Das große Beben

Im August verbrachte der Fotograf Ingmar Nolting zwei Wochen im Landkreis Görlitz, um die politische Stimmung vor der Sachsen-Wahl einzufangen. Als er eine Montagsdemo begleitete, wurde er selbst zum Fotomotiv. Ein Teilnehmer hielt die Linse seines Smartphones in Richtung Nolting. In Sachsen sind solche Drohungen bei Demonstrationen Alltag.

In Thüringen ist die AfD unter Björn Höcke mit Abstand stärkste Kraft geworden. Auch in Sachsen wählte fast ein Drittel die rechtsextreme Partei. Redaktionen in ganz Deutschland ringen um den richtigen Umgang – zumal sie immer weniger Zeit und Personal zur Verfügung haben. Wichtige Ost-Themen bleiben liegen. Was läuft schief – und welche Debatten sind jetzt sinnvoll? Text: Michael Kraske. Foto: Ingmar Nolting

26.09.2024

In den Wochen vor dem politischen Beben herrscht im deutschen Osten eine trügerische Ruhe. Noch hat Höcke in Thüringen nicht triumphiert. Die drei Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg sind erst in einigen Wochen und das Nachrichtengeschäft ist im Sommer-Modus. Die Mitteldeutsche Zeitung verkündet einen weiteren Hitzerekord: „35,2 Grad – Köthen war am Sonntag der heißeste Ort im Land“. Noch überlagern Olympia, der Gegenangriff der Ukraine auf russisches Territorium und Kamala Harris in der Nachrichtenlage den beginnenden Wahlkampf. In Sachsen und Thüringen gilt die AfD dem Verfassungsschutz nach als gesichert rechtsextremistisch. Die Partei ist im Osten nicht trotz, sondern wegen Höcke zur völkischen Volkspartei aufgestiegen. Einem Politiker, der gerichtsfest als Faschist bezeichnet werden kann. Und die demokratischen Parteien? Agieren zwischen Ratlosigkeit und Panikmodus. Unterdessen tasten sich die Medien unsicher durch den Osten.

Die Suche nach der ostdeutschen Wut ist mittlerweile zu einem eigenen Genre geworden. Noch immer kultivieren überregionale Redaktionen die ratlose Safari-Perspektive des Reporters, der für einige Tage in den Osten reist, um staunend die Spur von AfD-Anhängern und Wutbürgern aufzunehmen. Wie in der Reportage von Jochen Buchsteiner in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Auf der Seite drei breitet der Autor Stimmen von Leuten „mit Sportsocken in den Sandalen“ auf dem Marktplatz im sächsischen Wurzen aus, die eine Nähe zu Pegida bekunden und Sätze sagen wie: „Wir sind hier alle ungeimpft und gegen die Regierung in Berlin.“ In Görlitz trifft der Reporter den dortigen AfD-Kandidaten Sebastian Wippel, einen Polizisten, der seine gesichert rechtsextreme sächsische AfD erwartbar als „wahre Rechtsstaatspartei“ bezeichnen darf, bevor eine Frau an dessen Wahlkampfstand die Titelzeile für die Reportage liefert: „Es muss sich etwas ändern.“ Ihre Begründung: Die anderen Parteien täten nichts gegen Zuwanderung aus muslimischen Ländern.

Der Reporter teilt mit der Leserschaft seine Ratlosigkeit: „Wer aus Berlin kommt, wundert sich ein bisschen über die Emotionen.“ Das Problem an diesem Blick auf den Osten ist nicht die staunende Haltung wie bei einem Zoo-Besuch, sondern die demonstrative Naivität. So als müsse man journalistisch bei null beginnen – ohne auf die gesicherten Erkenntnisse langjähriger Recherchen, Studien und Expertisen vor Ort zurückzugreifen. Man würde auf die demographische Krise stoßen, auf einen Teufelskreis aus Überalterung, Landflucht der gut Ausgebildeten, Ärzte- und Vorsorgemangel, Niedriglöhne sowie damit verbundene Anfälligkeiten für autoritäre Scheinlösungen. Auch nach Jahren gesellschaftlicher Radikalisierung gerät die mediale Ursachenforschung stattdessen zur Kaffeesatzleserei.

„Beim Versuch, deren ostdeutsche Wählerschaft zu schonen, gehen die Medien der AfD inhaltlich auf den Leim.“

Regionalzeitungen und öffentlich-rechtliche Sender sind im Osten näher dran. Sie müssen den schwierigen Balanceakt meistern, ihre Region in der ganzen kulturellen, wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Vielfalt abzubilden. Sie müssen über die neue Chipfabrik in Dresden berichten und „warum vor allem Sachsen ausländische Arbeitskräfte braucht“ (Titelzeile Freie Presse), damit in Kliniken, Altersheimen und Betrieben nicht die Lichter ausgehen. Darüber hinaus müssen die Redaktionen demokratische Kipppunkte ausleuchten. Das klappt mal gut, mal gar nicht. Immer wieder gelingt herausragender Journalismus. Wie im Fall des Reports von Anne Lena Mösken über den Suizid des langjährigen Bürgermeisters von Großschirma, Volkmar Schreiter, in der Chemnitzer Freien Presse: „Ein Leben für Großschirma“. Darin rekonstruiert die Autorin, wie der verstorbene Kommunalpolitiker in dem kleinen sächsischen Ort zunehmend unter Druck geriet, wie er in den sozialen Medien verhöhnt wurde, bis er resignierte – und welche Rolle die erstarkende AfD dabei spielte. Der Report hat eine Recherchetiefe, die nur mit großem Aufwand zu erreichen ist. Das Ergebnis ist ebenso berührend wie beunruhigend.

Doch es war auch die Freie Presse, die über das Treffen von Moped-Fans der DDR-Kultmarke Simson in Zwickau im Juli in der Printausgabe zunächst nur mit einem Foto plus kurzer Meldung berichtete: „So feiert die Automobilregion Zwickau“. Nämlich mit „reichlich Partystimmung und Musik“. Dass die Öffentlichkeit überhaupt erfuhr, was sich auf dem Festivalgelände abspielte, ist der MDR-Reportage des freien Journalisten Lukas Schliepkorte zu verdanken. Der Reporter schildert darin seine Beobachtungen: Weniger als drei Minuten nach seiner Ankunft habe er auf einem nackten Männerrücken einen mit Edding verfassten Schriftzug entdeckt: „Alle Schwarzen sollen hängen!“ Ein Foto belegt den Mordaufruf. Schliepkorte war vor Ort, weil schon beim Treffen im Vorjahr „Sieg Heil“- Rufe ertönten. Auch in diesem Jahr dokumentierte der Reporter Straftaten: So fotografierte er zwei Männer, die sitzend den „Hitler-Gruß“ zeigen. Am Abend habe dann eine Gruppe von etwa 200 Menschen im Kreis um ein Feuer gestanden. Viele davon grölten ihm zufolge die rechtsextremistische Parole: „Deutschland den Deutschen – Ausländer raus!“ Schliepkorte musste seine Reportage aus Sicherheitsgründen abbrechen, weil er bedroht wurde, als er versuchte, einen Mann mit einem T-Shirt der als kriminelle Vereinigung verbotenen Neonazi-Band Landser zu filmen.

Rechtsextremismus hat sich in Sachsen und Thüringen vielerorts in den Alltag gefressen. Die Redaktionen kommen kaum nach, die Radikalisierung abzubilden und müssen ein Maß zwischen Themenvielfalt und Skandalisierung finden. Dabei werden die Arbeitsbedingungen immer schwieriger.

Franziska Klemenz hat als Reporterin für die Sächsische Zeitung geschrieben, bevor sie Redakteurin bei Table Media wurde. In einem Podcast hat sie von kritischen Situationen bei Demos berichtet, wo keine Polizei zur Stelle war. Sie hat von Flaschenwürfen in ihre Richtung erzählt und wie ein Helfer sie mit Reizgas aus einer Bedrohungslage gerettet hat – „Sonst hätten wir auf die Fresse gekriegt.“ Am Rande einer Pegida-Kundgebung mit AfD-Politiker Björn Höcke habe ein Ordner derart heftig an ihrem Schal gerissen, dass sie noch am nächsten Tag rote Striemen am Hals hatte. „Der hat mich gewürgt. Da hat mich eine Journalisten-Kollegin rausgerettet“, so Klemenz in dem Podcast. Sachsen liegt bei pressefeindlichen Angriffen seit Jahren vorn. Seit Pegida die Parole „Lügenpresse“ populär gemacht hat, sind die Hemmschwellen permanent weiter gesunken.

Parallel dazu sind Redaktionen aufgrund von Sparzwängen zusammengeschrumpft. Auch das hat Klemenz eindrucksvoll beschrieben. Sie erinnert sich, dass Kolleginnen bei der Sächsischen Zeitung im Lokalen ganze Seiten im Alleingang stemmen mussten – mit Aufmacher, Keller-Artikel und Meldungen. Der ehemalige Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen, Sergej Lochthofen, nannte als Grund für seinen Ausstieg in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk immer neue Sparvorgaben. Die Krise des Journalismus spitzt sich ausgerechnet im Osten gefährlich zu.

Investigativer Journalismus im Osten schrumpft – ausgerechnet jetzt

Anfang des Jahres hat der journalist über die drastischen Sparpläne beim MDR berichtet. Die sahen auch vor, die Anzahl der politischen Magazine ab dem kommenden Jahr zu halbieren. Ausgerechnet der investigative Journalismus sollte drastisch beschnitten werden. Unterdessen hat die AfD die Kündigung der Medienstaatsverträge im Falle der Machtübernahme angekündigt – das ist nichts weniger als ein Angriff auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Rechte Protestmilieus verbreiten auf Telegram und WhatsApp permanent Verschwörungserzählungen, russische Propaganda und Fake News. An vielen Kiosken und Tankstellen kann man zwar das zwischenzeitlich verbotene rechtsextreme Compact-Magazin kaufen, nicht aber Spiegel oder Zeit. Der Journalismus ist im Osten auf dem Rückzug.

Aufwendig recherchierte, faktenbasierte Aufklärung ist wichtiger denn je. Doch auf den MDR-Skandal folgte die nächste Hiobsbotschaft. Der Verlag Madsack gab die Fusion von Leipziger Volkszeitung mit der Sächsischen Zeitung bekannt. „Wir bündeln publizistisch in dem für Madsack so wichtigen Bundesland Sachsen unsere Kräfte“, so CEO Thomas Düffert. Der Manager ergänzte in bestem Business-Sprech, die großen Chancen der zunehmend digitalen Welt „engagiert nutzen“ zu wollen. Beide Marken sollen erhalten bleiben, Hannah Suppa für die LVZ und Annette Binninger für die Sächsische weiterhin als Chefredakteurinnen. Eine Gemeinschaftsredaktion mit 170 Journalist*innen aus beiden Häusern soll künftig für Landespolitik, regionale Wirtschaft, Investigatives und Reportage zuständig sein. Aber: 30 Stellen fallen weg. Vorerst. Der DJV Sachsen vermeldete bereits, dass darüber hinaus offenbar weitere Jobs gestrichen werden sollen. Die blinden Flecken in der Berichterstattung werden absehbar größer.

„An vielen Kiosken und Tankstellen kann man zwar das zwischenzeitlich verbotene rechtsextreme Compact-Magazin kaufen, nicht aber Spiegel oder Zeit.“

„Die Verknappung von Recherchen gerade in dieser Lage macht mir Angst“, sagt die freie Journalistin Doreen Reinhard, die auch für Zeit Online arbeitet. „Der Druck auf Journalistinnen und Journalisten nimmt in der Praxis immer weiter zu.“ Neben knapperen Ressourcen setzen auch ihr radikalisierte Bürger permanent zu. „Die Montags-Demos in Sachsen sind wie Pegida-Filialen, wo einem immer wieder krasse Aggressivität entgegenschlägt.“ Zwar finde sie immer noch Gesprächspartner. Doch die giftige Lügenpresse-Schmähung hat sich seit den Anfängen von Pegida zum Flächenbrand
entwickelt.

Doreen Reinhard beobachtet, wie skandalträchtige Ereignisse inzwischen so schnell aufeinander folgen, dass die Presse kaum hinterherkommt. Darum dokumentiert sie Drohungen und rechte Raumgewinne auf der Plattform X: „Das ist eine Möglichkeit, die Öffentlichkeit zu informieren, weil die Infos es sonst kaum noch in die Medien schaffen.“ Im Fall der aggressiven Neonazi-Proteste gegen den Christopher Street Day in Bautzen war das anders. Die orchestrierte Aktion junger Neonazis gegen die Teilnehmenden des CSD war sogar der Tagesschau eine Nachricht wert. Doreen Reinhard war an jenem Tag dabei. „Was in Bautzen beim CSD passiert ist, betrachte ich als Zäsur. Die harte Neonazi-Szene hat dazu massiv mobilisiert“. Darunter Junge Nationalisten, der Nachwuchs der ehemaligen NPD, die sich jetzt Die Heimat nennt, sowie Kader vom III. Weg. „Hunderte Neonazis haben über Stunden Dominanz und Bedrohung auf den Straßen ausgeübt“, so Reinhard. „Klar wurde darüber berichtet. Aber selbst das blieb überschaubar.“

Vor Jahren hätte das noch viel größere Reaktionen ausgelöst. „Heute liegt die Latte für eine hintergründige Berichterstattung viel höher“, sagt Reinhard. Nicht nur große Teile der Gesellschaft haben sich an Rechtsextremismus gewöhnt, sondern auch die Medien. Doreen Reinhard gehört zu denen, die den Folgen nachspüren. In Reportagen zeigt sie, wie erfolgreich rechte Mobilisierung unter Jugendlichen funktioniert. Vielen Redaktionen ist es hingegen nur eine Meldung wert, wenn die AfD bei U-18-Wahlen im Osten plötzlich vorn liegt.

Regionalzeitungen berichten zu unkritisch

Im Journalismus wächst die Unsicherheit im Umgang mit der AfD, je größer sie wird. Zwar liefern Recherchen und Graswurzelarbeit immer neue Belege für demokratiefeindliche Ziele und Aktivitäten in Parlamenten, auf der Straße und im Netz. Aber auch der x-te Beleg dafür, dass Höcke & Co gemeinsame Sache mit Neonazis, Reichsbürgern und Pegida machen, wird nicht als Puzzle-Teil in ein Gesamtbild eingefügt, sondern als sensationeller Scoop verkauft. Darunter fällt auch die Correctiv-Recherche über das Geheimtreffen in Potsdam unter Beteiligung von AfD-Leuten. Immer wieder berichten Redaktionen über die AfD, als wüssten sie es nicht besser. Das gesammelte Wissen von Fachkolleginnen und Rechercheuren bleibt ungenutzt.

Ebenso wie die Faktenlage der Justiz. Das Oberverwaltungsgericht für NRW in Münster hat in einem Urteil die bundesweite Beobachtung der AfD als rechtsextremen Verdachtsfall für rechtmäßig erklärt. Es sieht konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die AfD aufgrund ihrer völkischen Ideologie Menschen mit Migrationsgeschichte nur einen rechtlich abgewerteten Status zuerkennen will. Doch dieser Angriff auf die Grundlagen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist weder in Sommerinterviews, noch im ostdeutschen Wahlkampf oder in Polit-Talks ein Thema. Stattdessen fragt Markus Lanz AfD-Chef Tino Chrupalla, ob der seinen Kollegen Höcke denn für einen Rechtsextremisten hält. (Spoiler: Natürlich nicht). Der Journalismus dreht sich im Kreis. Der Beweis für Rechtsextremismus ist tausendfach dokumentiert, egal ob AfD-Politiker das in Interviews zugeben. Entscheidend ist: die gesamte AfD trägt den völkisch-nationalistischen Kurs geschlossen mit. Das müsste der Status Quo für Journalistinnen und Journalisten sein. Eigentlich.

Stattdessen bemüht sich der Journalismus um einen normalen Umgang mit einer Partei, die nicht demokratisch ist, nur weil sie demokratisch gewählt wird. Die AfD hat es geschafft, mit dem Kampfbegriff Neutralität und dem Ruf nach Fairness eine Art vorauseilenden Gehorsam bei den Medien zu erzeugen. Im sächsischen Wahlkampf veranstalteten die drei großen Regionalzeitungen in Sachsen – Leipziger Volkszeitung, Sächsische Zeitung und Freie Presse – Wahlforen, die etwa in der LVZ auf einer Doppelseite mit etlichen Zitaten aller Spitzenkandidaten dokumentiert wurden. AfD-Spitzenkandidat Jörg Urban darf da die Putin-Nähe seiner Partei als Friedensliebe ausgeben: „Wie viele Menschen müssen noch sterben, bis es Verhandlungen gibt?“ Und wie seine demokratischen Mitbewerber darf sich Urban eine Fantasie-Schlagzeile der Zukunft ausdenken. Er nutzt das erwartbar zur Selbstverharmlosung: „Sachsen ist europaweit Spitzenreiter bei guter Regierungspolitik.“ Was soll das, LVZ?

„Der Beweis für Rechtsextremismus ist tausendfach dokumentiert. Das müsste der Status Quo für Journalistinnen und Journalisten sein. Eigentlich.“

Denn wer den AfD-Politiker bei einem Gastauftritt auf der Pegida-Bühne in Dresden beobachtet, erlebt einen ganz anderen Jörg Urban. Bei dem rechtsextremen Bündnis hat Urban Migranten als durch und durch kriminelle „Goldstücke“ verhöhnt, den ungarischen Autokraten Viktor Orbán, der in Ungarn Grundrechte und Gewaltenteilung drastisch beschnitten hat, als Vorbild gepriesen und die rechtsextreme Verschwörungsideologie vom Great Replacement verbreitet: „Wir wollen keinen Bevölkerungsaustausch.“ Der Chef des sächsischen Landesverfassungsschutzschutzes Dirk-Martin Christian begründet die Einstufung der AfD in Sachsen als gesichert extremistisch mit den Worten: „Eine derart rassistische Ausprägung des Volksbegriffs, wie ihn die AfD in Sachsen öffentlich vertritt, hat seine Wurzeln im historischen Nationalsozialismus.“ Im Tagesgeschäft der Redaktionen vor den Wahlen bleibt dieser extremistische Kern der AfD bestenfalls unscharf.

Während die Medien nicht müde werden, den Motiven der AfD-Wählerschaft nachzuspüren, werden die brutalen Folgen der Dauerradikalisierung dramatisch unterberichtet. Beratungsstellen für die Opfer rechter Gewalt wie ezra in Thüringen warnen vor einem „Brandstiftereffekt“. So vervielfachten sich im Kreis Sonneberg nach der Wahl von Robert Sesselmann zum ersten AfD-Landrat die rechten Gewalttaten. Ezra-Projektleiter Franz Zobel warnt, in Sonneberg werde sichtbar, dass rechte Gewalt dort zunehme, wo Täter eine „breite Unterstützung in der Bevölkerung erkennen“. Diese Gefahr blendet der mediale Diskurs weitgehend aus.

Zivilgesellschaftliche Akteure wie Zobel kommen kaum zu Wort. Obwohl sie überall im Osten von Rostock bis Bautzen mit Kultur, Projekten und Initiativen für eine moderne Gesellschaft einstehen und dafür angefeindet, bedroht und angegriffen werden. Populär sind vielmehr die immergleichen Stimmen mit einer Botschaft, die in etwa lautet: Alles halb so schlimm. Allen voran Martin Machowecz, stellvertretender Chefredakteur der Zeit. Er wird nicht müde, bei Markus Lanz, Hart aber Fair oder Maischberger zu behaupten, der Großteil der AfD-Wählerschaft sei nicht rechtsextrem, sondern wolle nur Lösungen für Probleme.

Zur Erinnerung: Auch die NSDAP wurde nicht nur von glühenden Nationalsozialisten gewählt, sondern von „normalen“ Bürgern. Doch wer Rechtsextremisten wählt, will sie ermächtigen. AfD-Wähler sind studienbelegt deutlich rechtsextremer als andere. Die AfD wird nicht trotz, sondern wegen ihrer Radikalität gewählt. Die politischen Talkshows setzen lieber auf einen ostidentitären Beschützerinstinkt als auf Fakten.

Um die Faktenlage noch einmal zu untermauern: Einer Studie der Universität Leipzig zufolge wünscht sich ein Drittel im Osten einen starken Führer, etwa die Hälfte eine einzige Partei zum Wohle einer „Volksgemeinschaft“, wie das Gesellschaftsmodell im Nationalsozialismus hieß. Beim letzten Sachsen-Monitor, der politische Einstellungen im Land misst, hielten 64 Prozent das Land durch angeblich viele Ausländer für gefährlich „überfremdet“. „Überfremdung“ ist eine Verschwörungserzählung, deren rassistische Bedeutung die Nazis in den Duden schrieben.

Wer über Einstellungsmuster und Kontinuitäten von DDR-Zeiten über Post-89-Traumata bis heute schweigen will, kann den großen Zuspruch für AfD-Erzählungen und Wagenknechts autoritäre Verheißungen (Wahlslogans: „Wir geben Frieden/Wir geben Heimat“) im Osten nicht erklären. Dies offenzulegen ist kein „Ost-Bashing“, sondern journalistische Pflicht, weil es zeigt: Das Problem sitzt viel tiefer als der Frust über die Ampel.

Nicht der Journalismus setzt die Themen, sondern die AfD

Was ebenfalls zu kurz kommt, ist die Berichterstattung über den demokratischen, kreativen und vielfältigen Osten, den es selbst in rechten Hotspots gibt. Die Best-Practice-Geschichten aus Kultur und Wirtschaft mit Start-Ups, die händeringend neues Personal suchen. Wie jener IT-Chef, der bei einer Podiumsdiskussion im sächsischen Hohenstein-Ernstthal ein flammendes Plädoyer für eine Willkommenskultur hält. Der Arbeitgeber beschäftigt in seinem expandierenden Unternehmen Fachkräfte aus vielen verschiedenen Nationen. Gern würde er noch mehr Talente ins Erzgebirge holen. Nur könne er das nicht guten Gewissens tun, sagt er. Das Wort Rassismus verwendet er nicht, aber alle im Saal wissen, was gemeint ist. Also arbeiten seine Beschäftigten an anderen Standorten. Das politische Klima ist längst ein gravierender Standortnachteil für den Osten. Bei dieser Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung über „gesellschaftlichen Zusammenhalt in krisenhaften Zeiten“ ist übrigens kein Lokalreporter vor Ort.

„Was dramatisch zu kurz kommt, ist die Berichterstattung über den demokratischen, kreativen und vielfältigen Osten, den es selbst in rechten Hotspots gibt.“

Und nun zurück zu den überregionalen Medien. Die Strategie, AfD-Politiker wie Chrupalla auf öffentlich-rechtlichen Meinungsbühnen zu konfrontieren, geht ständig nach hinten los. Drei Tage nach den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen geht der Versuch von Markus Lanz erwartbar schief, Chrupalla zu stellen. Wie so oft werden dem AfD-Chef in der Runde einzelne Aussagen vorgehalten. Auf die Relativierung der massenmordenden SS durch Parteifreund Maximilian Krah setzt Chrupalla sogar noch einen drauf: Für ihn ist nicht jeder, der in der NSDAP war, automatisch ein Nazi. Und was seine eigene Partei angeht: „Schwarze Schafe gibt es überall.“

Keiner in der Runde verfügt offenbar über das Wissen oder den Willen, den AfD-Chef mit rechtsextremistischer Ideologie, Zielen und Netzwerken, extremistischen Mitarbeitern und Mandatsträgern der Partei sowie den Verbindungen zum Rechtsterror zu konfrontieren. Stattdessen fragt Lanz seinen Gast, immerhin Mitglied in einem erwiesen rechtsextremen AfD-Landesverband, nach einem Bündnis mit der CDU in Sachsen: „Können Sie sich das vorstellen?“ Als sei das relevant. Die Sendung ist ein journalistischer Offenbarungseid, der schon bald von Jan Fleischhauers launiger Geschichtsvergessenheit in dessen Focus-Kolumne übertroffen wird: „Lasst Höcke doch Ministerpräsident sein! Dann ist aber Schluss mit Geld aus dem Westen.“ Er ist zurück: Der abschätzige Blick auf den Osten aus dem publizistischen Elfenbeinturm.

Nach dem mörderischen Attentat von Solingen haben die Medien voll auf Migration und Abschiebung umgeschaltet. Auch nach den Wahlen in Thüringen und Sachsen, die das bisherige Parteiensystem im Osten kollabieren ließen, hat das Thema weiter alles überlagert. Mit Ausnahme von Sahra Wagenknecht, die nun medial hofiert wird. Inklusive Ikonisierung auf dem Spiegel-Titel. Kommentatoren suggerieren, ähnlich wie das BSW sei auch die AfD einfach nur nah am ostdeutschen Wählerwillen. Das verkennt, wer die AfD ist und was sie will. Zum Beispiel die Nähe zum Putin-Regime. Beim Versuch, deren ostdeutsche Wählerschaft zu schonen, gehen die Medien der Partei inhaltlich auf den Leim. Der Soziologe Matthias Quent stellt fest, die AfD habe viele Menschen mit Angst-Szenarien rund um Themen wie Sicherheit, Migration und Kriminalität radikalisiert.

Ähnlich wie die Politik agiert der Journalismus zunehmend als Getriebener. In den Medien läuft als Endlosschleife: abschieben, abschieben, abschieben. Warum wird trotz erdrückender Beweislage nicht über ein Verbotsverfahren gegen die AfD diskutiert? Man kann das aus guten Gründen ablehnen, aber dem Publikum das Pro und Contra vorzuenthalten, ist ein kollektives Versagen des Journalismus.

Auffällig ist auch, dass die sozialen Missstände in Ostdeutschland weiterhin kein Thema sind: die eklatanten Lohnunterschiede zum Westen, Niedriglöhne, Versäumnisse in der politischen Bildung, branchenübergreifender Fachkräftemangel. Die ultimative Ost-West-Debatte war vielmehr jene um das Buch des Leipziger Literaturwissenschaftlers Dirk Oschmann mit dem provokanten Titel: „Der Osten, eine westdeutsche Erfindung“. Alle großen Feuilletons und TV-Sender diskutieren diesen publizistischen Wutausbruch bis heute rauf und runter. Doch der Bestseller ist Ausdruck einer persönlichen Kränkung und polemische Abrechnung mit dem Westen, wo angeblich alle glauben, dass die Ostdeutschen in Platten wohnen, sächsisch sprechen und Nazis seien. Der ostdeutsche Mann wird von Oschmann zur bedrohten Spezies erklärt – so lange vom Westen verhöhnt, bis er schließlich der Rechte wurde, den der Westen aus ihm gemacht hat. Oschmanns Thesen degradieren Ostdeutsche zu Opfern und kommen ohne Fakten aus. Aber die Redaktionen lieben die Wut und das Schwarzweiß. Der Effekt ist, dass wieder nicht differenziert und lösungsorientiert berichtet wird.

Kurz vor den Wahlen in Sachsen und Thüringen hat das ZDF-Kulturmagazin Aspekte die Dauerdebatte über das „neue Ostbewusstsein“ und jungen „Oststolz“ wieder aufgewärmt, natürlich mit Oschmann. Viel Gefühl, wenig Substanz. Zwei Tage später wird die AfD von Höcke in Thüringen mit Abstand stärkste politische Kraft. Sie kann mit ihrer Sperrminorität nun die Ernennung neuer Richterinnen und Richter blockieren, kann kleine Staatskrisen herbeieskalieren. Und der Höcke, der auf der Straße Seite an Seite mit Neonazis und Reichsbürgern marschiert, wird am Wahlabend bei ARD und ZDF gefragt, wie es denn jetzt weitergehen soll.

Michael Kraske arbeitet als freier Journalist und Buchautor ("Angriff auf Deutschland") in Leipzig. Seit mehr als 20 Jahren berichtet er über Ostdeutschland.