Kann unsere Arbeit menschlicher werden?
Medien schreiben häufig über New-Work-Trends, viele haben selbst aber eine miserable Arbeitskultur. Was sich ändern muss? Der Umgang mit Krankheiten, Kommunikation und sozialer Ungleichheit. Text: Sonja Peteranderl
11.02.2024
Das Team des Medien-Start-ups Neue Narrative trifft sich zum Meeting, doch bevor es losgeht, erzählt jede und jeder erstmal, wie sie oder er sich fühlt. Eine Mitarbeiterin spricht über die Phase des Menstruationszyklus, in der sie sich gerade befindet. Emma Marx, Mitarbeiterin bei Neue Narrative, findet das gut. „Da können viele mitfühlen.“ Was vielleicht nach Oversharing klingt, ist nicht ungewöhnlich bei dem Start-up. In seinem gleichnamigen Magazin berichtet Neue Narrative über Arbeit und Wirtschaft – es versteht sich aber auch als Experimentierlabor für eine bessere Arbeitskultur.
Der Einstieg in die Meetings ist nur ein Beispiel dafür, wie Neue Narrative arbeitet. Das Team entwickelt ständig Ideen aus dem Bereich New Work und probiert sie aus. Funktioniert ein Konzept, entwickelt Neue Narrative daraus ein Werkzeug und stellt es anderen Unternehmen über die Austauschplattform 9 Spaces zur Verfügung. „Wir wollen Organisationen befähigen, sich selbst zu verändern“, sagt Marx. Für die Medienbranche hat das Team den Tool-Baukasten NeueMedien.org entwickelt, der Medienmacher*innen Schritt für Schritt durch Gründungs- oder Transformationsvorhaben begleiten soll. Es sei wichtig, Organisationsentwicklung „von Anfang an mitzudenken“, sagt Martin Wiens, Mitgründer von Neue Narrative. Er hat den Baukasten mitkonzipiert.
In vielen traditionellen Medienhäusern sind in den vergangenen Jahrzehnten Newsrooms herangewachsen, die nur für eine kleine Gruppe von Menschen gut funktioniert hätten, sagt die Medienberaterin Anita Zielina: „Meist weiße, wohlhabende, akademische Männer ohne Betreuungspflichten.“ Andere empfänden die Räume aber nicht unbedingt als angenehmen Ort. Zielina sagt, Führungsetagen seien nicht divers genug. Veränderung werde häufig „wie ein Fremdkörper abgestoßen“. Nicht jede Medienorganisation muss künftig Menstruationszyklen besprechen, aber für ein Umdenken ist höchste Zeit.
Das hat auch damit zu tun, dass die Arbeitswelt in den vergangenen Jahren durcheinandergewirbelt wurde. Die Pandemie hat die Prioritäten von Journalist*innen neu sortiert. Viele fühlen sich wie ausgebrannt (siehe journalist 10/23 Der Flächenbrand). Vor allem die GenZ will sich nicht mehr kaputtarbeiten. Die Suche nach einer besser bezahlten und menschenfreundlicheren Arbeit kann die Lösung sein, doch dann bluten Medienhäuser aus. „Wir stecken in der größten Talentkrise, die die Medienwelt je erlebt hat“, warnt Zielina. Führungs- und Arbeitskultur sei dabei ein großes Problem.
Über Krankheiten sprechen
Neue Narrative versucht es besser zu machen. Emma Marx hat bei dem Magazin angefangen, weil sie „endlich mal irgendwo gut arbeiten wollte“, erzählt sie. Marx hat Endometriose, regelmäßig plagen sie starke Schmerzen. Bei Neue Narrative kann sie flexibel arbeiten. Sie entscheidet selbst, wann sie im Coworking-Space arbeitet und wann Zuhause. Das geht, weil die Mitarbeiter bei Neue Narrative über ihre Krankheiten sprechen können.
Als ein Mitarbeiter von Neue Narrative sich als depressiv outete, tat das Startup das, was es immer tut, wenn ein Problem auftaucht: Die Umrisse des Eisbergs vermessen, überlegen, wie sich der Umgang damit verändern lässt – und Tools entwickeln, die auch für andere Organisationen funktionieren könnten. Eine freiwillige, anonymisierte Umfrage unter den Mitarbeiter*innen ergab: Richtig gesund ist eigentlich niemand. Teammitglieder haben oder hatten etwa Tinnitus, ADHS, Angst- und Essstörung, Depressionen, Migräne, Asthma, Leukämie, Stoffwechselstörung oder Blutarmut. Emma Marx entwickelte das „Chronische-Krankheiten-Canvas“ – einen Leitfaden, der es Teams erleichtern soll, die Situation von chronisch kranken Menschen zu thematisieren und bei Arbeitsprozessen zu berücksichtigen. „Die Wahrscheinlichkeit, dass ich ausfalle, ist da, und es ist sinnvoller, darüber zu sprechen, wie wir damit umgehen, als so zu tun, als sei alles okay“, glaubt Marx.
Der Leitfaden, den Betroffene ausfüllen und mit einer Vertrauensperson besprechen können, leitet durch Fragen zu Selbstreflexion, Workflows und besseren Rahmenbedingungen. Marx wünscht sich zum Beispiel, dass Wärmflaschen, Wasserkocher und Schmerztabletten bereitgestellt werden. Kolleg*innen sollten auch grob über Marx’ Zustand aufgeklärt werden. Sie will nicht erklären müssen, „dass Endometriose nicht einfach nur starke Periodenschmerzen sind“. Marx hat ein Emoji definiert, einen chinesischen Drachen, den sie per Slack an einen Kollegen schicken kann – als Symbol für einen Endometriose-Ausfall.
„Krankheiten sind ein Tabuthema, das besprochen werden muss“ – Emma Marx, Regenerativer Lead, Neue Narrative
„Krankheiten sind ein Tabuthema, das besprochen werden muss“, sagt Marx. Der Leitfaden soll künftig Teil des Onboarding-Prozesses sein – falls neue Mitarbeiter*innen das wollen. Sie sollen ihre Krankheiten nicht verstecken müssen, so die Vision. „Um das anbieten zu können, ist eine entsprechende Kultur erforderlich“, sagt Marx, „und die Kulturveränderung muss von den Leuten ausgehen, die oben sind.“
Doch oft mangele es an offener Kommunikation, kritisiert Medienberaterin Anita Zielina: „Medienhäuser sind im Kommunikationsbusiness, aber tun sich wahnsinnig schwer mit interner Kommunikation“, sagt sie. Pandemie und Homeoffice haben das soziale Gefüge zudem erodieren lassen. Die Zoom-Mittagspause, Kochen vor dem Laptop oder Kaffee-Dates am Screen sind gutgemeinte Maßnahmen – sie ersetzen die informellen, vertrauten Gespräche in der Kaffeeküche und den Flurfunk aber nicht.
Nun müssten sich Unternehmen entscheiden: Homeoffice oder Präsenz. Zwischenlösungen seien oft nicht befriedigend. Wenn man drei Tage lang Zoom-Meetings abhalte, weil ein Teil der Mitarbeiter*innen zu Hause sitzt, entstehe „Frust auf allen Seiten und Einsamkeit“, sagt Zielina. Manche Medienhäuser zwingen ihre Mitarbeiter*innen wieder ins Büro – auch, wenn sie das gar nicht wollen. Andere Firmen, die rein remote arbeiten, versuchen mit regelmäßigen Teamtagen Nähe herzustellen – das funktioniert aber nicht für alle Mitarbeiter*innen. Unternehmen müssten die Präferenzen der Mitarbeiter erfragen und dann einen Kompromiss finden.
Spannungen besprechen
Bei Neue Narrative sieht er so aus: Das Team arbeitet komplett remote, das Büro wurde während der Pandemie aufgelöst. Das Team organisiert sich über Tools wie Notion und Slack. Zu jedem Kanal gibt es klare Kommunikationsrichtlinien. Mitarbeiter*innen geben in ihren Profilen auch an, welche Art der Kommunikation sie bevorzugen. Eine junge Frau schreibt: „Ich hasse es, angerufen zu werden.“
Alle zwei bis drei Monate treffen sich die Mitarbeiter*innen zu Teamtagen. Sie arbeiten dann an Schwerpunktthemen oder Strategien – alle können sich beteiligen, müssen es aber nicht. Im Alltag sollen Feedback-Schleifen und Transparenz dabei helfen, Konflikte abzubauen. Mitarbeiter*innen können vor jedem Meeting ankündigen, wenn sie über „Spannungen“ sprechen wollen – wobei damit auch Positives gemeint sein kann.
„Medienhäuser sind im Kommunikationsbusiness, aber tun sich wahnsinnig schwer mit interner Kommunikation.“ – Anita Zielina, Autorin und Gründerin des Beratungsunternehmens Better Leaders Lab
Beim sozialen Fußabdruck sieht aber selbst einer der Start-up-Gründer noch Verbesserungspotential. Als Remote-Unternehmen falle es „manchmal schwer, für alle ein Team-Gefühl herzustellen“, schreibt er in einem Newsletter. „Bei Konflikten merken wir das besonders.“ Neue Narrative finanziert sich durch Magazin-Abos und Mitgliedschaften für die Tool-Plattform 9 Spaces, Branding-Partnerschaften und Investor*innen. Im vergangenen Jahr mussten aber aufgrund eines finanziellen Engpasses mehrere Mitarbeiter*innen gehen, die Krise hat auch das Arbeitsklima bei Neue Narrative erschüttert – eine Zeitlang war ungewiss, wie es weitergeht, wer seinen Job verliert.
Grünes Druckverfahren
Bei Neue Narrative arbeitet jede und jeder in dem Bereich, in dem sie oder er die größte Kompetenz sieht. Bei Marx geht es vor allem um Nachhaltigkeitsthemen. Sie glaubt, bei fortschrittlichen Organisationen geht es nicht nur um die interne Arbeitskultur, sondern auch um die Umwelt. Sie kritisiert, dass sich viele Organisationen zwar grün vermarkten würden, aber trotzdem weitermachten wie vorher: „Sie berechnen ihre Emissionen irgendwie, lassen die Hälfte davon weg, versuchen den Rest zu kompensieren, indem sie ein paar Bäumchen pflanzen und bezeichnen sich dann als klimaneutral.“ Was tatsächlich notwendig sei: Organisationen, die regenerativ sind, die mehr geben als sie nehmen, eine positive Wirkung haben, sowohl sozial als auch ökonomisch. Marx glaubt, die Medienwelt sei noch nicht so weit und würde sich scheuen, mehr Geld für teure, aber kreislauffähige Druckverfahren auszugeben. Neue Narrative leistet sich für das Magazin ein teures Cradle-to-Cradle-Druckverfahren. Es soll Ressourcen schonen und hohe ökologische Standards einhalten. Alle Produktionsbestandteile sind kompostier- oder recycelfähig.
Ohne Hierarchien geht‘s nicht
Bei Neue Narrative gibt es formal keinen CEO. Die Mitarbeiter*innen organisieren sich selbst. Partizipation gilt als ein Instrument, um Machtgefälle aufzulösen. Doch kann das funktionieren?
Auch Start-ups, die alles anders machen wollen, fallen häufig in traditionelle Arbeitsmuster zurück. Die Französin Mathilde Ramadier, die in zwölf Berliner Start-ups gearbeitet hat und in ihrem Buch „Berlin 2.0“ die Lügen der neuen Arbeitswelt entlarvt, glaubt, Mitbestimmung, Sinn oder Verantwortung seien meist falsche Versprechen, die die Mitarbeiter*innen zu mehr unbezahlten Überstunden verleiten soll. „Man konnte den Chef duzen und mit ihm Kicker spielen. Aber das Versprechen, dass wir gemeinsam und gleichberechtigt an einem Projekt arbeiten, ging nicht auf“, sagte sie in einem Zeit Online-Interview. Am Ende profitierten meist nur die Gründer*innen, die Mitarbeiter*innen seien wie bei klassischen Unternehmen „austauschbare Rädchen im Getriebe“ gewesen – „nur, dass ihre Berufsbezeichnungen aufregender klangen“.
Organisationen ohne Machtgefälle gebe es nicht, warnt die frühere Mitarbeiterin eines Medien-Start-ups, das sich als partizipativ begreift. Auch in NGOs und gemeinnützigen Start-ups oder Organisationen, die sinnorientiert sind, würden Machtstrukturen wirken: „Wer auf einer renommierten Journalistenschule war, viele Follower*innen in sozialen Netzwerken hat, versammelt mehr Anhänger*innen hinter sich und all das hat Einfluss darauf, wer mehr informelle Macht in einer Organisation hat.“ Auch, wenn die angeblich flache Hierarchien habe oder es keinen CEO gebe, sagt sie.
„Es war wie ein Running Gag: man schreibt darüber, wie die Arbeitswelt sein müsste, während man selber meilenweit davon entfernt ist.“ – Mareice Kaiser, Journalistin und Buchautorin
Die Journalismus-Initiative Publix hat kürzlich einen Bericht veröffentlicht mit dem Namen „Dafür musst du mit einem Polohemd aufgewachsen sein“. Sie befragte 18 Journalist*innen zu ihren Berufswegen. Das Ergebnis: Die Redaktionskultur sei sowohl in der Ausbildung als auch im Anschluss „ein massives Hindernis bei der Integration von Journalist*innen mit diverser Herkunft“.
„Wer privilegiert ist, nimmt sich oft ganz selbstverständlich Raum und kann sich auch besser ausdrücken“, sagt Mareice Kaiser, Journalistin und Autorin von Büchern wie Wie viel. Was wir mit Geld machen und was Geld mit uns macht. Kaiser ist in einer Familie mit wenig Geld und wenig Bildung aufgewachsen, sie hat nicht studiert. Im akademisierten Medienumfeld sticht sie damit heraus. Einige kulturelle Codes habe sie sich erarbeitet, andere werde sie nie mehr lernen, glaubt sie. „Es bleibt das Gefühl, auffliegen zu können.“ Kaiser versucht, die Branche für Klassismus und sozioökonomische Benachteiligung stärker zu sensibilisieren
„Man darf nicht vergessen, dass unsere Arbeit in einem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem stattfindet, dem Kapitalismus“, sagt Kaiser. Der stelle nicht menschliches Wohl an oberste Stelle, sondern Profit. In den Führungsetagen, die sie erlebt habe, hätte selten jemand das Interesse gehabt, grundlegend etwas zu verändern. Sie habe schon für Medienhäuser gearbeitet, die selbst über New-Work berichtet hätten: „Es war wie ein Running Gag, dass man darüber schreibt, wie die Arbeitswelt sein müsste, während man selber in einer Welt arbeitet, die so meilenweit von diesem Ideal entfernt ist“, sagt sie.
Sonja Peteranderl ist Journalistin und Gründerin des Thinktanks BuzzingCities Lab.