Klagen als Waffen

"Wir lassen uns nicht zum Schweigen bringen" (Illustration: Francesco Ciccolella)

Unternehmen, wohlhabende Einzelpersonen oder Politiker*innen überziehen Journalist*innen mit Klagen. Sie wollen sie unter Druck setzen, zum Schweigen bringen – und gehen immer aggressiver vor. Neue Initiativen unterstützen Betroffene dabei, sich gegen sogenannte SLAPP-Klagen zu wehren. Text: Sonja Peteranderl, Illustration: Francesco Ciccolella

20.05.2024

Übrig blieb nur ein ausgebrannter Peugeot 108 auf einem Feld. Kurz nachdem Daphne Caruana Galizia am 16. Oktober 2017 ihr Haus in Bidnija, Malta, verlassen hatte und losgefahren war, detonierte die Autobombe (siehe journalist 11/2017). Die 53-jährige Investigativjournalistin war Maltas erhobener Zeigefinger: Eine Journalistin, die unbequem war, mutig die Missstände in dem EU-Steuerparadies im Mittelmeer anprangerte und auf ihrer Webseite „Running Commentary“ Korruptionsskandale und schmutzige Geschäfte auf der Insel enthüllte. Das Magazin Politico präsentierte sie 2017 als eine der Personen, die Europa prägen – als „One-woman Wikileaks“.

Schon in den Jahren vor dem Mord hatten die Mächtigen Maltas versucht, die Journalistin einzuschüchtern und ihre Berichterstattung zu verhindern: Sie wurde bedroht und angefeindet, das Haus ihrer Familie wurde zweimal angezündet. Und zum Zeitpunkt ihrer Ermordung waren 48 Verleumdungsklagen gegen sie anhängig, vor allem von der Regierung sowie Oppositionspolitiker*innen.

Der von ihren Söhnen gegründeten Daphne Caruana Galizia Foundation zufolge ist die maltesische Investigativjournalistin bis heute europaweit die Person, die die meisten SLAPPs kassierte – kurz für „Strategic Lawsuits Against Public Participation“. SLAPPs verbreiten sich zunehmend in Europa. Sie sind ein Missbrauch der Justiz und gefährden die Pressefreiheit: Politiker*innen, Beamte, wohlhabende Geschäftsleute oder Prominente strengen Klagen gegen Journalist*innen oder Aktivist*innen an, schüchtern sie damit ein – und bringen sie zum Schweigen.

Gekennzeichnet sind SLAPPs durch ein massives Machtungleichgewicht zwischen Kläger und Beklagten. Sie sind meist ungerechtfertigt und haben symbolische Kraft. „Die Strategie des Klägers besteht darin, den Fall so lange wie möglich in die Länge zu ziehen, um die finanziellen und psychologischen Ressourcen des Beklagten zu erschöpfen“, warnt die polnische Juristin Paulina Milewska auf dem Verfassungsblog. Sie forscht zu SLAPPs am Europäischen Hochschulinstitut. „Das Ziel ist nicht unbedingt, den Fall zu gewinnen, sondern Journalist*innen langsam aber sicher finanziell, emotional und sozial zu zermürben und eine abschreckende Wirkung zu erzielen, die auch andere davon abhält, über ähnliche Themen zu schreiben.“

Verschiedene Initiativen stemmen sich mittlerweile gegen die Klageflut. In dem von der Daphne Caruana Galizia Foundation mitinitiierten Bündnis Coalition Against SLAPPs in Europe (CASE) haben sich mehr als 100 Nichtregierungsorganisationen aus Europa zusammengeschlossen. Sie wollen die Gefahr, die von SLAPPs ausgeht, sichtbarer machen und sich gemeinsam für einen besseren Schutz von Journalist*innen einsetzen. CASE hat in einer Datenbank mehr als 800 Fälle aus europäischen Ländern dokumentiert – und warnt gleichzeitig davor, dass die Sammlung „nur an der Oberfläche des SLAPP-Problems in Europa kratzen“ könne.

Ein Multimillionär als Gegner

Medien wie die serbische Investigativplattform Crime and Corruption Reporting Network (KRIK) werden ständig attackiert, derzeit läuft ein Dutzend Klagen gegen die Redaktion. „Keine angenehme Erfahrung“, sagt die serbische Journalistin Dragana Pećo, die für KRIK arbeitet.

Vor sechs Jahren verfolgte Pećo bei den internationalen Paradise-Papers-Recherchen die Spuren, die von den geleakten Dokumenten über Steuerparadiese und Offshore-Firmen nach Serbien führten. Ihr Team deckte auf, dass der damalige serbische Minister Nenad Popović, der als „Russlands Mann“ in der Regierung galt, mit einem Vermögen von mindestens 100 Millionen US-Dollar der reichste Politiker des Landes war. Innerhalb weniger Wochen strengte der Politiker gleich vier Klagen gegen KRIK an: Wegen Berichten, in denen die Journalist*innen ihre Rechercheergebnisse dokumentierten – und wegen Beiträgen, in denen sie seine Reaktion und die SLAPPs thematisierten.

Stundenlang bereitete Pećo mit dem KRIK-Chefredakteur Stevan Dojčinović eine Stellungnahme vor, prüfte Dokumente und Beweise. Sie stellten Argumente zusammen und schrieben Dutzende Seiten, um dem Gericht zu zeigen, dass die veröffentlichten Informationen korrekt waren. „Wir haben so viel Zeit mit der Vorbereitung unserer Verteidigung verbracht, dass wir ein Buch schreiben könnten“, sagt Dragana Pećo.

KRIK finanziert sich vor allem durch private und institutionelle Spenden – seit die Klagen begonnen haben, muss das Team noch mehr Fundraising betreiben. Popović habe Pećo zufolge vom Gericht gefordert, den Streitwert hoch anzusetzen – denn das treibt auch Kosten und Gebühren der gerichtlichen Auseinandersetzung in die Höhe. Das Investigativnetzwerk OCCRP, zu dem auch KRIK gehört, hat 2022 den Fonds „OCCRP SLAPPs Back“ eingerichtet. Mit einem Crowdfunding wirbt das OCCRP Mittel ein, um Medien des Netzwerks in diesem „David-gegen-Goliath-Szenario“ zu unterstützen. „Die Reichen, Mächtigen und Korrupten verfügen über endlose Geldtöpfe, viel Zeit und Zugang zu Anwälten, die speziell für die Verfolgung von Journalisten geschult sind“, beschreibt OCCRP das Dilemma.

„Es kostet uns viel Zeit, uns zu verteidigen und jede Woche zu den Gerichtsverhandlungen zu gehen, manchmal haben wir mehrmals in der Woche Anhörungen“, sagt Dragana Pećo. „Anstatt Zeit und Energie in die nächste Recherche zu stecken, verwenden wir sie für die SLAPPs.“ Das Kalkül der Kläger: Ein Spiel auf Zeit, das für Journalisten*innen kostspielig und nervenzehrend ist und ihre Existenz zerstören kann. Auch der serbische Minister Popović wandte eine Verzögerungstaktik an, die bei SLAPPs gängig ist: Er tauchte nicht vor Gericht auf, setzte darauf, dass Anhörungen verschoben werden und die Verfahren sich so möglichst lange hinziehen. Zumindest ging es gut aus für die Journalist*innen: In einem Fall gewannen Pećo und ihre Mitstreiter*innen gegen den Minister, die übrigen Klagen zog er zurück.

„Wir haben noch nie eine Geschichte aufgegeben, weil jemand geklagt hat.“ Dragana Pećo, Crime and Corruption Reporting Network

Als Popović 2018 erstmals gegen KRIK klagte, seien SLAPPs noch nicht so populär bei Machthabern gewesen, so Pećo. „Jetzt sind Klagen zu einer Art Trend geworden, nicht nur in Serbien, sondern auch in anderen Balkanländern und europäischen Ländern“, beobachtet die Journalistin. „Nach den Popović-Klagen haben wir immer weiter SLAPP-Klagen gezählt, es war wie eine Welle.“

SLAPPs seien vor allem in Osteuropa ein großes Problem, sagt Ilja Braun von Reporter ohne Grenzen: „In Serbien, Slowenien, Ungarn und Polen sind SLAPPs verbreitet, häufig als Verleumdungsklagen – in Deutschland ist die Situation weniger dramatisch, aber auch nicht zu unterschätzen.“

Beispiele aus deutschen Gerichten seien etwa der Solar-Millenium-Fall, bei dem der Solarunternehmer Hannes Kuhn die Süddeutsche Zeitung verklagte oder das Vorgehen des Hohenzollern-Prinzen Georg Friedrich von Preußen gegen Medien und Wissenschaftler*innen. Der Kohlekonzern MIBRAG hat den Leipziger Lokaljournalisten Marco Brás dos Santos sowie weitere Journalisten, die 2019 über „Ende Gelände“-Proteste in einem Tagebau berichteten, wegen Hausfriedensbruches angezeigt.

Im angloamerikanischen Raum würden SLAPPs häufig mit hohen Schadenersatzforderungen einhergehen, sagt Braun von Reporter ohne Grenzen. „Das kommt in Deutschland seltener vor, weil unser Rechtssystem anders ist“, sagt er. „Ein Problem ist aber, dass Gerichte SLAPP-Elemente in zivilrechtlichen Auseinandersetzungen teilweise nicht oder nicht früh genug erkennen.“ Zum Beispiel verhängten Richter einstweilige Verfügungen, ohne die Gesamtumstände solcher Fälle zu betrachten und ohne Anhörung der Betroffenen. „Die könnten sich erst in einem Hauptsacheverfahren zur Wehr setzen.“

Reporter ohne Grenzen dokumentiert Fälle und macht Öffentlichkeitsarbeit, ansonsten kann die Organisation Betroffene bislang wenig unterstützen. Rechtliche Beratung könne man nicht leisten: „Leider ist in aller Regel schon die Prüfung, ob es sich tatsächlich um einen SLAPP-Fall handelt, so aufwendig, dass wir als zivilgesellschaftliche Organisation dabei an unsere Grenzen kommen“, sagt Braun.

Schutzschilder gegen SLAPPs

Die Initiative Pioneering anti-SLAPP Training for Freedom of Expression Project (PATFox) versucht, europäische Jurist*innen zu sensibilisieren. PATFox bildet Anwält*innen sowie Jurastudent*innen in Europa mit kostenlosen Anti-SLAPP-Trainings weiter, damit sie Betroffene besser verteidigen können. Auf der Webseite antislapp.eu sind Videos, eine Datenbank mit europäischen Fallbeispielen sowie ein digitales Handbuch verfügbar, das rechtliche Strategien zur Abwehr von SLAPPs vermittelt.

Von Klagen betroffene europäische Journalist*innen können sich auch an den Rechtshilfefonds des European Centre for Press and Media Freedom wenden, der vor allem von der EU-Kommission getragen wird. „Wir unterstützen etwa 20 bis 30 Fälle pro Jahr“, sagt Tabea Caspary vom European Centre for Press and Media Freedom. „Die Nachfrage ist groß und hat in den letzten Jahren zugenommen.“ Da die Klagen ihr zufolge auf einem strategischen Rechtsmissbrauch beruhen würden, stünden die Chancen gut, den Fall mit einem angemessenen Rechtsbeistand zu
gewinnen.

„In Serbien, Slowenien, Ungarn und Polen sind SLAPPs verbreitet, häufig als Verleumdungsklagen – in Deutschland ist die Situation weniger dramatisch, wenn auch nicht zu unterschätzen.“ Ilja Braun, Reporter ohne Grenzen

Auch das Start-up Reporters Shield, das letztes Jahr gegründet wurde, versteht sich als Antwort auf die zunehmende SLAPP-Bedrohung. „Reporters Shield funktioniert im Wesentlichen wie ein gegenseitiger Verteidigungsfonds“, sagt Peter Noorlander, der Geschäftsführer des Start-ups. „Und je mehr Mitglieder es gibt, desto stärker ist der Fonds.“ Die Mitgliedsorganisationen erhalten Trainings, werden bei geplanten kritischen Berichten vor der Veröffentlichung beraten und von Anwält*innen aus dem Reporters Shield-Pool vertreten, wenn sie beklagt werden. Anwaltskosten und Gebühren übernimmt Reporters Shield bis zu einem vorher vereinbarten Limit.

Seit Dezember 2023 werden die ersten Mitglieder aufgenommen, das Team arbeitet derzeit viele Anträge ab. „Es gibt eine sehr große Nachfrage“, beobachtet Noorlander. „Die Anträge kommen aus verschiedenen Ländern und meist von kleinen bis mittelgroßen Medienunternehmen, die sich kein eigenes Anwaltsteam leisten können.“ Ein hilfreiches Schutzschild, aber das Grundproblem lösen solche Angebote nicht. Das Problem müsse auf politischer Ebene angegangen werden: „In jedem Land muss es eine Anti-SLAPP-Gesetzgebung geben, wie sie von der Coalition against SLAPPs in Europe befürwortet wird“, sagt Noorlander.

Ein Gesetz für Daphne

Das Bündnis Coalition against SLAPPs in Europe (CASE) hat in den vergangenen Jahren die Anti-SLAPP-EU-Richtlinie mit vorangetrieben. Ende Februar 2024 stimmte das EU-Parlament mit großer Mehrheit für den Gesetzesentwurf, informell auch als „Gesetz für Daphne“ bekannt. Betroffene können künftig vor Gericht beantragen, dass eine Klage abgelehnt wird – bis zur Entscheidung wird das Verfahren eingefroren. Kläger müssen dann erstmal beweisen, dass die Klage nicht unbegründet ist. Prozesskosten können bei SLAPPs zudem erstattet werden. „Die politische Einigung stellt einen wichtigen Meilenstein dar“, sagt Ilja Braun von Reporter ohne Grenzen. Allerdings seien die Vorgaben der Richtlinie ein „Minimalstandard, über den Deutschland in seinem Gesetz hinausgehen sollte.“ Betroffene Journalist*innen müssten konkreter vor Schadensersatzforderungen geschützt werden, der Gesetzgeber sollte klarstellen, ab wann ein Einschüchterungsverfahren so offensichtlich missbräuchlich ist, dass es von einem Gericht frühzeitig abgewiesen werden kann. Zudem fehle in Deutschland eine Anlaufstelle, die Beratung und Begleitung für SLAPP-Betroffene anbietet, so Braun. Die seien „bislang häufig nur teuer von Medienanwälten zu bekommen“. Außerdem müsse man Jurist*innen weiterbilden und im Strafrecht Regeln vorsehen, mit denen der Bedeutung der Pressefreiheit in strafrechtlichen Verfahren ausreichend Rechnung getragen wird.

In Ländern wie Serbien sind Regierungsmitglieder die Hauptaggressoren gegen Journalist*innen. Dort ist eine strenge nationale Gesetzgebung gegen SLAPPs kaum zu erwarten. Gegen KRIK-Journalistin Dragana Pećo sind gerade zwei Klagen von Nikola Petrović offen, einem der einflussreichsten und reichsten Serben, Ex-Direktor des staatlichen Energieversorgers und Vertrauten von Präsident Aleksandar Vučić. Er hat Pećo insgesamt vier Mal verklagt – jedes Mal, wenn sie eine neue Recherche zu seinen geheimen Geschäften veröffentlichte.

„Die Anträge kommen aus verschiedenen Ländern und meist von kleinen bis mittelgroßen Medienunternehmen, die sich kein eigenes Anwaltsteam leisten können.“ Peter Noorlander, Reporters Shield

Pećo und ihre Mitstreiter*innen bei KRIK werden nicht nur ständig verklagt. Seit sie Korruption aufdecken und Recherchen zum organisierten Verbrechen in Serbien und im Ausland veröffentlichen, werden sie zur Zielscheibe von Diffamierungskampagnen von regimefreundlichen Boulevardzeitungen und Politiker*innen.

„Nachdem ich all dies jahrelang erlebt hatte, fühlte ich mich nicht mehr wohl und mir wurde klar, dass ich mich erholen musste“, sagt sie. Im Rahmen des Rest & Resilience Fellowships von Reporter ohne Grenzen und der taz Panter Stiftung konnte sie einige Monate in Berlin leben und eine Auszeit nehmen. Sie ging zur Therapie, konnte sich überlegen, wie sie künftig arbeiten will. Pećo konzentriert sich jetzt stärker auf große, transnationale Recherchen, die nicht nur ihr Heimatland betreffen – und sie betreut Nachwuchsjournalist*innen, die Korruption und Kriminalität aufdecken wollen.

Es sei schwierig, junge Journalist*innen zu finden, die diese Art von Arbeit noch machen wollen – „weil sie wissen, dass sie all diesem Druck und diesen Bedrohungen ausgesetzt sind.“ Journalist*innen müssten sich motivieren, weiter zu recherchieren – auch wenn sie wissen, dass die nächste Geschichte eine Klage nach sich zieht. Die Recherchen in Serbien kosteten viel Kraft und Geld, bewirkten aber häufig nicht viel, so Pećo. Das sei frustrierend. Nach Enthüllungen würden die Protagonist*innen häufig nicht bestraft, sondern befördert. Dennoch recherchiert das KRIK-Team weiter. „Wir haben noch nie eine Geschichte aufgegeben, weil jemand geklagt hat“, sagt Dragana Pećo.

Sonja Peteranderl ist Gründerin des Thinktanks BuzzingCities Lab und berichtet vor allem über organisierte Kriminalität, Gewalt und Technologie.