Journalismus, der in die Tiefe geht

Table Media, Tagesspiegel Background, Politico: Der Markt für politische Fachinformationen ist immer härter umkämpft. Nicht alle Anbieter werden sich halten.

Tagesspiegel Background, Table Media und jetzt Politico in Deutschland: Der Markt für politische Fachinformationen ist immer härter umkämpft. Wer gewinnt – und wie? Text: Henning Kornfeld

29.07.2024

Das erste Kräftemessen endete unentschieden: Sieben Bundesministerinnen und Bundesminister schauten am 31. Januar beim Neujahrsempfang von Table Media in Berlin vorbei und ebenso viele ließen sich am 22. Februar bei der Launch-Party von Politico im Journalistenclub von Axel Springer sehen.

Bei anderen Medienmarken würde die Präsenz von Polit-Prominenz vielleicht nicht so viel über den Erfolg aussagen. Aber Table Media und Politico wetteifern miteinander genau um solche Leser: Politiker, Lobbyisten, Entscheider in Berlin. Sie brauchen fundierte Informationen in ihrem Fachgebiet und sind bereit, viel Geld zu bezahlen. Das ist die Wette. Wer erfolgreich sein will, muss in der Hauptstadt wahrgenommen werden.

Die US-Medienmarke Politico hat das Geschäft mit den politischen Fachinformationen in digitaler Form, den Verticals, erfunden. Am Morgen des 25. Juni 2007 verschickte der Reporter Mike Allen aus Washington zum ersten Mal seinen Newsletter, den er Playbook getauft hat. Heute ist es ein Leitmedium in der US-Hauptstadt. Ausgaben erscheinen auch in Brüssel, London und Paris. Das kostenlose Playbook ist überall ein Köder, um die Leser als Kunden für das kostenpflichtige Pro-Angebot zu gewinnen.

Axel Springer ist schon seit 2014 Partner und seit 2021 Alleineigentümer von Politico. Erst am 19. Februar startete die Berliner Ausgabe des Playbooks, recht spät. Der Tagesspiegel macht schon seit 2017 sogenannte Backgrounds, Table Media gibt es seit 2020. Trotzdem: Der bevorstehende Markteintritt von Politico hat der deutschen Szene einen großen Schub gegeben. Im September und November vergangenen Jahres haben die FAZ und die Süddeutsche Zeitung ihre Verticals gestartet. Auch Sebastian Turner, der Gründer von Table Media, hat so richtig aufgedreht: Er heuerte die beiden angesehenen Hauptstadtjournalisten Michael Bröcker und Helene Bubrowski als Chefredakteur und stellvertretende Chefredakteurin an und startete mit ihnen den morgendlichen Politik-Podcast Table Today. Die Redaktion ist nach Unternehmensangaben auf 70 Vollzeitstellen angewachsen.

„Ideologie bleibt außen vor, wir berichten ruhig, sachlich und unaufgeregt.“ Michael Bröcker, Table Media-Chefredakteur

Die Anbieter von Verticals, Professional Briefings oder Backgrounds mögen sich ähneln, alle nutzen das digitale Format des Newsletters. Es gibt dann aber doch ein paar Unterschiede. Tagesspiegel und Table Media bieten mehrere Newsletter mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten an. Klima, Europa oder China. Auch Gabor Steingart wird mit seiner Medienmarke The Pioneer gerne in diesen Topf geworfen, obwohl er solche Fachinfos nicht im Angebot hat. Auch die Preise unterscheiden sich stark: Für einen Zugang zu allen seinen Briefings verlangt The Pioneer nur 300 Euro pro Jahr, während Tagesspiegel und Table Media für eine Einzellizenz Preise von weit über 1.500 Euro nehmen.

Steingart spitzt in seinem Pioneer-Briefing gerne zu und spricht eher ein Publikum rechts der Mitte an. Auch das unterscheidet ihn von den übrigen Briefing-Anbietern, die sich alle politisch nicht fest verorten lassen wollen. „Ideologie bleibt außen vor, wir berichten ruhig, sachlich und unaufgeregt“, verspricht etwa Table Media-Chefredakteur Bröcker.

„Wir wissen, dass wir einen langen Atem brauchen.“ Carsten Knop, FAZ-Herausgeber

Auch die FAZ hat eine Sonderstellung: D:Economy, „Ihr wöchentlicher Informationsservice zur digitalen Wirtschaft“, verspricht die Zeitung. Der Newsletter berichtet über digitale Wirtschaft, über Künstliche Intelligenz oder das Silicon Valley. Die Zeitung vermarktet ihn nicht separat, sondern will ihr reguläres Digital-Abonnement F+ damit pushen. D:Economy ist das erste Angebot der FAZ unter der Marke Pro. Jedes davon soll der Zeitung langfristig 5.000 neue Abonnenten bringen, so die Rechnung.

Die FAZ entwickelt das neue Geschäftsfeld vergleichsweise behutsam: „Wir wissen, dass wir einen langen Atem brauchen“, sagt FAZ-Herausgeber Carsten Knop. „Die Leute suchen nicht verzweifelt nach einer Möglichkeit, das nächste Plus-Abo abzuschließen.“ Grundsätzlich sind bei der Zeitung für jedes Pro-Angebot nur drei Stellen vorgesehen, andere Ressorts sollen zuarbeiten. Für D:Economy hat sie einen etablierten Newsletter von „Netzökonom“ Holger Schmidt übernommen und ihren Ex-Wirtschaftsredakteur als Redaktionsleiter Newsletter und Verticals zurückgeholt.

Sebastian Turner von Table Media muss lauter trommeln, da er für seine Briefings keine etablierte Medienmarke im Rücken hat. Sein wichtigstes Instrument für Aufmerksamkeit im politischen Berlin ist der kostenlose Abend-Newsletter Berlin Table. Ein gutes Jahr nach dem Start soll er laut Unternehmensangaben gut 60.000 Abonnenten haben.

Turner ist eine zentrale Figur im deutschen Vertical-Business: Als Mitinhaber und Herausgeber hat er beim Tagesspiegel die Backgrounds initiiert und groß gemacht. Seit seinem Abschied von der Zeitung baut er das Newsletter-Geschäft in Eigenregie und mit eigenem Geld auf. Weil er gerne mit wichtigen Medienmenschen spricht, gibt es Gerüchte, wonach er über kurz oder lang ein großes Medienhaus an Table Media beteiligen wolle. Turner weist das zurück: „Die Frage stellt sich nicht.“

Der ehemalige Werber (Scholz & Friends) betrachtet die Verticals als neue Mediengattung, die dem Qualitätsjournalismus insgesamt wieder eine Perspektive gibt. In einem Buch, Artikeln und Interviews betreibt er eifrig Marketing dafür. Sein Credo: Für Medien lohnte es sich lange Zeit, in die Qualität ihrer Redaktionen zu investieren, so erreichten sie mit ihren Artikeln auch Entscheidungsträger. Das machte die Blätter auch für Werbekunden attraktiv, sie schalteten massenhaft Anzeigen. Doch seit der Jahrtausendwende bröckelt dieses Geschäftsmodell: wegen der Digitalisierung und weil Politiker und Unternehmens-Verantwortliche die Qualitätspresse mehr über Pressespiegel nutzen. Mit den Verticals entsteht ein neues, auch ökonomisch funktionierendes „Betriebssystem“ für Medien. Weil sie hohe Abo-Einnahmen erzielen können, lohnt es sich wieder, in ihren Redaktionen tiefes Fachwissen aufzubauen.

Andere Player halten den Aufschwung der Verticals eher für eine evolutionäre Entwicklung. „Sie adressieren ein verändertes Leserverhalten. Dass sie herkömmliche Tageszeitungen ersetzen, sehe ich aber nicht“, sagt FAZ-Herausgeber Knop. Ähnlich äußert sich Florian Eder, Redaktionsleiter von Süddeutsche Zeitung Dossier, dem Vertical der SZ: „Wir maßen uns nicht an, den Journalismus neu zu erfinden, sehen uns aber als Teil der medienwirtschaftlichen Diversifizierung.“ Die Leser nutzten für verschiedene Interessengebiete zunehmend verschiedene Anbieter.

Wie viele Vertical-Anbieter werden sich langfristig behaupten, wie groß wird die neue Mediengattung? Hinter vorgehaltener Hand prognostizieren gleich mehrere Akteure, dass der Platz wohl für zwei oder drei Unternehmen reicht – aber nicht für fünf oder sechs. Berlin Table, Politico-Playbook oder Platz der Republik (SZ Dossier) mögen jeweils inhaltliche und formale Besonderheiten haben, sie konkurrieren aber untereinander und mit den vielen Abend- und Morgen-Lagen nationaler Publikumsmedien um die knappe Zeit einer übersichtlichen Zielgruppe.

„Unser Ziel ist es, in jeder Dimension die Nummer eins zu sein.“ Sebastian Turner, Gründer von Table Media

Bei den Fach-Newslettern gibt es bislang nur wenige Überschneidungen, es ist jedoch absehbar, dass sich der Wettbewerb verschärft. Turner hat sich nach seinem Ausstieg beim Tagesspiegel zunächst auf von der Zeitung nicht abgedeckte Themen wie China oder Europa konzentriert. Mittlerweile gibt er aber auch ein Klima-Briefing heraus. Beim Tagesspiegel ist Energie & Klima der erfolgreichste der acht Backgrounds.

Trotz des späten Starts dürfte Politico Deutschland gute Chancen haben, sich durchzusetzen: Die Marke ist anderswo längst etabliert und auch hierzulande bekannt, ein milliardenschwerer Medienkonzern steht hinter ihr. „Wir profitieren von unserem internationalen Netzwerk mit 500 Politico-Reportern in den USA und den europäischen Hauptstädten“, sagt Executive Editor Gordon Repinski. Als etwa Emmanuel Macron laut über europäische Bodentruppen in der Ukraine nachdachte, berichtete das Berliner Playbook schnell und lieferte auch eine Einordnung aus Pariser Perspektive. „Wenn wir zum Beispiel in Berlin etwas mit Bezügen zu Frankreich hören, nehmen wir Kontakt zu unseren Kollegen in Paris auf, nutzen ihre Expertise und Einblicke, und die Geschichte wird besser.“

Politico ist in Deutschland auch deshalb so spät gestartet, weil Springer lange Zeit Rücksicht auf Gabor Steingart genommen hat. Der Medienkonzern ist an dessen Firma Media Pioneer mit knapp 36 Prozent beteiligt und hat ein Vorkaufsrecht. Repinski war bis letztes Jahr noch stellvertretender Chefredakteur bei The Pioneer, Steingart ließ ihn nur ungern ziehen. Als Springer im Juli 2023 endlich den Start von Politico ankündigte, war gesichtswahrend von einer „inhaltlichen Zusammenarbeit bei multimedialen Formaten wie Newslettern und Podcasts“ und „Zugang zur Infrastruktur von Media Pioneer auf Deutschlands erstem redaktionellen Schiff“ die Rede. Nun läuft es auf eine lockere Beziehung hinaus: „Wie mit anderen Axel-Springer-Marken auch gibt es ein gutes kooperatives Miteinander, aber keine formelle Zusammenarbeit“, sagt Repinski.

„Wir profitieren von unserem internationalen Netzwerk mit 500 Politico-Reportern in den USA und den europäischen Hauptstädten.“ Gordon Repinski, Executive Editor Politico

Belastbare Angaben zur Zahl von Abos und Lizenzen machen die meisten Vertical-Anbieter nicht. Das Geschäftsfeld Background des Tagesspiegel gilt als kommerziell erfolgreich, doch öffentlich bleibt die Zeitung im Vagen. Nur so viel: Man sei „sehr zufrieden“ mit der Entwicklung.

Turner spricht von rund 1.000 institutionellen Table Media-Kunden, die Zahl ihrer Lizenzen verrät er nicht. Das Wachstum sei aber stärker als seinerzeit beim Tagesspiegel, behauptet er.

Eine Kategorie von Gewinnern des Booms steht immerhin schon fest: Journalistinnen und Journalisten mit spezialisiertem Wissen. Die „fachliche Exzellenz“ der Redaktion der Tagesspiegel Backgrounds sei ein entscheidender Faktor für deren Erfolg, sagt die geschäftsführende Redakteurin Miriam Schröder.

Der Wettbewerb um gute Leute lässt sich an Personalien ablesen. Zum Beispiel beim SZ Dossier: Redaktionsleiter Eder war zuvor Executive Editor von Politico Deutschland. Sein Digitalwende-Teamleiter Matthias Punz kam vom Tagesspiegel, wo er einen Background aufgebaut hatte. Von Sebastian Turners Table Media wechselt im Juni Fabian Löhe als Managing Editor in Eders Team. „Wir wollen diejenigen erreichen, die Politik gestalten oder beeinflussen“, sagt Eder. „Das ist ein recht informiertes Publikum, das keinen Fehler verzeiht.“

Verticals: Wer was macht

1 Axel Springer: Die Konzerntochter Politico ist im Februar mit dem kostenlosen Morgen-Newsletter Berlin Playbook gestartet, seit Ende Mai gibt es dazu einen Podcast. Im Mai kam auch das erste deutschsprachige Pro-Angebot Brussels Decoded – das Europa Briefing. Der Konzern plant außerdem ein Briefing zum Thema Auto/Mobilität. Die Redaktion ist zehnköpfig; Executive Editor: Gordon Repinski.

2 FAZ Verlag: Hat im September 2023 das wöchentliche Newsletter-Briefing D:Economy mit den Schwerpunkten Künstliche Intelligenz, Plattformökonomie und digitale Transformation gestartet. In den Pro-Bereich soll auch FAZ Einspruch, ein Angebot für Juristen, eingegliedert werden. Geplant ist ein Briefing zum Thema Geoökonomie. Drei Stellen in der Redaktion; Redaktionsleiter Verticals und Newsletter: Holger Schmidt.

3 Media Pioneer: Unter der Marke The Pioneer erscheinen zwei tägliche Newsletter (Pioneer Briefing, Hauptstadt – Das Briefing) und zwei wöchentliche Newsletter (Der 8. Tag, Tech Briefing). Im Repertoire sind auch Podcasts und Veranstaltungen. Rund 30 Stellen in der Redaktion; Gründer, Anteilseigner und Chefredakteur: Gabor Steingart.

4 Süddeutsche Zeitung: Seit November mit der Marke Süddeutsche Zeitung Dossier im Vertical-Geschäft aktiv. Werktäglicher kostenloser Politik-Newsletter Platz der Republik und kostenpflichtiges tägliches Dossier Digitalwende. Bald soll ein Dossier zum Thema Nachhaltigkeit mit Schwerpunkt auf umweltpolitische Aspekte der grünen Transformation hinzukommen. Sieben Stellen in der Redaktion; Redaktionsleiter: Florian Eder.

5 Table Media: Das 2021 von Sebastian Turner gegründete Unternehmen bietet neun Fach-Briefings an, die zwischen ein- und fünfmal pro Woche erscheinen (u.a. China, Europa, Bildung). Im Januar 2023 kam Berlin Table hinzu, ein kostenloser Abend-Newsletter, der von Sonntag bis Donnerstag erscheint und seit 2024 von einem Podcast flankiert wird. 70 Stellen in der Redaktion; Chefredakteur: Michael Bröcker.

6 Tagesspiegel: Seit 2017 mit den Tagesspiegel Backgrounds im Vertical-Geschäft. Mehrmals pro Woche erscheinen Fach-Newsletter zu Fachthemen (u.a. Energie & Klima, Digitalisierung & KI, Gesundheit & E-Health). Außerdem wöchentliche Reports. Rund 50 Stellen in der Redaktion; geschäftsführende Redakteurin: Miriam Schröder.

Henning Kornfeld arbeitet als Medienjournalist in Heidelberg.