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"Gäbe es mehr Inklusion in den Medien, hätten wir alle was davon", sagt Nikolai Prodöhl. (Foto: Stefan Fürthbauer)
Für Menschen mit Behinderung ist der Zugang zum Journalismus schwer. Unser Autor Nikolai Prodöhl hat selbst eine Behinderung. Er erzählt hier, welche Steine Menschen mit Behinderungen in den Weg gelegt werden. Text: Nikolai Prodöhl, unterstützt von Lisa Kreutzer (Redaktion andererseits)
02.01.2023
Mein Name ist Nikolai Prodöhl, ich bin 33 Jahre alt, und ich wohne in Hamburg. Seit 14 Jahren arbeite ich in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen. Meine Aufgaben in der Gärtnerei sind die Ernte von Gemüse, das Pflanzen und das Gießen. Aber eigentlich möchte ich als Journalist arbeiten. Nur einen Job in den Medien finde ich nicht. Denn die sind auf Menschen wie mich, mit einer Lern- und Sprachbehinderung, nicht eingestellt. Ich glaube aber: Gäbe es mehr Menschen mit Behinderungen in den Medien, hätten wir alle etwas davon.
Mit zwölf Jahren war mein Traumberuf Radiomoderator und Sportreporter. Ich habe damals noch auf Kassetten gesprochen. Ich habe mir Fußballspiele ausgedacht und aufgenommen. Weil ich es gut fand zu sprechen, habe ich damals gedacht, ich könnte Moderator zu meinem Beruf machen. Die Meinung meiner Eltern war aber, dass ich das nicht kann. Wegen meiner Sprachbeeinträchtigung. Ich habe aber trotzdem weiter auf Kassette gesprochen. Meistens Fußball-Kommentare.
Mit 24 Jahren habe ich herausgefunden, dass es ein Bürgerradio in Hamburg gibt. Bei Tide Hamburg habe ich in der Akademie gelernt, wie man eine Sendung produziert und schneidet sowie Interviews führt. Außerdem moderiere ich dort eine eigene Sendung. Die heißt: Wohnen und Arbeiten – Menschen mit Handicaps. Heute mache ich die Sendung mit meinem Freund Ing Han zusammen. Mit ihm spreche ich über Inklusion und Teilhabe und auch über Behindertensport wie die Special Olympics und Paralympics. Für meine Sportberichterstattung war ich schon einmal für den deutschen Radiopreis nominiert. Die Arbeit bei Tide mache ich ehrenamtlich, neben meiner Arbeit in der Gärtnerei.
"Manche Menschen mit Behinderungen arbeiten in Medienhäusern, aber fast niemand arbeitet dort in Redaktionen, fast niemand recherchiert oder schreibt."
Ich war auf der Suche nach einem echten Job im Journalismus und einem Job auf dem ersten Arbeitsmarkt. Ich habe Praktika gemacht, im Hörfunk und im Fernsehen. Im Hörfunk habe ich kurze Audio-Beiträge für die Homepage geschnitten und im Fernsehen habe ich über Autor:innen und Künstler:innen recherchiert. Aber nach den Praktika haben sie mir gesagt, dass sie mir keine Arbeitsstelle geben können. Ich möchte aber einen echten Job im Journalismus, ich finde es wichtig, dass Menschen mit Behinderungen als Journalist*innen arbeiten. Damit wir auch zu Wort kommen. Und dass man auch unsere Blickwinkel sieht.
Das Problem ist: Es gibt hohe Voraussetzungen für Praktika und Stellen in den Medien. Ich habe den Eindruck, dass dort nur Menschen angestellt werden, die Abitur und ein Studium haben. Aber ich habe gar kein Abitur, sondern nur einen Förderschulabschluss. Ich bin zwölf Jahre auf eine Förderschule gegangen, weil mir das Lernen und Schreiben schwerer fällt und weil ich langsamer bin als Menschen ohne Behinderungen. Menschen mit einer geistigen Behinderung haben keinen Zugang zu einem höheren Abschluss. Die meisten von uns besuchen eine Förder- oder Sonderschule. Laut Statista besuchten in den Jahren 2021/2022 mehr als 300.000 Schüler*innen eine Förderschule. Die Kinder machen dort einen Förderschulabschluss. Niemand macht Abitur. Viele kommen danach direkt auf den zweiten Arbeitsmarkt – also so wie ich in eine Werkstatt.
Ich habe recherchiert, wie große deutsche Medien mit Menschen mit Behinderungen arbeiten. Und ich habe auch nachgefragt, welche Möglichkeiten Menschen mit Behinderungen haben. Angefragt habe ich den Spiegel, die taz, das Hamburger Abendblatt und den Norddeutschen Rundfunk. Gemeldet haben sich bei mir der Spiegel und die taz. Beim Spiegel haben sie mir gesagt, die Spiegel-Gruppe sei offen für Menschen mit unterschiedlichen Bildungsbiografien. Formale Kriterien wie Abschlüsse spielen im Bewerbungsprozess weniger eine Rolle. Ich glaube, das stimmt so nicht. Ich habe mir die Ausschreibungen angesehen. Sogar für Praktika steht in den Stellenausschreibungen, dass sie Studierende oder Journalistenschüler:innen suchen. Ich frage mich, warum es darin steht, wenn es dann im Bewerbungsprozess keine Rolle spielt? Und bei der taz haben sie mir geantwortet: „Um ein Praktikum direkt bei der taz machen zu können, ist es aber leider aus formalen Gründen nötig, eingeschriebene Studentin oder Student zu sein oder beim Arbeitsamt eine Maßnahme mitzumachen.“ Spiegel und taz habe ich auch gefragt: Wie viele Menschen mit Behinderungen arbeiten in Ihrem Unternehmen in der redaktionellen Arbeit? Beide haben gesagt, dass sie mir keine Zahlen nennen können.
"Spiegel und taz habe ich auch gefragt: Wie viele Menschen mit Behinderungen arbeiten in Ihrem Unternehmen in der redaktionellen Arbeit? Beide haben gesagt, dass sie mir keine Zahlen nennen können."
Dabei muss jeder Betrieb mit mehr als 20 Arbeitsplätzen mindestens fünf Prozent davon mit schwerbehinderten oder ihnen gleichgestellten Arbeitnehmern besetzen. Als schwerbehindert gelten Menschen mit einem Grad der Behinderung von mindestens 50 Prozent. Dazu zähle ich auch. Manche Menschen mit Behinderungen arbeiten in Medienhäusern, aber fast niemand arbeitet dort in Redaktionen, fast niemand recherchiert oder schreibt.
Ich ärgere mich, dass ich in den deutschen Medien noch keinen richtigen Job gefunden habe. Ab und zu bin ich auch mal traurig darüber. Ich habe das Gefühl, dass viele Medien wissen, dass es eigentlich besser wäre, wenn noch mehr Perspektiven in der Redaktion wären. Aber sie sind nicht darauf eingestellt, mit jemandem wie mir zu arbeiten. Ich habe den Eindruck, dass die meisten Redaktionen nicht inklusiv sind, weil sie wenig Erfahrungen mit Menschen mit Behinderung gemacht haben. Sie wissen vielleicht nicht, wie man mit jemandem umgeht, der zum Beispiel im Rollstuhl sitzt. Oder mit jemandem, der nicht so schnell arbeitet. In der Redaktion gibt es ziemlich viel Zeitdruck. Es muss alles zack, zack gehen. Bei so viel Zeitdruck könnte ich kaum hinterherkommen mit dem Schreiben und Recherchieren. Wenn ich Druck habe, dann fühle ich mich nicht wohl. Und von zu viel Stress werde ich krank. Ich glaube, so geht es vielen Menschen auch ohne Behinderungen. Aber nicht nur der Stress ist ein Problem für mich. Es gibt auch Konkurrenzdruck. Ich brauche aber Unterstützung, und ich kann auch nicht so schnell arbeiten. Im Gegenzug bringe ich neue Perspektiven mit, die bisher fehlen. Ich glaube: Gäbe es mehr Inklusion in den Medien, also auch mehr Vielfalt bei den Journalist:innen, hätten wir alle was davon.
Aber nicht nur der Zugang für Menschen mit Behinderungen in die Redaktionen ist schwierig, sondern auch das Verstehen von Artikeln in Zeitungen und im Internet, weil es dort zu lange Sätze gibt. Journalismus sollte alle Menschen erreichen. Aber das tut er nicht. Es sind meistens schwierige Wörter enthalten, die ich nicht verstehe. Einfache Sprache ist wichtig, damit es alle verstehen, auch Menschen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Ich finde, alle sollten informiert sein. Das ist auch gut für die Demokratie, wenn alle verstehen können.
Inklusives Arbeiten
Ich habe lange nach einer Redaktion gesucht, in der Menschen mit und ohne Behinderungen arbeiten. Durch einen Artikel wurde ich auf das inklusive Medium andererseits aufmerksam. Andererseits hat das Ziel, für Menschen mit Behinderungen Arbeitsplätze im Journalismus zu schaffen und fair zu bezahlen. Ich habe angefragt, ob ich mitmachen kann. Die haben mir angeboten, dass ich beim Podcast-Team mitmachen kann, weil ich gerne Audio-Beiträge mache und Interviews führe.
Bei der Redaktion von andererseits in Wien bin ich seit über einem Jahr. Wir treffen uns alle zwei Wochen zu einer Redaktionskonferenz im Büro, und ich bin dann über Zoom aus Hamburg dabei. Wir besprechen dort unsere Schwerpunkte und Wünsche. Wir produzieren Texte, Podcasts und Social Media. Wir versuchen alles möglichst in einfacher Sprache zu schreiben, in unseren Artikeln, Newslettern und auch in unserem Podcast Sag’s einfach. Damit alle uns gut verstehen und folgen können.
Wir arbeiten immer zwei Monate an einem Schwerpunkt. Wir besprechen die Themen gemeinsam. Wenn ich an einem Schwerpunkt arbeite, schreibe ich dazu meine Erfahrungen auf sowie Fakten, die ich recherchiert habe. Ich habe Podcasts über Medienkonsum, Mut und Angst, Liebe und Sex sowie über die Umwelt gemacht. Ich habe Artikel über meinen Lohn in der Werkstatt geschrieben und über meine Erfahrung mit einer Berührerin und über inklusive Schulen. Meine Rechtschreibung und meine Formulierungen werden dort von meinen Kolleg*innen korrigiert. Zu meinen Artikeln haben meine Kolleg*innen häufig Fragen, wie zum Beispiel: „Wie fühlt sich das für dich an? Und was hat das für dich mit Unabhängigkeit und Selbstbestimmung zu tun? Warum ist das wichtig?” Bei einigen Kolleg*innen wird das aufgeschrieben, was sie sagen, weil sie nicht so gut schreiben können.
Ich freue mich, dass es eine inklusive Redaktion wie andererseits gibt. Für mich ist Inklusion im Journalismus, dass Menschen mit und ohne Behinderungen gemeinsam an Artikeln und Podcasts arbeiten und man sich bei der Recherche unterstützt.
Wir haben am Anfang ehrenamtlich gearbeitet. Aber in einem Mitbestimmungs-Treffen vor ungefähr einem Jahr haben wir gemeinsam beschlossen, dass wir Geld verdienen wollen. Wir haben ein Crowdfunding gestartet. Ungefähr 600 Menschen haben uns unterstützt und sind bei andererseits Mitglied geworden. Und dann haben wir noch eine Medienförderung bekommen. Seitdem veröffentlichen wir Beiträge in unserem Online-Magazin auf andererseits.org und verkaufen auch Abos. Bei andererseits bekomme ich jetzt Honorare für meine Beiträge.
Für mich ist andererseits eine halbe Lösung: Ich kann dort viel mehr machen als vorher, nämlich Artikel schreiben und Podcasts produzieren. Bisher hat andererseits noch nicht genug Geld, um mich in Vollzeit anzustellen, deshalb arbeite ich auf Honorarbasis. Wenn ich für andererseits Artikel schreibe und Podcasts produziere, dann habe ich aber das Problem, dass ich das Honorar nicht annehmen kann, weil ich es dem Sozialamt melden muss. Denn ich bekomme in der Werkstatt für Menschen mit Behinderungen weniger als 200 Euro Gehalt, deshalb bekomme ich dazu noch die Grundsicherung. Es wird sonst auf meine Grundsicherung angerechnet. Wenn ich 300 Euro bekommen würde, dürfte ich nur ungefähr 50 Euro behalten. Alles andere wird mit abgezogen. Weil es so wenig ist, nehme ich es gar nicht erst an. Aber mit Grundsicherung und Werkstatt-„Taschengeld“ habe ich am Ende nur ungefähr tausend Euro. Weil ich nichts dazu verdienen darf, kann ich kaum auf Urlaube sparen und mir Sachen anschaffen. Ich finde, das hat dann gar nichts mit Teilhabe und Inklusion zu tun. Es behindert mich dabei, selbstständig und unabhängig zu leben.
Für mich wäre eine Lösung das bedingungslose Grundeinkommen in den Werkstätten oder ein Mindestlohn wie für alle anderen auch. Dann wäre ich nicht mehr auf Sozialleistungen wie die Grundsicherung angewiesen. Ich könnte dann durch meine journalistischen Tätigkeiten dazuverdienen. Wie viele andere Journalist*innen könnte ich dann freiberuflich arbeiten. Ich wünsche mir mehr Anerkennung für Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft und dass wir so akzeptiert werden, wie wir sind. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung wäre Inklusion auf dem Arbeitsmarkt, so wie wir es in der Redaktion von andererseits schon machen.
Nikolai Prodöhl ist Journalist bei dem Inklusions-Medium www.andererseits.org.