Werkstatt
Kleine Geschichten ganz groß
Das Bild darf ruhig mal wackeln, sagt Nina Tschan (r.). Das sorgt für einen authentischen Eindruck. (Foto: Dominik Türschmann)
Während die Druckauflage der Pforzheimer Zeitung sinkt, sind die Abonnentenzahlen ihres Instagram-Accounts inzwischen fünfstellig. Das ist auch Nina Tschan zu verdanken. Sie glaubt an die Zukunft des Lokaljournalismus – und sieht eine große Stärke in der Verbindung mit sozialen Medien. Von Kristina Wollseifen
15.04.2020
Mehr als 360 Flugzeuge der britischen Luftwaffe flogen am Abend des 23. Februar 1945 über die badische Stadt Pforzheim. Die Stadt war unter anderem ins Visier der Royal Air Force gerückt, da Teile ihrer feinmechanische Industrie während des Krieges keinen Schmuck, sondern Zünder produzierte. Das hatte dramatische Folgen: Innerhalb von 22 Minuten warfen Flieger ihre Bomben über Pforzheim ab. Mehr als 17.000 Menschen starben bei dem Luftangriff. Der Feuersturm zerstörte den Stadtkern fast vollständig. Was Pforzheim und seinen Einwohnern im Winter 1945 widerfuhr, lässt sich mit Hilfe von Zeitungsberichten und Dokumenten der Royal Air Force rekonstruieren. Das hat ein Team der Pforzheimer Zeitung getan: Sie wühlten sich durch Archive, wälzten Bücher, sprachen mit Zeitzeugen. Anschließend berichteten sie nicht nur in der Zeitung, sondern auch in den sozialen Medien. Auf Instagram veröffentlichten sie eine Story mit mehr als 50 Seiten voller historischer Fotos und Luftaufnahmen der Stadt, zeigten Originaldokumente und Videoschnipsel. „Die Story wurde auf Instagram und Snapchat gut 10.000 Mal angeschaut“, sagt Nina Tschan aus der Onlineredaktion der Pforzheimer Zeitung. „Nach der Story haben uns auf beiden Kanälen über 400 positive Nachrichten erreicht – so viele wie bislang zu keinem anderen Thema.“Solche Erfolge zeigen: Das Team ist auf dem richtigen Weg. Das Medienhaus unter der Leitung von Verleger Albert Esslinger-Kiefer hat schon früh auf Onlineberichterstattung gesetzt. Seit mehr als 20 Jahren informiert die Redaktion ihre Leserinnen und Leser unter www.pz-news.de auch online über die Geschichten, die die Reporter aus Pforzheim und den angrenzenden Gemeinden im Enzkreis und im Nordschwarzwald mitbringen. „PZ-News war lange Zeit das einzige Onlinemedium für lokale Nachrichten in der Region“, sagt Tschan. „Deswegen konnten wir uns schon früh einen Namen machen und die Plattform bei den Bürgern etablieren.“ Zum Hintergrund: Im Januar 2020 verzeichnete die Website insgesamt mehr als zwei Millionen Visits. Die Tageszeitung in der angrenzenden Stadt Mühlacker, die auch über Pforzheim berichtet, hatte zur gleichen Zeit rund 130.000 Visits. Ein weiteres Konkurrenzmedium, der Schwarzwälder Bote, verzeichnete fast sechs Millionen Besuche – berichtet allerdings neben Pforzheim auch über Dutzende andere Ortschaften im Schwarzwald. Mit einem Crossmedia-Projekt über den Tornado, der vor 50 Jahren in Pforzheim eine Spur der Verwüstung hinterließ, belegten zwei Mitglieder aus dem Onlineteam der PZ den zweiten Platz beim Lokaljournalistenpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung. Längst ist die PZ auch in sozialen Medien unterwegs: Neben Facebook gehören seit vier Jahren auch Instagram und Snapchat dazu. Das Zwischenfazit: Während die gedruckte Auflage seit 2016 um mehr als zehn Prozent eingebrochen ist, stieg allein die Zahl der Instagram-Abonnenten auf mehr als 17.000. Auf Snapchat hat die Redaktion rund 8.000 Follower.Nina Tschan kümmerte sich von Anfang um den Aufbau der Accounts. „Das sind meine Babys“, sagt die 30-Jährige, die im April die Leitung der Onlineredaktion der PZ übernimmt. Dann will sie weiter daran arbeiten, die Rolle der Zeitung als Quelle für lokale Infos aus und für die Region Pforzheim auszubauen – nicht nur mit hochwertigen Bezahlinhalten über die Webseite, sondern auch mit Hilfe von sozialen Kanälen wie Instagram und Snapchat. Das Ziel ist nicht nur, eine junge Zielgruppe zu erreichen, die dann irgendwann einmal für Angebote der PZ bezahlen soll. Es geht auch heute schon darum, mit Hilfe der digitalen Kanäle Geld zu verdienen. Dazu haben sie und ihre Kollegen in der Onlineredaktion und aus der Anzeigenabteilung ein Werbemodell entwickelt, um auch auf Snapchat und Instagram Einkünfte zu erzielen. 75 Prozent mobilTschan arbeitet seit Beginn ihres Berufslebens im Lokaljournalismus: Seit vier Jahren ist sie Mitglied der Onlineredaktion der PZ. Zuvor hatte Tschan bei einer PZ-Tochterfirma für Filmproduktion als Fernsehredakteurin volontiert und hauptsächlich über lokale Themen berichtet. In der Onlineredaktion der PZ sind die Mitglieder in jedem Ressort zu Hause, sagt Tschan. „Wir berichten über Themen aus Baden-Württemberg, Deutschland und der Welt. Aber vor allem mit lokalen Themen verdienen wir Geld.“ Im vergangenen Sommer fiel der Startschuss für eine neue Geschäftsstrategie. Seither ist das Webseitendesign nicht nur nutzerfreundlicher – rund 75 Prozent lesen die Inhalte nämlich mobil, sagt Tschan. Viele Beiträge der PZ-Autoren verbergen sich nun auch hinter einer Paywall. „Guter Journalismus kostet Geld“, sagt Tschan. „In Skandinavien gibt es kaum noch Medienhäuser, die keine Bezahlschranke haben. Daran haben wir uns orientiert.“ Auf einige Inhalte, zum Beispiel Polizeimeldungen und Nachrichten, können die Leser nach wie vor umsonst zugreifen. Aber bei Inhalten, die die Redaktion mit viel Arbeitsaufwand speziell aufgearbeitet hat – und die im besten Fall exklusiv sind – ist das nicht mehr möglich. Das können hintergründige Recherchen sein, Kommentare oder Multimedia-Reportagen. Sechs bis acht neue lokale Beiträge landen pro Tag hinter der Bezahlschranke. Neben einem Abo lässt sich auch für einen Euro ein Tagespass abschließen. Zehn Euro kostet ein Monatszugang. 30 Prozent mehr zahlende LeserBisher scheint das Modell aufzugehen: Die Zahl der Leserinnen und Leser, die für Journalismus im Netz Geld bezahlen, sei seit dem Relaunch um knapp 30 Prozent gestiegen, sagt Tschan. Wer zahlt, erhält nicht nur Zugang zu allen Beiträgen, sondern bekommt auch deutlich weniger Werbung angezeigt. „Die Leser zahlen besonders gerne für Liveticker sowie für Berichte über Bauprojekte, Stadtentwicklung, Gastronomie und Lokalpolitik“, sagt die Onlineredakteurin.
Auch überregionale Themen, denen die Reporter auf lokaler Ebene nachgehen, werden gut geklickt. Das kann zum Beispiel eine Einschätzung der Leiterin des örtlichen Gesundheitsamtes zum Corona-Virus sein. Oder etwas unterhaltsamer: Jede Woche berichtet die Redaktion online darüber, wie sich die Kandidatin aus dem Verbreitungsgebiet der PZ in der aktuellen Folge der ProSieben-Serie „Germany’s next Topmodel“ gemacht hat – ein Online-Only-Format. „Solche Themen interessieren unsere Zeitungsleser nicht so sehr, aber unsere Online-Leserschaft und unsere Social-Media-Follower umso mehr“, sagt Tschan. In sozialen Medien macht die fünfköpfige Onlineredaktion auf ihre Beiträge aufmerksam. „Wir nutzen die Accounts aber nicht als reine Link-Schleuder“, sagt Tschan. „Vor allem wollen wir darüber ganze Geschichten journalistisch aufbereiten und mit Nutzern in einen Austausch treten.“ Da das Team oft um Rückmeldung und eigene Meinungen bittet, wurde es über die eigenen Abonnenten schon mehrfach auf neue und interessante Themen aufmerksam gemacht – etwa ein Fall sexueller Belästigung in der Umkleidekabine eines Schwimmbads. „Wir erhalten viele Nachrichten von Schülern“, erzählt Tschan. „Deshalb haben wir zum Beispiel vergangenes Jahr sehr schnell erfahren, dass eine Schule vor Ort wegen eines Nagetier-Befalls während des Unterrichts geräumt und vorübergehend geschlossen wurde.“ Unternehmen zahlenDiese Nutzerstruktur lockt auch Werbekunden an, die für die Reichweite der PZ-Kanäle zahlen: Mit Hilfe von „sponsored posts“ und „sponsored storys“, also Beiträgen mit Unternehmens- oder Markennennung auf den Accounts von PZ-news, können Firmen aus der Region ihre Produkte oder Dienstleistungen bewerben. Für Facebook, Instagram und Snapchat hat das Medienhaus verschiedene Pakete geschnürt. „Im vergangenen Jahr hat der Verlag damit Umsätze im niedrigen sechsstelligen Bereich generiert“, sagt Tschan. Davon fallen etwa 60 Prozent auf Facebook, 35 Prozent auf Instagram und fünf Prozent auf Snapchat. Von dem Modell profitieren alle Beteiligten, findet Tschan. Firmen können über die Postings nicht nur neue Kunden gewinnen, sondern die Kanäle der PZ auch nutzen, um zum Beispiel Auszubildende anzuwerben. Eine Snapchat-Story kann junge Leute eher erreichen: Zuletzt soll ein Beitrag über ein Augenzentrum in der Region dem Unternehmen geholfen haben, zwei Azubis zu finden. Die Nutzer profitieren, wenn Unternehmen bestimmte Angebote bewerben oder ein Gewinnspiel anbieten. Die Nutzer müssen dann meist dem beworbenen Unternehmen, beispielsweise einem Restaurant, folgen und es einem weiteren Nutzer vorschlagen, um zum Beispiel ein Abendessen für zwei Personen zu gewinnen. „Solche Kampagnen bringen uns Reichweite und kommen bei Nutzern gut an“, sagt Tschan. Mit dem Gewinnspiel-Post zu einem asiatischen Restaurant vor Ort habe die Redaktion beispielsweise einen Spitzenwert von 73.441 Impressions erzielen können. Was den Nutzern gefällt, hat die Onlineredaktion in den vergangenen Jahren Schritt für Schritt gelernt. Heute wissen Tschan und ihr Team, warum manche Inhalte besser laufen als andere. Die Uhrzeit kann beispielsweise stark beeinflussen, wie gut Beiträge geklickt werden. Außerdem reicht es nicht aus, nur ein Foto zu posten – daneben müssen auch ein paar Infos dazu stehen, zum Beispiel eine Story mit den drei wichtigsten Neuigkeiten aus der Region. Viele Nutzer mögen es auch, wenn sie in den Instagram-Storys auf Links klicken können und dann zu Artikeln der PZ weitergeleitet werden. „Um den Lokaljournalismus zu fördern, muss man sich immer wieder neu erfinden und sich selbst hinterfragen, mit welchen Formaten man für Leser auf welchen Kanälen interessant und wichtig bleiben kann“, sagt Tschan. „Dabei dürfen sich Journalisten nicht vor Innovationen verschließen, sondern müssen einfach mal ausprobieren und schauen, wie die Zielgruppen neue Ideen annehmen.“ Zurzeit überlegen Tschan und ihre Kollegen übrigens, die App TikTok auszuprobieren, auf der Nutzer kurze selbstgedrehte Videos hochladen können. Sie ist besonders bei jungen Teenagern beliebt – und bietet möglicherweise einen weiteren Weg, lokaljournalistische Inhalte zu verbreiten.
Das kann Lokaljournalismus:
Vielfalt: „Lokaljournalismus ist vielschichtiger als viele denken. Lokalreporter sind viel in ihrer Region unterwegs, lernen viele verschiedene Menschen kennen und können ihren Lesern zeigen, was alles vor der eigenen Haustür los ist und sie für das Geschehen vor Ort begeistern.“Interaktion: „Über soziale Kanäle ist es sehr einfach, mit Lesern in Kontakt zu kommen. Wir bitten regelmäßig um Rückmeldungen und Anregungen – so wurden wir schon auf manch neues und spannendes Thema aufmerksam, über das wir dann berichtet haben. Zuletzt haben wir auch einen Instagram-Walk durch unser Medienhaus veranstaltet, also eine Führung durch die Redaktion und die Druckerei. Dafür haben sich viele Instagram-Nutzer aus der Region beworben, die bei einer klassischen Druckhausführung niemals dabei gewesen wären. Die Teilnehmer waren begeistert von der Aktion, haben ganz viele Fragen gestellt und natürlich auch Fotos für ihre Accounts gemacht.“ Nähe: „Über unsere Beiträge in den sozialen Medien können wir unseren Lesern das Gefühl geben, live dabei zu sein, wenn wir zum Beispiel mit der Autobahnpolizei unterwegs sind, eine Bombenentschärfung begleiten oder bei einer Krötenrettung mitmachen. Das schafft Nähe zwischen Journalisten und Lesern.“ Identität: „Viele Kollegen von mir haben früher auf Veranstaltungen oder in Diskotheken Visitenkarten verteilt, als sie für die Zeitung unterwegs waren. So hatten die Leute vor Ort Kontaktdaten zur Redaktion. Viele von uns stehen auch mit ihrem Gesicht für PZ-News, indem sie zum Beispiel in Videos mitmachen und Neues zeigen oder erklären. Ich werde häufig von Leuten auf der Straße angesprochen, weil sie mich aus solchen Beiträgen kennen. Damit können wir PZ-News als Marke in der Region aufbauen und stärken. Außerdem schaffen wir so einen Wiedererkennungseffekt und tragen dazu bei, Identität in der Region zu stiften.“ Authentizität: „Unsere Beiträge in den sozialen Medien müssen nicht höchst professionell aussehen. Wir nutzen meist das Handy, um Aufnahmen zu machen. Wenn die mal etwas wackeln oder wir uns versprechen, kommt das bei den Nutzern authentischer und ehrlicher rüber als ein perfekt geschnittenes Video. Außerdem wissen unsere Abonnenten dann, dass der Beitrag live war.“Kristina Wollseifen ist Redakteurin bei der Wirtschaftsredaktion Wortwert in Köln.