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Die Welt spricht miteinander

Wie viel Empathie kann man für eine völlig fremde Person aufbringen? Wie viel Verständnis für andere politische Haltungen? Und was passiert, wenn sich zwei Menschen zum ersten Mal begegnen und in einem persönlichen Gespräch über die großen politischen Fragen unserer Zeit diskutieren? Fotos: Ingun Alette Mæhlum für Zeit Online (l.) /​ Sam Vox für Die Zeit

Zeit Online hat zusammen mit 15 Medienpartnern weltweit ein Format aufgesetzt, bei dem Menschen mit unterschiedlichen politischen Meinungen ins Gespräch kommen. 5.000 Interessierte haben sich beworben. Wie kann das funktionieren? Ein Werkstattbericht von Zeit-Projektleiterin Hanna Israel.

08.08.2023

Wie kann es gelingen, Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven und Meinungen aus möglichst vielen Ländern der Erde zu persönlichen Gesprächen über die großen Fragen unserer Zeit zusammenzubringen?

Dieser Gedanke trieb uns um, als wir das Projekt The World Talks starteten. Ende Juni hat Zeit Online in Kooperation mit 15 Medienpartnern Tausende Menschen aus 116 Ländern in Vieraugengespräche vermittelt. Über alle Kontinente hinweg. Menschen aus Afghanistan, Kolumbien, Tadschikistan und dem Südsudan. Menschen, die nicht nur Tausende Kilometer trennen, sondern auch andere Erfahrungen, Lebensrealitäten und Werte.

Über 5.000 Leserinnen und Leser haben bei The World Talks mitgemacht. Sie alle haben bei der Anmeldung politische Ja-Nein-Fragen beantwortet. Für rund 3.000 der Teilnehmenden haben wir anschließend mithilfe eines Matching-Algorithmus einen Gesprächspartner oder eine Gesprächspartnerin aus einem anderen Land gefunden, die mindestens 2.000 Kilometer entfernt lebt und in möglichst vielen der Fragen anderer Meinung ist.

Uns als Redaktion hat interessiert, was diese Menschen verbindet. Was trennt sie? Wie viel Empathie kann man für eine völlig fremde Person aufbringen? Wie viel Verständnis für andere politische Haltungen? Und was passiert, wenn sich zwei Menschen zum ersten Mal begegnen und in einem persönlichen Gespräch über die großen politischen Fragen unserer Zeit diskutieren?

Eindrücklich beschrieben haben das Moritz Aisslinger und Anaïs Kaluza in ihrem Zeit-Dossier über Junaice und Janicke, deren Lebenswelten unterschiedlicher nicht sein könnten. Janicke leitet in Norwegen eine Gruppe von Heimatmuseen, Junaice arbeitet in Tansania in der Tourismusbranche. Janicke hat schon als Kind mit ihren Eltern in verschiedenen Ländern gelebt. Junaice hat Tansania zum ersten Mal mit 23 Jahren verlassen, als Erste in ihrer Familie.

Eine weitere Begegnung fand zwischen Anas und Veta statt. Anas ist Palästinenser, seine Eltern lebten jahrelang in einem Flüchtlingscamp in Jordanien. Heute wohnt er mit seiner Familie in Katar und arbeitet für eine NGO. Veta, 29 Jahre alt, ist Russin und als Englischlehrerin in Ägypten tätig. Sie ist wegen des Ukraine-Kriegs aus Russland ausgewandert.

Bis heute gibt es keine echte globale Öffentlichkeit. Debatten finden immer noch überwiegend auf nationaler Ebene statt. Eigentlich seltsam, stehen wir doch weltweit vor mehreren gemeinsamen Herausforderungen: Klimaschutz, Migration und globale Gerechtigkeit, um nur drei Beispiele zu nennen.

Die Idee, einander unbekannte Menschen zu politischen Vieraugengesprächen zusammenzubringen, hatten wir erstmals vor der Bundestagswahl 2017. Westliche Gesellschaften schienen damals besonders gespalten, auch die deutsche. Wir fragten uns in der Redaktion von Zeit Online: Sprechen wir eigentlich noch genug mit Menschen, die politisch anderer Meinung sind? So entstand die Idee eines „politischen Tinders“.

Was als Experiment begann, wurde zu einem unerwarteten Erfolg. Auf das erste Deutschland spricht folgten ähnliche Dialogaktionen in mehreren europäischen Ländern. Zu Europe Talks, das wir mit einem Netzwerk europäischer Medien bereits dreimal umgesetzt haben, meldeten sich insgesamt mehr als 60.000 Menschen an. Parallel gründeten wir die gemeinnützige Plattform My Country Talks, über die sich bis heute bei Formaten wie America Talks oder Thailand Talks 250.000 Menschen für ein politisches Streitgespräch angemeldet haben.

Schon länger beschäftigte uns die Frage, ob unser Dialogformat nicht auch auf globaler Ebene funktionieren kann. Bis heute gibt es keine echte globale Öffentlichkeit. Debatten finden immer noch überwiegend auf nationaler Ebene statt. Eigentlich seltsam, stehen wir doch weltweit vor mehreren gemeinsamen Herausforderungen: Klimaschutz, Migration und globale Gerechtigkeit, um nur drei Beispiele zu nennen.

Mit The World Talks wollten wir einen Raum für diese Debatten schaffen. Um weltweite Gespräche zu ermöglichen, haben wir uns vor einem Jahr auf die Suche nach internationalen Medienpartnern aus möglichst allen Kontinenten der Welt gemacht. Alle sollten ihren Leserinnen und Lesern die gleichen politischen Ja/Nein-Fragen stellen und sie bitten, noch ein paar Sätze über ihre Biographie und ihr Leben zu schreiben.

Daraus ist ein Mediennetzwerk mit Partnern aus 15 Ländern entstanden: News24 aus Südafrika, El Tiempo aus Kolumbien, Organización Editorial Mexicana aus Mexiko, NV aus der Ukraine, das Exilmedium Meduza aus Russland, The Mirror aus Großbritannien, The Caravan aus Indien, Pulse aus Ghana, Red/acciòn aus Argentinien, Hankyoreh aus Südkorea, Workpoint Today aus Thailand, The New Humanitarian aus der Schweiz, The Green Line aus Kanada, der Gedi Gruppo Editoriale aus Italien und Unbias The News aus Deutschland.

Gemeinsam mit den Redaktionen dieser Nachrichtenseiten haben wir dann Fragen entwickelt, von denen wir angenommen haben, dass sie auf der ganzen Welt funktionieren: Sollte Klimaschutz immer Priorität haben, auch wenn Bürgerinnen und Bürger dafür Opfer bringen müssen? Sollten alle Länder der Welt Geflüchtete aufnehmen? Sollten alle Länder Sanktionen gegen Russland erheben? Oder auch: Ist die Welt heute ein besserer Ort als noch vor 20 Jahren?

Die kontroverseste Frage von The World Talks war: Leben ältere Generationen auf Kosten der Jüngeren? 46 Prozent bejahten diese Frage, 54 Prozent verneinten sie.

Die Antworten der 5.000 Teilnehmenden, die sich während der sechswöchigen Anmeldephase registrierten, sind natürlich nicht repräsentativ für die politischen Ansichten der verschiedenen Regionen dieser Welt. Dafür war die Anzahl der Anmeldungen insgesamt zu gering. Trotzdem helfen die Antworten dabei, neue Perspektiven auf Debatten zu gewinnen.

Die kontroverseste Frage von The World Talks war: Leben ältere Generationen auf Kosten der Jüngeren? 46 Prozent bejahten diese Frage, 54 Prozent verneinten sie. Uneinigkeit gab es auch bei der Frage, ob die Welt heute ein besserer Ort ist als vor 20 Jahren. 42 Prozent der Teilnehmenden stimmten hier zu, 58 Prozent antworteten mit Nein.

Am 25. Juni kamen alle Menschen, die dem Treffen mit ihrem Gegenüber zugestimmt hatten, zu einem Videocall mit ihrem Gesprächspartner zusammen. Vor ihrem Gespräch haben sie von uns einen Leitfaden erhalten, wie man ein konstruktives Gespräch führen kann: Es geht nicht darum, das Gespräch zu „gewinnen“, sondern eine neue Perspektive vom Gegenüber vermittelt zu bekommen. Die Grundregeln eines guten Gesprächs sind: Zuhören, Nachfragen oder die Sätze des Gegenübers paraphrasieren, um sicherzugehen, dass man sich nicht falsch versteht.

Wir hoffen, dass das persönliche Gespräch bei den vielen Teilnehmenden von The World Talks dazu geführt hat, dass sie einander ein wenig näher gekommen sind. Viele Teilnehmende haben sich über mehrere Stunden mit ihrem Gesprächspartner oder ihrer Gesprächspartnerin ausgetauscht. Eine Teilnehmerin aus Südafrika hat durch ihr Eins-zu-eins-Gespräch „eine völlig neue Art zu denken“ kennengelernt und mit ihrem Gegenüber aus der Türkei auch viel Persönliches ausgetauscht. Zum Beispiel, wie sie mit ihren Kindern umgehen und welche kulturellen Unterschiede dabei eine Rolle spielen.

Wie geht es nun weiter, nach The World Talks? Wir haben den Eindruck, dass der Gesprächsbedarf zwischen verschiedenen politischen Lagern gerade in Deutschland wieder wächst. Wir möchten uns deswegen stärker regionalen Gesprächsformaten widmen. In den vergangenen Jahren haben wir bereits Dialogaktionen in mehreren deutschen Städten umgesetzt, wie zum Beispiel in Marburg, Halle, Chemnitz oder aktuell in Konstanz und der Oberlausitz. Auch hier hat sich gezeigt, wie wertvoll es sein kann, wenn einander in jeder Hinsicht fremde Menschen miteinander ins Gespräch kommen.

Hanna Israel ist Projektleiterin der internationalen Plattform My Country Talks von Zeit Online. Zuvor war sie Redakteurin bei Anne Will und gründete das Onlinemagazin InPerspective.

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