufolge schwer nebenbei zu bespielen und eigne sich anders als etwa Youtube nicht für eine Zweitverwertung bestehender Inhalte.

Eine weitere, kommerzielle Plattform

Auf Twitch sind vor allem charismatische Einzelpersonen mit einem gewissen Unterhaltungsfaktor erfolgreich. Sie können nicht nur durch Twitchs Werbeumsatzbeteiligung und Sponsoring Geld verdienen, sondern auch durch Kanal-Abos oder virtuelle Geldgeschenke in der Plattform-Währung „Bits“. „Fans wollen ihre Lieblingsstreamer*innen, also primär Einzelpersonen, unterstützen“, sagt Böhm. Er bezweifelt, dass sich mit einem breit aufgestellten Medienkanal auf Twitch richtig viel Geld verdienen lässt.

Das muss der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit seinen Formaten gar nicht. Auch die Washington Post forderte die Twitch-Nutzerschaft auf, sich ihre „Bits“ lieber für andere Streamer*innen aufzuheben. Die virtuellen Geldgeschenke würden zu sehr an Spenden erinnern, die die Medienmarke ablehnt. Nutzer könnten stattdessen den Twitch-Kanal abonnieren – oder ein klassisches Digital-Abo abschließen. „Die meisten Medien und Journalist*innen können schon froh sein, wenn ihre Arbeit auf Twitch überhaupt irgendwie an- und vorkommt. Das bringt ihnen dann vielleicht auf anderen Plattformen Vorteile, wie neue Social-Media-Follower“, sagt Tech-Redakteur Böhm. Wer sich fürs Livestreaming interessiere, solle auf jeden Fall Alternativen wie TikTok-Live im Blick behalten. „Gerade wenn man eher breite Massen erreichen will als das typische Twitch-Publikum und von Null startet“.

Für strategisch sinnvoller hält der Tech-Experte eher Kooperationen mit Personen, die auf Twitch bereits eine gewisse Glaubwürdigkeit haben und deren Schwerpunkt nicht nur auf Entertainment liegt. Webvideomacher wie Rezo oder der Dunkle Parabelritter zeigen bereits, dass Content gut ankommen kann, der viel mit Journalismus gemeinsam hat. Sie zeigen Zusammenhänge oder Missstände auf.

Wer auf Twitch setzt, muss sich bewusst sein, dass man sich von einer weiteren kommerziellen Plattform abhängig macht. Im vergangenen Jahr wurden mehrere Hunderte Twitch-Mitarbeiter*innen entlassen, worunter auch die Moderation der Plattform leidet. Die hat ohnehin keinen guten Ruf.

Böhm bilanziert: „Twitch ist die wohl wichtigste Livestreamingplattform der Welt und damit eine Wette auf die Zukunft und zumindest mit Blick auf bestimmte Zielgruppen ein Prestigeprojekt.“ Nicht alle Medien müssen also sofort einen Twitch-Kanal gründen. Der realistischere Weg bestehe darin, Inhalte zu produzieren, die Streamerinnen und Streamer animieren, live darauf zu reagieren, glaubt Markus Böhm.

Auch seine eigenen Texte im Spiegel erreichen auf diesem Umweg die Twitch-Community. Der Streamer Papaplatte las auf Twitch ein Interview von Böhm mit dem Streamer LetsHugo vor, mehr als 36.000 Menschen schauten zu. Ein Upload dieses Streams auf Youtube kassierte auch nochmal über 200.000 Abrufe – mehr Klicks als der Originaltext von Böhm.

Sonja Peteranderl berichtet für Medien wie SWR Vollbild, Spiegel oder Zeit Online über Kriminalität, Gewalt und Technologien. Außerdem forscht sie zu Umweltkriminalität und der Rolle von Technologie in Mexiko.