Tanz die Raute: Die Freiheit der Angela M.

Wie schön war doch die Zeit, als Merkels Sorge darin bestand, ob Berlusconi zum Gipfel pünktlich eintrifft. (Illustration: Jochen Schievink)

Angela Merkel, das Buch und die Medien: eine (fiktive) Spiegel-Reportage aus dem Leben der Ex-Kanzlerin.

03.02.2025

Es ist 5:17 Uhr an diesem grauen Novembermorgen. In 13 Minuten wird das SAT.1-Frühstücksfernsehen auf Sendung gehen. In der Maske riecht es nach Haarspray und Resignation. Eine Visagistin, die sonst C-Promis für das Dschungelcamp vorbereitet, tupft Concealer unter müde Augen. Angela Merkel sitzt regungslos da, wie ein Denkmal deutscher Stabilität. Ihr Blick – jener Blick, der einst ausgereicht hatte, um Sigmar Gabriel zum Schweigen und Martin Schulz zur Verzweiflung zu bringen – fixiert einen imaginären Punkt irgendwo zwischen Mauerfall und Marktwirtschaft.

Daneben steht Beate Baumann, ehemalige Büroleiterin der Bundeskanzlerin und Veteranin ungezählter Krisensitzungen. Sie überfliegt zum fünften Mal den Ablaufplan, ihre Finger blättern nervös durch die Seiten. „Es fühlte sich an wie in den Tagen der Bankenkrise“, wird sie später einem langjährigen Wegbegleiter gestehen. „Nur ohne Rettungsschirm.“

Der Vorschlag für diese Promo-Tour kam von Falkenstein & Partner, jener PR-Agentur, die sich rühmt, aus Wahlniederlagen Triumphe und aus Skandalen Chancen zu formen. „Die Republik dürstet nach Nähe“, hatte Senior-Berater Maximilian von Thusen-Berg (Elite-Internat Salem, McKinsey, drei gescheiterte Start-ups) verkündet. „Die Nation will keine Staatslenkerin mehr. Sie will einen Menschen!“

Die Ex-Kanzlerin hatte diesen Vorschlag mit jener stoischen Ruhe aufgenommen, die sie sich in zahllosen Nachtsitzungen des Europäischen Rates antrainiert hatte. Nun sitzt sie also hier, in der Maske. Ein Tag, mehrere verschiedene TV-Formate. Was soll schon schiefgehen? Schließlich hat sie auch Donald Trump überlebt. Und Wladimir Putin. Und Friedrich Merz. Die rote Lampe springt auf ‚On Air‘.

Showtime.

5:30 Uhr, SAT.1-Frühstücksfernsehen

Das Scheinwerferlicht ist gnadenlos. Es trifft auf einen charakteristischen Blazer in Azurblau – Merkels Rüstung in einer Welt, die sich nach Farbe sehnt. Im Studio riecht es nach abgestandenem Kaffee und den Überresten journalistischer Ambitionen. Moderatorin Marlene Lufen strahlt, in ihrer Karriere rangiert sie irgendwo zwischen Morning-Show-Plauderei, Big Brother und Promi-News. Ein televisionäres Niemandsland. Gerüchten zufolge hat die Redaktion ihr den Koffeinzugang rationiert. Der Entzug verfehlt das Ziel.

„Guten Morgen Deutschland!“, trällert Lufen. „Heute bei uns: Angela Merkel und ihr neues Buch! Die Ex-Kanzlerin startet bei uns in den Tag – mit einem grünen Superfood-Smoothie! Lecker!“ Die Kamera fängt Merkels Gesicht in Großaufnahme ein. Sie räuspert sich. „Vielen Dank für die Einladung. Ich freue mich, heute hier zu sein und über mein Buch zu sprechen, in dem ich…“

„Oh, aber Moment mal, Frau Merkel!“, unterbricht Lufen sie. „Bevor wir in die Tiefen der Politik eintauchen, erstmal was für die innere Balance! Dieser grüne Smoothie ist der absolute Hit! Banane, Grünkohl, Chiasamen – das hätte Ihnen im Kanzleramt bestimmt auch gutgetan!“

Lufen startet den Mixer. Das Gerät heult auf, ein grüner Strudel wirbelt im Plastikbecher. Ein Grün, das Merkel an ihre Zeit als Umweltministerin erinnert, an endlose Debatten über Emissionszertifikate, an das Scheitern von Kopenhagen… Lufen reicht ihr das Gemisch. Merkel hebt eine Augenbraue. Der Smoothie bleibt unbeachtet, wie die Avancen französischer Präsidenten bei EU-Gipfeln.

Zwanzig Minuten später. Eine Limousine rauscht durch den Morgennebel. Beate Baumann versucht verzweifelt, Smoothie-Spritzer aus Merkels Blazer zu tupfen. „Das wird ein langer Tag“, murmelt die Ex-Kanzlerin und liest zum dritten Mal die Überschrift der BILD auf ihrem Handy: „ZU GRÜN FÜR MERKEL! Smoothie-Krise erschüttert Buch-Tour!“

11:30 Uhr, DAS! (NDR)

Das rote Sofa des NDR – eine Art Beichtstuhl für Prominente in der Karrierekrise – hat schon viele gesehen: B-Promis auf dem Weg nach unten, C-Promis auf dem Weg nach oben, Schlagersänger zwischen den Hits. Aber noch nie eine Ex-Kanzlerin.

Moderator Hinnerk Baumgarten lehnt sich vor. Er trägt das Lächeln eines Mannes, der sich von den Untiefen des Smalltalks nicht abschrecken lässt. „Was für ein Tag, Frau Merkel! Wie überstehen Sie den?“

„Wie die Eurokrise“, antwortet Merkel sachlich und erschöpft zugleich. Politische Beobachter erinnern sich an die legendären Verhandlungsnächte in Brüssel. „Man muss es aushalten. Ertragen. Weitermachen. In meinem Buch beschreibe ich übrigens, wie…“

„Großartig, das klingt super spannend!“, unterbricht Baumgarten sie. „Und nach unserem Beitrag über die schönsten Landgasthöfe zwischen Elbe und Weser: Angela Merkels kulinarische Vorlieben! Von handfester Hausmannskost bis zum grünen Mixgetränk, an dem die Ex-Kanzlerin neuerdings so großen Gefallen zu finden scheint… Bleiben Sie dran!“

Im Backstagebereich von ProSieben riecht es nach Energydrinks und überhitzten Karriereträumen.

Auf der Fahrt zum nächsten Termin scrollt Merkel durch ihr Handy. Siebzehn verpasste Anrufe von Olaf Scholz und eine SMS, in der der Kanzler sie um Unterstützung beim Wahlkampf bittet. „Später“, murmelt sie. Beate Baumann tippt derzeit in ihr Handy, sie dementiert einen Tweet. Jemand behauptet, Merkel hätte den SAT.1-Smoothie heimlich in eine Topfpflanze gekippt.

Im Backstagebereich von ProSieben riecht es nach Energydrinks und überhitzten Karriereträumen. Auf einem Tisch steht ein grüner Smoothie mit „Extra-Kick“, wie ein handgeschriebener Zettel stolz verkündet. „SAT.1 hatte nur Grünkohl“, hatte die Chefredakteurin am Morgen in der Konferenz verkündet. „Wir ziehen das Ding auf ein neues Level: Goji-Beeren, Açaí und Matcha – das volle Superfood-Programm!“ Die Redaktion war fest entschlossen, die mediale Deutungshoheit in der Merkel-Berichterstattung zu gewinnen.

Die Ex-Kanzlerin bekommt Karteikarten mit vorbereiteten Antworten. ‚Was ist Ihr Styling-Geheimnis?‘, steht da in pinker Handschrift. Die Antwort klingt wie aus einem Hochglanz-Workshop für Führungskräfte: ‚Hosenanzüge in allen Farben des Regenbogens – für jede Krise der richtige Look!‘ Merkel lässt die Karten wortlos auf einen Stapel gleiten.

15:00 Uhr, taff (ProSieben)

Die Moderatorin Viviane Geppert wippt mit ihren High Heels auf und ab. „Mega, dass Sie da sind! Und noch megaer: Wir zeigen gleich die Gewinner-Montage unserer #MerkelMakeoverChallenge!“
Auf den Bildschirmen erscheint das Siegerbild: Merkel auf einem G7-Gipfel, aber mit Kim Kardashians Körper, virtuos verschmolzen durch die Hand eines 16-jährigen Photoshop-Künstlers aus Castrop-Rauxel. Die Hände der Ex-Kanzlerin gehen instinktiv in die Raute. „Krass!“, ruft Geppert. „Fast eine halbe Million Likes! Und gleich: Wer war der heißeste Staatschef?“
Merkel setzt an: „In Kapitel 7 meines Buches beschreibe ich ausführlich die dynamischen Beziehungen zwischen führenden Staatschefs und wie…“
– „Fun Fact!“, unterbricht Geppert. „Haben Sie gewusst, dass man die Merkel-Raute auch als Emoji bekommt? Jetzt herunterladen auf prosieben.de!“
Die Fahrt zum nächsten Termin gleicht einer Flucht. Im Radio läuft ein Beitrag über die politische Symbolik von Smoothies. Merkel starrt aus dem Fenster. Wie schön war die  Zeit, als ihre Sorge darin bestand, ob Silvio Berlusconi zu einem Gipfel pünktlich eintrifft – und welches Model er diesmal als ‚Assistentin‘ mitbringt.

18:45 Uhr, RTL Explosiv

Es ist jene Stunde am frühen Abend, in der sich das deutsche Fernsehen in seine dramatischste Form verwandelt. Das Studio von RTL Explosiv ist bereit. Das Scheinwerferlicht lässt keinen Schatten zu, weder in der Kulisse, noch in Merkels Mimik. Die Ex-Kanzlerin sitzt auf ihrem Stuhl, die Hände gefaltet, die Schultern nach vorne geneigt – jene Haltung, die einst Pressefotografen zur Verzweiflung und Karikaturisten zu Höchstleistungen trieb.

Wie schön war doch die Zeit, als Merkels Sorge darin bestand, ob Berlusconi zum Gipfel pünktlich eintrifft.

Die Moderatorin (Journalistenschule in Hamburg, drei Jahre Regionalnachrichten, dann der Wechsel ins Entertainment-Segment) trägt ein Outfit, das die schmale Grenze zwischen Business-Seriosität und Prime-Time-Entertainment markiert. „Angela Merkel exklusiv“, ihre Stimme vibriert in jenem Frequenzbereich, den RTL sonst für royale Skandale reserviert. „Die Frau der Krisen. Heute bei uns: Ihre Beauty-Tipps – und die Frage, wie man sich selbst in den dunkelsten Stunden treu bleibt.“ Dramatische Musik setzt ein. Ein Sound irgendwo zwischen Wagner und Wendler. Kurze Stille, dann setzt die Moderatorin neu an. „Jetzt mal ehrlich: Was war Ihr Geheimnis? Detox im Kanzleramt? Power-Yoga mit Ursula von der Leyen? Und nach dem Eklat heute Morgen im Frühstücksfernsehen fragt sich ganz Deutschland: Wie stehen Sie wirklich zu Smoothies?“

Merkel sieht sie an, der Blick kühl, fast gläsern. „Mein Geheimnis“, beginnt sie langsam, „war kein Geheimnis, sondern die Fähigkeit, Krisen zu analysieren, die richtigen Schlüsse zu ziehen und dann zu handeln.“

„Das klingt ja mega spannend!“ Die Moderatorin beugt sich vor. „Aber lassen Sie uns doch noch ein bisschen aus dem Nähkästchen plaudern! Was war der schlimmste Beauty-Fail bei einem Staatsbankett? War Schröder wirklich so eitel wie alle sagen? Und stimmt es, dass Emmanuel Macron Ihnen sein Hautpflege-Geheimnis verraten hat?“ Sie lacht.

Merkel atmet tief ein. Die Pause dauert so lange,  dass die Regie hektisch einblendet: „Nach der Werbung: Angela Merkel und ihre Raute – Symbol oder Geheimwaffe? Außerdem: Was Olaf Scholz wirklich in seiner Aktentasche trägt!“

Nach der Sendung läuft die Nachrichtenmaschinerie heiß. Die Agenturen tickern („Eklat im Frühstücksfernsehen +++ Merkel verweigert Smoothie“) und die Online-Portale jagen Klicks („Smoothie-Gate: Die wichtigsten Fragen und Antworten“). Die FAZ wird auf der Seite 1 einen Essay über „Die Metamorphose der Macht im Zeitalter ihrer smoothiehaften Reproduzierbarkeit“ platzieren. Die SZ kontert mit einer Analyse „Von Ku‘damm bis Kreuzberg: Berlins hippe Saftbars und der Niedergang der Republik“. Die Tagesthemen werden einen Kommentar aus Brüssel einholen, in dem ein Korrespondent mit sorgenvoller Miene vor einem leeren EU-Parlament steht. Die taz titelt schlicht: „Shake it, Angela, shake it!“Die internationale Presse springt auf: „From Iron Chancellor to Juice Queen“ (The Guardian), „La Révolution Verte de Merkel“ (Le Monde). Der Daily Mirror fragt: „Has Germany‘s Queen of Stability Finally Lost Her Blend?“

Doch niemand inszeniert die Story mit solcher Hingabe wie die BILD-Redaktion. Die Titelseite vermeldet in charakteristischer Lautstärke: „SMOOTHIE-GATE: Die geheimen Protokolle des Mixer-Skandals“. Auf Seite 2 schreibt Franz Josef Wagner: „Lieber grüner Smoothie, Du warst einmal Banane und Grünkohl. Jetzt bist Du Politik. So wie Angela Merkel einmal Physikerin war. Und jetzt bist Du Geschichte. Das Leben ist ein Mixer. Dein Franz Josef Wagner.“

Auf WELT.TV werden Experten in einer 24-stündigen Sondersendung die „Smoothie-Krise“ analysieren, während Phoenix eine siebenteilige Dokumentation mit dem Titel „Mixgetränke und Macht – Eine deutsche Geschichte“ ankündigt. Der stern setzt sein 12-köpfiges Investigativ-Team auf die Spur der geheimen Smoothie-Lieferanten des Kanzleramts an. Markus Lanz plant eine Sonderausgabe zum Thema „Deutschland im Mixer-Wahn“, mit Karl Lauterbach als Vitamin-Experten und einer Zoom-Schalte zu Richard David Precht, der gerade ein Buch über „Die Philosophie des Pürierens“ veröffentlicht hat.

Beate Baumann wird für die nächsten drei Tage ihr pausenlos vibrierendes Diensthandy stummschalten – zu viele Anfragen von Quizshows, Smoothie-Herstellern und Reality-TV-Produzentinnen. Gerüchten zufolge arbeitet Baumann bereits an einem Exposé mit dem Arbeitstitel „Kanzlerin undercover – Der Tag, an dem die Würde der Nation Zumba tanzte“. Drei Verlage und Netflix sollen bereits Interesse angemeldet haben.

Angela Merkel selbst wird untertauchen wie ein U-Boot in einem uckermärkischen See. Ihr überarbeiteter Bestseller „Die Macht der Raute – Vom Kanzleramt zum Frühstücksfernsehen“ wird Verkaufszahlen erreichen, die selbst Dieter Bohlen nachdenklich machen. In Berlin wird man noch lange von jenem Tag erzählen. Von den Smoothie-Bars, die über Nacht Merkel-Specials auf die Karte setzten. Von den Gerüchten um eine geplante Streamingserie mit dem Arbeitstitel „House of Raute“. Von dem Tag, an dem die deutsche Politik ihre letzte Gewissheit verlor. Ein stummer Zeuge dieser Promo-Tour steht heute im Haus der Geschichte zwischen den Sondierungspapieren der gescheiterten Jamaika-Koalition und einer Bronzeskulptur der Merkel-Raute: ein Smoothie, dessen Farbe noch immer so grün schimmert wie an jenem schicksalhaften Tag im November.

Lorenz Meyer ist Medienkritiker, Satiriker und Autor.
Jochen Schievink arbeitet als Illustrator in Hamburg.