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Fünf Dinge, die ich gerne früher verstanden hätte
Hakan Tanriverdi: "Wenn ich das kann, könnt ihr das auch." (Foto: Max Hofstetter/BR)
Hakan Tanriverdi ist Absolvent der Deutschen Journalistenschule. Er hat fünf Jahre für die Süddeutsche Zeitung geschrieben und war Korrespondent in New York. Aktuell ist er Reporter für Cyber- und IT-Sicherheit beim Bayerischen Rundfunk. Eine steile Karriere, die von der einigen Erkenntnissen begleitet wurde – fünf Tipps für den Nachwuchs.
05.04.2022
Vor ein paar Monaten sollte ich einen kurzen Vortrag halten. Es ging um Diversität im Investigativjournalismus. Ich hab’ keine Ahnung, was ich bei solchen Anlässen erzählen soll, ich seh’ mich nicht in der Position, um auf einer Metaebene über große Wahrheiten zu sprechen. Vieles davon ist, soweit ich das sehe, eine Frage der Perspektive.
Ein Beispiel: An der Journalistenschule habe ich von Dozent:innen öfter gehört, dass man in diesem Beruf schlecht bezahlt wird. Das habe ich anders erlebt. Das lag vor allem daran, dass ich bis Mitte 20 vierstellig im Minus war und auf Fünfer tankte. Das, was meine Dozent:innen als schlecht bezahlt bezeichnet haben, ist vermutlich richtig – aus ihrer Perspektive. Schlecht bezahlt hat für mich eine andere Bedeutung.
Ich habe mir dann überlegt, welche fünf Punkte ich gerne früher verstanden hätte. Nicht allgemeingültig, sondern meine Perspektive auf den Job als Journalist:in. Etwas, das mir auch heute noch hilft, mich zurechtzufinden.
1. Schön, dass ihr da seid!
Es gibt die Metapher vom Tisch und wer an ihm sitzen darf. Wer am Dinner teilnimmt und wer das Besteck serviert, also nur im Raum ist, um zu bedienen oder den Tisch abzuräumen. Im Endeffekt geht es darum, wer mitentscheiden darf und wer nicht. Ich finde, dass diese Metapher gut zum Journalismus passt, einem Beruf, der von großen Konferenztischen lebt. Von den Orten, an denen über Themen diskutiert wird, die "Agenda gesetzt" und wo entschieden wird, wem man eine Stimme gibt, sei es über eine Reportage oder mit einem Interview.
Und das, was wir in Zeitungen lesen, auf Webseiten wegscrollen und in Podcasts hören, das hängt davon ab, wer in diesem Raum sitzt und eine Stimme bekommt. Wenn dort nur Menschen sitzen, die über etwas reden, wird das Ergebnis anders ausfallen als wenn dort Leute sitzen, die wissen, worüber sie reden. Das ist unfair formuliert von mir, keine Frage. Ein kleiner Diss nebenbei. Ein ziemlich großer Kamm, über den ich da alle schere. Natürlich ist es ein Satz, den ich so nicht ernst meine, der aber zeigt, wie viel Macht auch in Nebensätze passt. Wie wichtig es ist, was geschrieben wird – und von wem.
Deutlich ernster meine ich diesen Satz: Wenn eine Redaktion über den Islam schreibt, und in der Redaktion ist kein einziger Muslim, dann wird diese Redaktion anders über den Islam schreiben als eine Redaktion mit Muslim. Die eine Redaktion hat den Luxus, einen anderen Blick in die Community zu bekommen, wenn sie es will. Die andere Redaktion wahrscheinlich nicht.
Natürlich ist auch das stark vereinfacht, denn es geht nicht nur darum, am Tisch zu sitzen, sondern auch darum, dass einem zugehört wird. Das bringt mich zum zweiten Punkt, den ich gerne früher verstanden hätte.
2. Nein, danke.
Als ich in diesem Beruf anfing, hatte ich keinen Plan, in welche Richtung ich gehen sollte. Viele haben sich gewundert und nicht verstanden, was es da zu überlegen gibt. Ich solle über die Türkei schreiben. Ich habe doch einen türkischen Background.
Die Türkei ist für mich aber ein emotionales Thema. Klar, ich bin in Deutschland geboren, aber ich verfolge, was in der Türkei passiert. Oder aber ich ignoriere, was in der Türkei passiert. Je nachdem, wie ich mich fühle. Ich diskutiere und streite innerhalb der Familie hin und wieder. Mittlerweile fühlt es sich an, als wären wir Boxer, die sich in Runde zwölf kaputt in den Armen liegen und aufeinander einpuffen. Alle sehr müde.
"Wenn Leute mich fragen, ob sie Journalist:innen werden können, dann antworte ich: Wenn ich das kann, könnt ihr das auch."
Wenn ich hauptberuflich über die Türkei schreiben würde, dann hätte ich kaum noch einen Ort, an dem ich zur Ruhe kommen kann. Also habe ich es nicht gemacht. Andere kriegen das besser hin. Sie können journalistisch über Themen schreiben, die sie auch emotional betreffen, ob es nun um ihre Identität geht oder ihre (zugeschriebene) Nationalität. Persönlich finde ich das krass und bewundere, wie gut sie das hinbekommen. Ich wollte das nicht für mich und habe es nicht bereut. Ich habe (selten) Artikel über die Türkei veröffentlicht, zum Beispiel darüber, wie die türkische Opposition mit Hilfe einer deutschen Software-Schmiede wohl ausgespäht wurde. Das war dann immer eine Entscheidung von mir für dieses Thema.
Wenn ihr also das Gefühl habt, ihr wollt über die Themen schreiben, zu denen ihr persönlich eine "naheliegende" Connection habt: Macht das unbedingt. Aber nein zu sagen, ist genauso wichtig. Reklamiert Themen nicht für euch, weil ihr denkt, ansonsten macht es niemand. Kann gut sein, dass ihr damit recht habt. Aber es ist mindestens genauso wichtig, dass der Job euch nicht zerfrisst.
3. Journalismus hat wenig mit Talent zu tun.
Journalismus wird, für meinen Geschmack, ein bisschen zu sehr mystifiziert. Der Mythos ist: Journalist:in zu sein ist schwierig. Dafür braucht es Talent. Das ist nicht unbedingt meine Erfahrung. Wenn Leute mich fragen, ob sie Journalist:innen werden können, dann antworte ich: Wenn ich das kann, könnt ihr das auch.
Denn alles, was diesen Job schwierig macht, hat meiner Erfahrung nach nichts mit dem Job zu tun, sondern eher mit den Umständen. Zu wenig Geld zu haben oder zu wenig Zeit. Zu wenig Zeichen für den Text oder zu wenig Rückhalt in der Redaktion. Generell: Zu wenig Experimentierfreude. Schließlich gibt es neben Texteschreiben ein Dutzend Möglichkeiten, journalistisch zu arbeiten. Eine:r schreibt gute Texte, jemand anderes schneidet clevere 30-Sekunden-Clips für Tiktok und erreicht Millionen. Das Talent wäre da, wird aber im Zweifel nicht gesehen. Das sind Rahmenbedingungen, die den Job definieren, die auch dazu führen, dass viele Leute keine Lust haben.
Aber wenn ich mir die Aspekte anschaue, die wir mit Journalismus verbinden, dann ist das in aller Regel Handwerk. Schreiben zum Beispiel. Schreiben zu lernen ist einfach, wenn es einem jemand beibringt. Ich habe neulich auf Twitter nach Büchern zu Storytelling gefragt. Mittlerweile habe ich sechs der empfohlenen Bücher gelesen. Jedes hat einen anderen Fokus, aber die Grundzüge ähneln sich. Gute Geschichten gehorchen Gesetzen. Naja, das Wort Gesetze habe ich nur gewählt wegen der Alliteration. Sagen wir so: Es gibt Regeln. Wer einen Nachrichtentext schreibt, packt die wichtigste Information in den Lead-Satz. Wer eine Reportage schreibt, nimmt die beste Szene für den Anfang und die zweitbeste für das Ende, um die Leute zu belohnen, die so lange dabei geblieben sind. Das sind Regeln. Ich kann sie brechen, wenn ich sie kenne. Aber sie existieren.
Für aufwendige Recherchen gilt das auch: Wo sich Informationen finden lassen, wie ich mit Menschen rede, wie ich in Datenbanken recherchiere. Das sind alles Fragen, die sich auch erfahrene Journalist:innen immer wieder stellen. Das ist alles Übung und Wissen, hat mit Talent aber wenig zu tun.
Damit ich nicht falsch verstanden werde: Natürlich gibt es Leute, die Talent haben, und natürlich hilft es, talentiert zu sein. Dinge schnell zu verstehen. (Ich verstehe Dinge nicht immer sehr schnell.) Das ist schön für die, die Talent haben. Aber es ist kein Problem für die, die Bock haben, das Handwerk zu lernen. Ich persönlich finde das sehr befreiend. Ein Fehler ist genau das: etwas, woraus ich lernen kann. Aber nichts, weswegen ich meine Existenz in diesem Beruf infrage stellen muss.
4. Jede Menge Fragen.
Was mir wahnsinnig geholfen hat, gerade am Anfang: Andere kopieren. Ihre Texte lesen, ihre Geschichten verstehen, ihren Textaufbau analysieren, über ihre Rechercheschritte nachdenken. Dann habe ich geguckt, ob diese Leute Interviews gegeben haben und habe dort gelesen, wie sie über ihre Arbeit reden. Ob sie vielleicht Tipps geben.
In vielen Fällen habe ich als nächstes eine E-Mail geschrieben und gefragt, ob sie Zeit haben für ein Telefonat oder einen Kaffee. Dass ich Fan ihrer Arbeit bin und gerne mit ihnen darüber reden will.* Die meisten Menschen, gerade Journalist:innen, reden sehr gerne über ihren Job. Und wenn nicht: Kein Ding, das hilft mir dabei zu akzeptieren, dass nicht alles klappen kann. Das einzige, was wichtig ist: Den Leuten das Gefühl zu geben, dass ihr euch schon mit ihrer Arbeit auseinandergesetzt habt. Wenn ihr Fragen stellt, die sie schon beantwortet haben, zum Beispiel in Interviews, dann werden sie routiniert antworten. Wenn ihr aber sagt: Hey, in dem Interview hast du dies oder jenes gesagt. Mich würde interessieren, warum du das so siehst. Dann zeigt ihr, dass ihr wirklich verstehen wollt, wie die Person tickt.
"Oft genug reicht es aus, Dinge, die schon bekannt sind, vom Anfang bis zum Ende zu erzählen. Das ist schon schwer genug."
Auch Journalismus funktioniert stark über Netzwerke. Die könnt ihr euch aufbauen. Da gibt es eine wichtige Diskussion zu führen, wie schade es ist, weil Netzwerke sich auch darüber definieren, wen sie draußen halten. Aber dieser Text ist nicht der Ort für diese Diskussion. * Der Ehrlichkeit halber muss ich sagen, dass ich in aller Regel Leute angeschrieben habe, die nicht 20 Jahre älter waren als ich. Das war aber eher eine Frage der Ehrfurcht, die ich vor diesen Journalist:innen hatte, glaube ich, und vielleicht auch nur mein persönliches Problem.
5. Eigentlich ist alles zu komplex.
Wenn Leute sich vorstellen, was investigativer Journalismus ist, dann heißt es oft: Geheime Dokumente besorgen. Ich finde, das ist eine sehr einengende Sicht. Ein großer Teil meiner Arbeit besteht darin, öffentliche Berichte zu lesen und Dinge zu suchen, die jede:r finden könnte. Und dann stundenlang Leute zu fragen, bis ich das Gefühl habe zu verstehen, was passiert ist. Geheime Berichte zu haben, kann gut sein, weil Leute offener reden, wenn kein Mikrofon läuft. Aber oft genug reicht es aus, Dinge, die schon bekannt sind, vom Anfang bis zum Ende zu erzählen. Das ist schon schwer genug.