Ein Babystrampler, der sich aus Belgrad meldet
Mithilfe von Trackern können Journalist*innen zweifelhafte Routen nachvollziehen.
Journalist*innen versehen Elektroschrott, Bäume und Kleidung mit Trackern, um Missstände wie illegale Müllentsorgung oder Greenwashing nachzuweisen. Wie die Technik bei großen Recherchen eingesetzt wird – und warum sie Menschen schaden kann. Text: Sonja Peteranderl
17.11.2024
Dunkle, giftige Wolken hängen über Agbogbloshie, einem Stadtteil der ghanaischen Hauptstadt Accra – kilometerweit sichtbare Spuren von brennendem Elektroschrott. Junge Männer und Kinder ohne Schuhe wühlen sich durch Müllberge, hämmern Metalle wie Kupfer aus alten Geräten. Agbogbloshie ist eine der größten und giftigsten Elektromüllkippen Afrikas. Hier landen auch Tonnen von Abfällen aus Europa, darunter kaputte Fernseher aus Deutschland, wie ein Team von Panorama – die Reporter und dem Rechercheprojekt Follow the Money herausfand. Vor rund zehn Jahren bauten die Journalist*innen GPS-Tracker in alte Fernseher ein und konnten den Weg der Geräte aus Deutschland bis nach Ghana verfolgen – bei einer der ersten Tracking-Recherchen der deutschen Medienlandschaft.
In Deutschland experimentieren zwar noch nicht viele Journalist*innen und Medien mit Trackern, doch immer mehr Beispiele zeigen, wie kreativ sich die Technologie mittlerweile anwenden lässt. Die Tracker können in Paketen, Sneaker, Kleidung, Baumstämmen oder Autos versteckt werden und ermöglichen es Journalist*innen, die Standorte der Objekte auch über Landesgrenzen hinweg auf einer digitalen Karte nachzuvollziehen.
Die Technologie wird immer kleiner, günstiger und leichter zu handhaben. Zum Beispiel halten die Batterien neuer Bluetooth-Tracker wie Apples Airtags oder Samsungs Smarttags, die seit 2021 auf dem Markt sind, viel länger als bei GPS-Trackern. Außerdem brauchen Anwender*innen heute kaum mehr technische Kenntnisse für Verfolgungsjagden rund um den Globus.
Vor kurzem präsentierte Jan Böhmermann in seiner Show ein ungewöhnliches Büro: eine abgelegene Hütte im Sachsenwald in Schleswig-Holstein, mit auffällig vielen Briefkästen und Firmenschildern. Mit Wildkameras, die Bewegungen im Umfeld der Hütte aufzeichneten, und mit Hilfe von Trackern hatten Journalist*innen von ZDF Magazin Royale sowie von FragdenStaat die Waldhütte als mutmaßliches Steuerparadies entlarvt.
Manchmal geben die digitalen Datenspuren den Reporter*innen Rätsel auf.
Die Journalist*innen statteten Umschläge mit Trackern aus und adressierten sie an verschiedene Firmen. Die Briefe wurden nicht direkt in die Waldhütte geliefert, sondern an die Adressen der Mutterfirmen in Hamburg. Dort sind die Gewerbesteuersätze den Recherchen zufolge viel höher als im Wald. Der Sachsenwald gehört dem Unternehmer Gregor von Bismarck, Ururenkel des ersten deutschen Reichskanzlers. „Schon auf den zweiten Blick offenbart sich ein Bild, das mehr an eine verlassene Theaterkulisse erinnert als an ein Büro, in dem teils Umsätze in Millionenhöhe generiert werden sollen”, so heißt es im ZDF Magazin Royale.
Gut versteckte Tracker
Tracker können Journalist*innen auch dabei unterstützen, umweltschädliche oder illegale Praktiken bei der Herstellung, der Auslieferung oder Entsorgung von Elektronikgeräten oder anderen Objekten aufzudecken. Damit sind die Mini-Spione oft nützlich, um Greenwashing-PR von Firmen zu entlarven.
Es gibt Journalist*innen, die sich genau darauf spezialisiert haben. An der Elektroschott-Recherche, die nach Ghana führte, waren Felix Rohrbeck und Christian Salewski beteiligt, die 2020 das Recherche-Start-up Flip mitgründeten. Flip arbeitet immer wieder mit Trackern, um Greenwashing aufzudecken. Eine ihrer bekanntesten Recherchen ist die Sneakerjagd, bei der das Team zusammen mit Panorama, Strg_F und der Zeit herausfanden, was mit aussortierten Turnschuhen passiert: Die Reporter*innen frästen unter der Innensohle ein Versteck für die GPS-Tracker, füllten die Löcher mit Silkon auf. Dann wurden die Schuhe in Kleiderspendeboxen oder bei Rücknahmeprogrammen von Herstellern abgegeben und ein halbes Jahr lang verfolgt. Wo sie landeten, lässt sich auf der digitalen Karte sneakerjagd.letsflip.de nachvollziehen. Die Sneakerjagd offenbarte: Viele alte Schuhe werden noch in Deutschland verbrannt und nicht weiter benutzt oder recycelt, wie Kleidercontainer oder Sneaker-Produzenten suggerieren.
Seit rund zehn Jahren deckt auch Greenpeace Missstände und Umweltverbrechen durch Tracking auf. Vor zwei Jahren bewies ein Rechercheteam, dass gefällte Bäume aus Schutzgebieten in Deutschland in der industriellen Holzverbrennung enden. Das Team suchte sich Polter – Baumstämme, die zum Abtransport gestapelt wurden – und bohrte ein Loch in einen der Stämme. Darin versenkten sie einen Tracker und verdeckten das Versteck wieder. „Entdeckt werden die Tracker selten, die Transportfirmen achten da kaum darauf”, sagt Gesche Jürgens, Waldexpertin bei Greenpeace. „Aber es kann sein, dass sie kaputtgehen oder feucht werden.” Um die Technologie vor Kälte und Nässe zu schützen, verstaute das Team die Tracker vor dem Einbau in kleinen Tüten. Sie hatten für das Projekt eigene GPS-Tracker entwickelt, auch, um zu vermeiden, dass die Batterie-Chemikalien in einem Sägewerk Brände auslösen.
Mithilfe von Trackern haben Journalist*innen von ZDF Magazin Royale und FragdenStaat eine Waldhütte im Sachsenwald als mutmaßliches Steuerparadies entlarvt.
Bei der letzten Recherche in Schweden setzte das Team auf Bluetooth-Tracker – und verbaute jeweils einen Airtag von Apple und einen Samsung Smarttag pro Baumstamm. Die Umweltexpert*innen wollten wissen, ob Schweden seine Kontinuitätswälder genug schützt, artenreiche Wälder, die noch nie vollständig abgeholzt wurden.
Auch Hunderte Jahre alte Bäume werden gefällt, die alten Wälder drohen zu verschwinden. Ein großer Teil der Bäume landet in schwedischen Zellstoffwerken, was Greenpeace durch die rund 50 in Baumstämme montierten Bluetooth-Tracker beweisen konnte. Zellstoff und Papier aus diesen Werken enden auch in Deutschland. Zum Beispiel bei Firmen, die unter anderem Wegwerfprodukte wie Verpackungskartons von Lieferservices produzieren.
Massentaugliche Überwachung
Bluetooth-Tracker sind eigentlich dafür gedacht, verlorene Schlüssel oder gestohlene Fahrräder wiederzufinden. Gleichzeitig haben sie die digitale Überwachung massentauglich gemacht: Sie funktionieren anders als GPS-Tracker, sind kleiner und praktischer. Apples Airtags zum Beispiel sind nur so groß wie eine Zwei-Euro-Münze und oft präziser als GPS-Tracker. Für rund 100 Euro erhält man vier Airtags, ein Viererpack von Samsungs Smarttags kostet rund 70 Euro – eine SIM-Karte und mobile Daten sind nicht nötig für die Ortung. Denn ein Bluetooth-Tracker meldet seinen Standort nicht selbst weiter, sondern wird von anderen Geräten des jeweiligen Herstellers erkannt. iPhones, die fremde Tracker in ihrer Nähe entdecken, speisen dies ins Apple Netzwerk ein. Dadurch hält auch die Batterie länger: Bei Airtags soll sie ein oder eineinhalb Jahre halten, bei Smarttags fast zwei Jahre.
Welche Tracker-Marke für eine Recherche sinnvoll ist, hängt vom geplanten Einsatzort ab. In Deutschland sind Samsung-Geräte verbreiteter als Apple-Geräte, dennoch funktionieren beide Modelle relativ gut. Aber: Auf dem Land ist das Tracking schwieriger als in der Stadt, weil in urbanen Gegenden mehr Geräte im Einsatz sind, die die Bluetooth-Tracker weitermelden.
Virtuelle Weltkarte
Airtags übermitteln nur den letzten bekannten Standort, Smarttags speichern die Daten rund eine Woche, so dass Routen sich auch im Nachhinein rekonstruieren lassen.
Damit Journalist*innen bei der Verfolgung Dutzender Tracker über längere Zeiträume nicht durcheinander geraten, hat der Datenjournalist Claus Hesseling im Auftrag von autoren(werk) ein Scraping-Tool für die Tracker von Samsung gebaut. Er erklärt es so: „Der Scraper loggt sich in die Website-Funktion SmartThings Find ein, kopiert die Daten automatisiert und schreibt sie in eine Datenbank – sie werden dann auf einer Übersichtsseite dargestellt und immer wieder aktualisiert, damit Journalist*innen sie auf einen Blick sehen können.“
„Entdeckt werden die Tracker selten, aber es kann sein, dass sie kaputtgehen oder feucht werden.”
Gesche Jürgens, Waldexpertin bei Greenpeace
Nicht immer seien die gemeldeten Standorte akkurat, sagt Hesseling. Smartphones, die den Tracker weitermelden, melden nie seinen genauen Standort, sondern immer nur ihren eigenen. „Man kriegt dann 20 bis 30 verschiedene Datenpunkte und kann daraus den Standort des Trackers ableiten”, sagt Hesseling – zwar nicht „zentimetergenau, aber bis auf den Meter”.
Hesseling beobachtet bei Datenjournalismus-Konferenzen wie Dataharvest derzeit ein großes Interesse an Tracking-Recherchen. Dennoch spricht er nicht von einem Hype. „Man muss schauen, welche Anwendungsfälle es gibt, für welche Themen sich Tracker wirklich eignen”, sagt Hesseling. „Und man braucht Redaktionen, die langfristig denken und ein Projekt über mehrere Monate verfolgen wollen – das ist nicht unbedingt gegeben”, sagt er.
Verräterische Warnmeldungen
Journalist*innen müssen sich auch mit dem möglichen Missbrauch der Technologie auseinandersetzen. Die Autorin dieses Textes hat im vergangenen Jahr selbst für das Investigativformat SWR Vollbild aufgedeckt, dass Bluetooth-Tracker auch in Deutschland zunehmend für Stalking missbraucht werden. Frauen fanden sie an ihren Autos oder eingenäht in die Kleidung der Kinder – von Ex-Partnern und auch von Fremden. Auch in Frauenhäusern entdecken Beraterinnen immer wieder Tracker, die in Kindergeschenken wie Kuscheltieren eingenäht wurden und den Aufenthaltsort der geflüchteten Frau verraten.
„Man braucht Redaktionen, die langfristig denken und ein Projekt über mehrere Monate ver-folgen wollen.“
Claus Hesseling, Datenjournalist
Die Herstellerfirmen haben mittlerweile Schutzfunktionen entwickelt, die übers Smartphone per Textnachricht oder über den Tracker per Piepton warnen, wenn sich ein fremder Bluetooth-Tracker länger in der Nähe befindet. Außerdem hat die Technische Universität Darmstadt die App AirGuard entwickelt, die vor Trackern verschiedener Firmen in der Nähe warnt. Der Lautsprecher, der den Warnton abgibt, lässt sich jedoch bei Bluetooth-Trackern schnell ausbauen – und nicht immer funktionieren die Systeme zuverlässig. Für Betroffene von Stalking können diese mangelhaften Schutzfunktionen gefährlich sein – doch für Journalist*innen, die mit Trackern recherchieren und nicht auffliegen wollen, sind die Probleme der Meldesysteme eine gute Nachricht.
Hinweise für Finder*innen
Bei ihren Projekten versehen die meisten Journalist*innen ihre Tracker mit Aufklebern, auf denen steht, dass der Tracker Teil einer journalistischen Recherche ist – per E-Mail oder Handynummer können sich Menschen melden, die die Tracker entdecken. Auch bei der Recherche „Das System Zalando” von Vanessa Materla und Carmen Maiwald für das Investigativ-Format SWR Vollbild nähten die Autorinnen die Tracker zusammen mit einer kleinen Nachricht in Kleidungsstücke ein.
Sie hatten Kleider und Babystrampler bei Zalando bestellt und schickten sie dann modifiziert zurück, um die Routen der Retouren zu analysieren. Von rund 250 Millionen Zalando Bestellungen wird von den Kund*innen durchschnittlich die Hälfte wieder an Zalando zurückgeschickt. Die Tracker-Recherchen belegten, dass die Retouren dann oft monatelang kreuz und quer durch ganz Europa
gondelten.
Manchmal geben die digitalen Datenspuren den Reporter*innen Rätsel auf. Dem Datenjournalisten Claus Hesseling zufolge häuften sich bei einer Recherche Meldungen zu Trackern immer wieder auf Parkplätzen in Belgrad. Es dauerte, bis das Team verstand, dass sich dort Flohmärkte befanden, auf denen ihre mit Trackern ausgestatteten alten Smartphones zum Verkauf angeboten wurden.
Sonja Peteranderl berichtet für Medien wie SWR Vollbild, Spiegel oder Zeit Online über Kriminalität, Gewalt und Technologie. Als Researcher & Journalist in Residence an der Humboldt-Universität Berlin forscht sie zu Eco Crimes & Technologie.