Gewalt gegen Frauen: Eine journalistische Tragödie

Gewalt, die sich gegen Frauen richtet, wird in der journalistischen Berichterstattung häufig verharmlost. Und das ist ein Problem.

Gewalt gegen Frauen ist weit verbreitet, viele sprechen von einem strukturellen Problem. Eine neue Studie belegt: Die mediale Berichterstattung wird dem nicht gerecht. Text: Livia Lergenmüller

05.12.2024

Im September dieses Jahres fährt ein Mann in Essen einen Lieferwagen in zwei Geschäfte und legt Feuer an zwei Mehrfamilienhäusern. Seine Frau hatte sich zuvor von ihm getrennt. In den Häusern und Geschäften leben und arbeiten diejenigen, die sie dabei unterstützt haben. 31 Menschen werden verletzt, acht Kinder schwer. Am Tag danach berichtet die Tageszeitung Welt von einer „Beziehungstat”, im Teaser heißt es, der Täter „ertrug offenbar die Trennung von seiner Frau nicht”. Man sehe „nicht die Spur” eines politischen Motivs, versichert ein Anwalt, es sei wohl eine rein „familientragische Geschichte”. Tragik, das ist das Schicksalhafte, eine unvermeidbare Naturkatastrophe, der man hilflos ausgeliefert ist. Eine Gewalttat hat jedoch in der Regel eine Ursache. Die bleibt in der journalistischen Berichterstattung jedoch oft unsichtbar. Stattdessen wird Gewalt, die sich gegen Frauen richtet, häufig verharmlost. Und das ist ein Problem.

In Deutschland wird knapp die Hälfte aller getöteten Frauen vom eigenen Partner oder Ex-Partner umgebracht – 155 Mal passierte das allein im vergangenen Jahr. Im Vergleich dazu wurden 24 Männer im selben Zeitraum Opfer von tödlicher Partnerschaftsgewalt. Übersetzt man das statistisch, tötet jeden zweiten Tag ein Mann seine (Ex-)Partnerin. So gesehen ist der eigene Partner oder Ex-Partner der gefährlichste Kontakt für Frauen. 

In den vergangenen Jahren hat sich dafür ein Begriff etabliert: Femizid. Die Bezeichnung wurde 1976 von der Soziologin Diana E.H. Russell in den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt und meint Tötungen von Frauen, weil sie Frauen sind. Darunter zählt Russell zum einen „misogyne Tötungen“, bei denen Frauen aus Frauenhass und Verachtung getötet werden, und zum anderen Tötungen von Frauen, die sich den patriarchalen Rollenvorstellungen widersetzen und sich der männlichen Kontrolle und Dominanz entziehen. Dazu werden häufig Tötungen wegen einer Trennung gezählt. Da die Polizeiliche Kriminalstatistik keine Tatmotive erhebt, ist nicht nachweisbar, ob eine Tat wirklich geschlechtlich motiviert war. Die geschlechtsspezifische Dimension wird nur sichtbar, wenn man die Proportionen betrachtet: Frauen werden überproportional häufig Opfer von sexualisierter Gewalt, Partnerschaftsgewalt und Tötungen im Beziehungskontext.

Jeden zweiten Tag tötet in Deutschland ein Mann seine (Ex-)Partnerin.

Das Problem ist nicht neu. Schon 1996 bezeichnete die WHO Gewalt gegen Frauen als eines ihrer größten Gesundheitsrisiken. 2011 wurde vom Europarat ein Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt ausgehandelt, bekannt als Istanbul-Konvention. 2018 trat diese in Deutschland in Kraft. Damit ist sie geltendes Recht, vor dessen Hintergrund deutsche Gesetze ausgelegt werden müssen. In Artikel 17 werden darin explizit auch die Medien aufgerufen, „Richtlinien und Normen der Selbstregulierung festzulegen, um Gewalt gegen Frauen zu verhüten und die Achtung ihrer Würde zu erhöhen.”

Was sagt die Forschung?

Dem werden deutschsprachige Medien bisher nicht gerecht, wie eine neue Studie der Otto-Brenner-Stiftung zeigt, die am 12. Dezember 2024 erscheinen wird und dem journalist bereits vorliegt. Die Medienwissenschaftlerin Christine Meltzer untersuchte dafür zwischen 2015 und 2019 die deutsche Berichterstattung über geschlechtsspezifische Gewalt und Femizide. Unter anderem analysiert sie, welche Sichtbarkeit das Thema in der Berichterstattung erfährt, welche Deliktarten besonders hervorgehoben werden, wie man sie einordnet und ob Unterschiede zwischen verschiedenen Zeitungstypen bestehen.

Die Studie stellte zunächst einen großen Unterschied zwischen regionalen Medien (wie Sächsische Allgemeine oder Münchner Merkur) und überregionalen Medien (wie Zeit oder SZ) fest. Während sich in regionalen Medien durchschnittlich zwölf Artikel im Monat finden, sind es in überregionalen Medien durchschnittlich sieben. „Das ist naheliegend”, sagt Meltzer im Gespräch mit dem journalist.  „Regionale Medien schreiben verstärkt über regionale Themen und haben daher mehr Aufmerksamkeit und Platz für Gewaltverbrechen in ihrem Gebiet.“ Die Studie stellt jedoch fest, dass die regionale Presse das Thema sehr unterschiedlich priorisiert: Manche Redaktionen veröffentlichten bis zu 30 Artikel pro Monat, während es bei anderen nur vier waren. „Die Berichterstattung hängt vermutlich stark davon ab, wie sehr einzelne Redakteur:innen für das Thema sensibilisiert sind”, sagt Meltzer.

Es sind einige wenige prominente Fälle, die im Fokus der Medien stehen. Dazu gehörte etwa der Fall von Maria Baumer mit 20 Artikeln – ihr Verlobter wurde 2021 nach langer Ermittlung verurteilt, weil er sie ermordet hatte. Außerdem gab es den Fall des Fußballers Jérôme Boateng (insgesamt 19 Artikel), gegen den wiederholt wegen Körperverletzung gegenüber seiner ehemaligen Partnerin Kasia Lenhardt ermittelt wurde.

Boulevardzeitungen thematisieren die prominenten Fälle häufiger. Das ist wichtig zu wissen. Denn vermutlich ist im Jahr 2024 die Zahl der Artikel über sexualisierte Gewalt nur deshalb stark angestiegen, weil viel über den prominenten Vergewaltigungsprozess in Avignon um Gisèle Pelicot berichtet wurde. Das bedeutet nicht, dass sexualisierte Gewalt im Allgemeinen mehr thematisiert wird.

Wenn es um Verbrechen geht, greifen Medien generell eher schwere oder atypische Fälle auf. Obwohl Partnerschaftsgewalt das größte Risiko für eine Frau darstellt, ist sie medial unterrepräsentiert. Dieser Fokus auf besonders gravierende Fälle gilt zwar für alle Formen der Gewalt, doch Meltzer sagt: „Gerade bei Gewalt gegen Frauen hat das starke Auswirkungen. Weil Tötungen von Frauen in der Regel am Ende einer Gewaltspirale stehen.” Tatsächlich entwickelt sich Gewalt in Paarbeziehungen oft nicht spontan, sondern durchläuft verschiedene Eskalationsstufen.

Wenn Gewalt gegen Frauen als Einzelfall dargestellt wird, wird die Verantwortung eher bei Einzelpersonen gesucht als in den gesellschaftlichen Strukturen.

Das belegt das Acht-Phasen-Modell (englisch: Homicide Timeline) der britischen Kriminologin Jane Monckton-Smith. Sie untersuchte mehrere Tötungen von Frauen und erkannte ein Muster: Täter werden demnach bereits häufig zuvor in der Beziehung gewalttätig, zeigen Kontrollverhalten oder sexuelle Aggression. Oft gibt es einen Trigger für die Tötung, etwa eine Trennung oder die Angst davor, finanzielle Probleme, eine Kündigung oder den Vorwurf der Untreue. Wer Partnerschaftsgewalt erlebt, hat ein höheres Risiko, auch von seinem Partner getötet zu werden. „Mit dem medialen Fokus auf diesen letzten Schritt verdeckt man, was dahinter steht”, sagt Christine Meltzer. „Dadurch erkennen wir Warnsignale nicht. Dieser Fokus lässt einen Femizid als überraschend erscheinen, dabei ist er das nicht.”

Die strukturelle Ebene wird in Medien insgesamt wenig sichtbar. Die Studie zeigt eine deutliche Tendenz zur Einzelfallberichterstattung. Nur 16 Prozent aller Berichte behandelten Gewalt gegen Frauen als Thema. 62 Prozent der Berichte blieben bei der reinen Darstellung eines Einzelfalls, ohne Verweis auf andere Taten. Das ist relevant: Wenn Gewalt gegen Frauen als Einzelfall dargestellt wird, wird die Verantwortung auch eher bei den beteiligten Einzelpersonen gesucht als in den gesellschaftlichen Strukturen. Überregionale Medien berichten noch eher thematisch, Regionalmedien und vor allem Boulevardmedien fokussieren sich auf die reine Darstellung von Einzelfällen. Das verändert sich nur dann, wenn es um nicht-deutsche Tatverdächtige geht: Hier wird häufiger auf strukturelle Gründe und wiederkehrende Tatmuster aufmerksam gemacht. In den wenigsten Beiträgen werden jedoch konkrete politische Maßnahmen thematisiert.

Warum thematisieren Medien das Problem dermaßen unzureichend? Das Konzept der „häuslichen Gewalt” ist noch jung. Bis in die 1970er Jahre galt Gewalt gegen Frauen als „Streiterei zwischen Eheleuten“ und damit als privat und unpolitisch. Erst die Frauenhausbewegung in den 1980er Jahren trug das Problem in die Öffentlichkeit und etablierte den Begriff „Häusliche Gewalt”. Seitdem wird Gewalt in Beziehungen als Folge von gesellschaftlichen und politischen Strukturen gesehen. Vergewaltigung in der Ehe ist seit 1997 ein Straftatbestand, vorher war sexualisierte Gewalt in einer Ehe Recht des Mannes. 2002 wurde das Gewaltschutzgesetz erlassen und erst seitdem muss die Polizei eingreifen, wenn eine Frau von ihrem Mann geschlagen wird. Seit 2015 werden Partnerschaftsgewalt und Tötungen im Beziehungskontext statistisch erhoben. Das Phänomen der geschlechtsspezifischen Gewalt ist also noch nicht lange bekannt und noch nicht im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert.

Das gilt auch für Journalist:innen. Gleichzeitig sind sie eine wichtige Stellschraube. Mediale Sichtbarkeit trägt dazu bei, dass ein Thema in der Bevölkerung als wichtig wahrgenommen wird. Sie beeinflusst, wie stark die Politik ein Thema priorisiert und hat Einfluss auf die Anzeigebereitschaft von Betroffenen.

Verschiedene Initiativen haben bereits Leitfäden entwickelt, um die Berichterstattung über Gewalt gegen Frauen zu verbessern. Dazu zählt etwa ein Leitfaden der Initiative bff, des Projekts FEM-UnitED oder der im journalist erschienene Leitfaden von 2023. Wichtig ist zum Beispiel das Sichtbarmachen der strukturellen Dimension des Problems, etwa durch Nennung und Einordnung von Zahlen. Außerdem sollte man sparsamer mit der Rekonstruktion des Tathergangs umgehen: Berichterstattung sollte sich auf das beschränken, was inhaltlichen Mehrwert bietet, statt Voyeurismus zu bedienen. True Crime ist kein Journalismus. Auch Formulierungen sind wichtig: Es handelt sich bei Partnerschaftsgewalt und Tötungen nicht um Familienstreitigkeiten oder Beziehungskonflikte, sondern um Verbrechen. Außerdem sollte man Formulierungen vermeiden, die Verständnis für den Täter schaffen („Er ertrug die Trennung nicht”) oder die Verantwortung auf die Betroffene lenken („Weil sie sich trennte”). Sinnvoll wäre auch, Richtlinien in den Rundfunkstaatsverträgen und im Presserat zu verankern – so, wie es die Istanbul-Konvention fordert. Denn eine verantwortungsvolle und sensible Berichterstattung kann zum Schutz von Frauen beitragen.

Livia Lergenmüller arbeitet als freie Journalistin in Berlin mit Schwerpunkt auf Gewalt gegen Frauen.