Werkstatt
Die neue Kerndisziplin
Datenjournalismus in Zeien von Corona: "Mittlerweile ist die datenjournalistische Berichterstattung in eine Phase der Differenzierung und Spezialisierung eingetreten – nicht zuletzt weil die Nutzer sich für die nackten Corona-Zahlen nicht mehr so stark interessieren." (Illustration: Sebastin König)
Für Datenjournalisten ist die Corona-Krise Leistungsschau und Bewährungsprobe zugleich, weil sie mit ihren Analysen und Grafiken eine große Resonanz und hohe Klickzahlen erzielen. Die Community hofft nun darauf, dass der Schub für das Genre auch dann anhält, wenn die Epidemie bewältigt ist. Von Henning Kornfeld
14.07.2020
Zweimal am Tag checken die Mitglieder des Ressorts Investigativ/Daten von Zeit Online die Websites der 401 deutschen Landkreise und kreisfreien Städte. Sie tun das, um möglichst schnell aktuelle Zahlen zur Verbreitung des Coronavirus Sars-CoV-2 in Deutschland zu recherchieren und auf einer Echtzeit-Karte zu veröffentlichen. Das Datenteam von Zeit Online entschied sich zu Beginn der Epidemie für dieses mühsame Verfahren, weil es nicht länger auf das Robert Koch-Institut warten wollte, das die Zahlen nur mit Verzug meldet. Der tägliche Aufwand hat sich gemessen an Klicks gelohnt: Nach Angaben von Sascha Venohr, Head of Data Journalism bei Zeit Online, ist die prominent auf der Homepage angeteaserte Karte bis Anfang Mai weit mehr als zehn Millionen Mal aufgerufen worden. Sie sei der bislang erfolgreichste Beitrag von Zeit Online. Fragt man den Datenjournalisten David Hilzendegen, was seine Arbeit der vergangenen Wochen seinem Arbeitgeber, dem Südkurier, konkret gebracht hat, nennt er eine Zahl: 40. So viele Digital-Abos schlossen Leserinnen und Leser seiner Analysen zur Corona-Epidemie und ihren Folgen unmittelbar nach der Lektüre allein im April ab. Insgesamt sorgten Hilzendegens datenanalytische Beiträge zum Thema bis Anfang Mai für 75 neue Abonnenten. Hilzendegen ist der einzige ausschließlich mit Datenjournalismus befasste Redakteur der Konstanzer Regionalzeitung. Zu seinen regelmäßigen Aufgaben gehört zum Beispiel die Analyse der Benzin- und Dieselpreise an den Tankstellen der Region. Zur Akquise neuer Abonnenten tragen solche Themen allerdings in geringerem Maße bei wie nun die datenanalytische Corona-Berichterstattung. „Corona hat beim Leserinteresse an Datenjournalismus auf unseren Websites alle Dimensionen gesprengt“, sagt Jan Georg Plavec, der für datenjournalistische Projekte bei Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten zuständige Redakteur. Bei den beiden Schwestertiteln der Medienholding Süd (gehört zur SWMH) erschienen seit Mitte März zwei täglich aktualisierte Formate: eine Übersicht mit den Daten für Baden-Württemberg und die Stadt- und Landkreise einerseits sowie eine Analyse für Deutschland und die Bundesländer andererseits. Die beiden Formate haben laut Plavec bis Ende April rund zwei Millionen Aufrufe verzeichnet, die durchschnittliche Verweildauer der Nutzer beziffert er auf drei Minuten. Auch datenlastige Print-Stücke fänden einen außergewöhnlich großen Widerhall: „Die Leute schauen auf die Daten und beschäftigen sich damit – das ist in dieser Breite zumindest bei Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten neu.“ Die Veröffentlichungen auf swr.de, die einen Datenfokus zu Corona hatten, hätten „alle Rekorde gebrochen“, berichtet auch Johannes Schmid-Johannsen von SWRdata, dem datenjournalistischen Team des Südwestrundfunks. Das gelte jedenfalls für die erste Phase der Epidemie in Deutschland. „Mittlerweile wollen die Leute das aber nicht mehr den ganzen Tag sehen“, schränkt er ein. Zugleich wachse die Kritik an den Zahlen, und es gebe detaillierte Nachfragen dazu. Hohe Reichweite, viele KlicksZeit Online, Südkurier, Stuttgarter Zeitung/Stuttgarter Nachrichten und der SWR haben sich dem Datenjournalismus unterschiedlich innig verschrieben, die Datenjournalisten Venohr, Hilzendegen, Plavec und Schmid-Johannsen haben jeweils ihren eigenen Fokus. Doch zumindest zu Beginn der Corona-Krise haben sie dieselbe Erfahrung gemacht: Ihre Analysen und Übersichten erzielen außergewöhnlich hohe Reichweiten oder gehören sogar zu den jeweils meistgeklickten Beiträgen im Angebot. Ihr Metier ist in den Redaktionen zu einer Kerndisziplin geworden. „Der Datenjournalismus kann in der Corona-Berichterstattung seine ganze Stärke ausspielen“, sagt Venohr. „Wir Datenjournalisten können nicht nur zeigen, wie sich die Pandemie im Land und auch international entwickelt, Daten ermöglichen uns beispielsweise auch zu prüfen, wie sich Social Distancing und Lockdown-Regeln auswirken und wie sich das tägliche Leben verändert hat.“ Das Grundrauschen der datenjournalistischen Berichterstattung zu Corona bilden seit Anfang/Mitte März überall Grafiken oder Karten zu Infizierten und Genesenen sowie Todesfällen – allerdings unterschiedlich aktuell, differenziert und regionalisiert oder internationalisiert. Große Datenteams wie das von Zeit Online legten und legen dabei viel Wert darauf, dem Robert Koch-Institut zuvorzukommen. Ihre Datenrecherche ließ sich nur teilweise automatisieren, weil viele Behörden ihre Datenstrukturen gelegentlich ändern, so dass die Crawler nicht mehr funktionieren. „Wir haben uns bemüht, die Daten schneller zu bekommen und ihre Aussagekraft besser zu erklären“, sagt auch der SWR-Datenjournalist Schmid-Johannsen. Wegen der langen Meldeketten und der oft unstetigen Veröffentlichung der Daten durch Behörden hat der SWR eigens ein Meldeportal eingerichtet, in dem die Studios des Senders die Fallzahlen der Landkreise eintragen können. „So waren wir mit unseren Zahlen für die Region schnell so gut wie die John-Hopkins-Universität, die Datenrecherche hat aber viele Ressourcen verschlungen“, sagt Schmid-Johannsen. Phase der Differenzierung Die Beschaffung aktueller Daten in kurzer Zeit war für alle Datenjournalisten das zentrale Problem – zumal auch sie auf die Krise nicht vorbereitet waren. „Eine Herausforderung war zunächst, dass wir in Windeseile Workflows in der tagesaktuellen Gewinnung und Bereitstellung der Daten schaffen mussten“, sagt Venohr. „Bei anderen planbaren Großereignissen fängt man damit normalerweise mit einigen Wochen Vorlauf an.“ Außerdem seien Berechnungen und Darstellungen erforderlich gewesen, die nicht zum alltäglichen Erzählkanon gehören, etwa die Visualisierung logarithmischer Kurven und die Darstellung exponentiellen Wachstums. Hinzu kamen Unsicherheiten in den Daten selbst und ständig neue wissenschaftliche Erkenntnisse. Mittlerweile ist die datenjournalistische Berichterstattung in eine Phase der Differenzierung und Spezialisierung eingetreten – nicht zuletzt weil die Nutzer sich für die nackten Corona-Zahlen nicht mehr so stark interessieren. Auch der Südkurier startete mit Übersichten zum Corona-Geschehen in seinem Erscheinungsgebiet im südlichen Baden-Württemberg. „Das lief anfangs sehr gut und hat immer noch seine Berechtigung, wir haben aber mit der Zeit festgestellt, dass es einen Ermüdungseffekt gibt“, sagt Datenredakteur Hilzendegen. Wichtiger sei es ihm jetzt zu zeigen, wie sich Corona im Alltag der Menschen niederschlägt. In einem Beitrag hat Hilzendegen zum Beispiel die Entwicklung der Zahl der Covid-19-Patienten in den Krankenhäuern der Region untersucht. Und mit Hilfe von Daten der Konstanzer Parkhäuser hat er analysiert, wie sich die Mobilität der Menschen schon vor dem Lockdown im März reduziert hat. „In einigen Häusern gibt es eine falsche Vorstellung darüber, was Datenjournalismus leisten kann“, resümiert Hilzendegen. „Er erschöpft sich nicht in großen Leuchtturmprojekten, für die man viele Leute braucht, auch kleinere Projekte sind wichtig und zahlen sich aus.“ Auch Jan Georg Plavec hat versucht, mit begrenzten Ressourcen eigene Wege zu gehen und „nicht der Herde hinterherzurennen“. So problematisierte er Anfang April die Aussagekraft der Verdopplungszeit, die nach einem Podcast von Angela Merkel in der öffentlichen Diskussion plötzlich einen zentralen Stellenwert bekommen hatte. Eine Anfrage beim Bundeskanzleramt habe zuvor ergeben, dass das nur eine „Luftnummer“ gewesen sei. „Auch zu einem vornehmlich regionalen Publikum sollten wir Datenjournalisten einen eigenen Zugang finden, wenn wie in diesem Fall Zweifel an der Diskussion im Rest der Republik besteht“, meint er. „Gerade während der Corona-Krise konnte man das gut einüben.“ Zahlen mit ZusammenhängenPlavec berührt mit seinem Hinweis auf die Verdopplungszeit eine grundsätzliche Diskussion, die in der Corona-Berichterstattung wieder virulent ist: Ist es schon Datenjournalismus, wenn man lediglich eine Zahl visualisiert – selbst dann, wenn sie unsicher ist oder zum Verständnis der Lage nur im Zusammenspiel mit anderen Zahlen beiträgt? Genau auf diese Praxis hätten sich aber viele Datenjournalisten – wohl wegen des Zeitdrucks – vor allem zu Beginn der Krise beschränkt, kritisiert Lorenz Matzat. „Nach einiger Zeit fanden sich zwar auch Hinweise auf die Unsicherheit der Daten und ihr Zustandekommen – quasi auf Beipackzetteln, die immer länger wurden und an den meisten Lesern vorbeigehen dürften.“ Matzats Wort hat in der Datenjournalismus-Community Gewicht: Er gehört zu den Pionieren des Genres. Einige der Erscheinungsformen sieht er aber kritisch. Das gilt auch für manche Spielarten in der Corona-Krise: Der „plakativen Form der Datenberichterstattung“ mangele es oft an Analyse und Kontext: „Statt dem Wettrennen um die aktuellsten Infektionszahlen und wenig sinnvolle Ländervergleiche hätte ich gern mehr Stücke etwa zu den wirtschaftlichen Folgen von Corona oder der Personalsituation in Gesundheitsämtern gesehen.“ Die Skepsis gegenüber rein deskriptiven oder oberflächlichen Formen des Datenjournalismus teilen auch Praktiker wie Johannes Schmid-Johannsen. „Datenjournalismus funktioniert nur im Kontext“, meint er. „Wir haben uns daher bewusst dagegen entschieden, einzelne Zahlen zur Corona-Epidemie wie die Verdopplungszeit prominent auszuweisen oder ihre weitere Entwicklung zu prognostizieren, weil sie allein nicht dabei helfen, die Situation zu verstehen.“ Stattdessen sei es wichtig, die verschiedenen Zahlen in ihrem Zusammenhang darzustellen und zu erklären. Bei Redaktionsschluss arbeitete das vierköpfige Team von SWR data gerade an einer Analyse, die diesen Anspruch einlösen soll: ein Monitoringsystem für alle 80 Landkreise im SWR-Gebiet, um eine eventuelle zweite Corona-Welle früh zu erkennen. Es soll zeigen, ob die Gesundheitsämter mit ihrem Personal noch dazu in der Lage sind, die Kontakte aller mit dem Coronavirus Infizierten lückenlos zu identifizieren. Die Situation des Datenjournalismus ist in Deutschland ambivalent: Einige große Titel, Marken oder Medienhäuser leisten sich große Datenteams. Dazu zählen neben Zeit/Zeit Online, die Süddeutsche Zeitung, der Spiegel, die Funke-Mediengruppe und – bei den Öffentlich-Rechtlichen – der Bayerische Rundfunk (BR Data). Bei Regionalzeitungen ist die Lage hingegen unübersichtlich: Es gibt Einzelkämpfer wie beim Südkurier, nach Bedarf zusammengestellte Teams wie bei Stuttgarter Zeitung/Stuttgarter Nachrichten, größere Einheiten wie beim Tagesspiegel – und Titel, die ganz ohne Datenjournalisten auskommen. Die Abstinenz hat wohl vor allem wirtschaftliche Gründe: „Datenjournalismus ist aufwendig – er braucht Spezialisten, Zeit und Geld“, sagt Jan Georg Plavec „Diese Ressourcen sind oftmals nicht mobilisierbar – auch, weil der Ertrag a priori schwer zu schätzen ist.“ Ob das wegen Corona gestiegene Interesse der Menschen an datenjournalistischen Analysen nachhaltig ist und womöglich sogar die Bereitschaft fördert, dauerhaft für journalistische Inhalte zu bezahlen, ist noch offen. Plavec, auch Initiator des baden-württembergischen Datenjournalisten-Netzwerks ddjbw, hofft aber, dass Corona den Managern in den Regionalverlagen deutlich macht, welches Potenzial in dem Genre steckt. „Die enormen Zugriffszahlen auf die Corona-Datengeschichten haben per definitionem nur jene Redaktionen, die sich Datenjournalismus leisten“, sagt er. „Corona hat gezeigt, wie schnell Daten ins Zentrum der Debatte rücken können.“ Henning Kornfeld arbeitet als Medienjournalist in Heidelberg. Der Beitrag erschien zuerst in der Juni-Ausgabe des journalists. Neugierig? Dann hier entlang.