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"Wir müssen den Leuten zuhören"

Jeff Jarvis, US-amerikanischer Journalist und Medienwissenschaftler, spricht zum Abschluss von Besser Online am 12. September.

US-Medienexperte Jeff Jarvis lehrt seit 2005 Journalismus an der City University of New York. Er hat lange als Redakteur gearbeitet und bloggt unter anderem auf buzzmachine.com über aktuelle Medienthemen. In seinem Podcast This Week in Google spricht er über die Chancen des Internets. Bei der DJV-Veranstaltung Besser Online am 12. September wird er die Abschlussrede halten. Interview von Ute Korinth.

09.09.2020

journalist: Schon vor Corona haben Sie gesagt, dass das Haus des Journalismus brennt. Liegt es jetzt komplett in Schutt und Asche?

Jeff Jarvis: Corona hat Schießpulver auf das Haus gestreut, und nun explodiert es. Es ist nicht garantiert, dass es komplett abbrennt. Aber fest steht, dass das, wovon wir dachten, es sei eine Krise, nun um ein Vielfaches schlimmer ist. Wir müssen viel tiefergreifende Fragen darüber stellen, wie wir uns als Journalisten neu erfinden können. Wir können diese Zeit als eine Chance sehen, zu erkennen, dass es neue Wege des Journalismus gibt und neue Wege, für die Öffentlichkeit da zu sein.

In Deutschland gibt es Corona-Experten wie Christian Drosten, die Morddrohungen deswegen erhalten, dass sie uns mit ihrem Fachwissen versorgen. Immer mehr Hass, Vorwürfe über Fake News und offene Anfeindungen schlagen Journalisten entgegen. Was können wir in dieser Situation tun?

Ich denke, wir sollten auch die positiven Seiten betrachten. Seit der Wahl in Amerika, dem Aufkommen der AfD in Deutschland und des Brexits dachten wir immer, unser größtes Problem sei Desinformation. Die Corona-Krise zeigt uns nun, dass das größte Problem Unwissenheit ist. Und die beste Heilung für Unwissenheit ist Expertise. Darum habe ich eine Covid-19-Twitterliste gestartet. Sie umfasst mittlerweile mehr als 600 Wissenschaftler, Epidemiologen, Virologen und auch ein paar wenige Journalisten.

Was bedeutet das?

Unser Job ist nicht die Bekämpfung von Desinformation, sondern der Aufbau und die Verbreitung von Expertenwissen. Die Heilung von Unwissenheit liegt in der Expertise. Ich habe mich damit befasst, wie Wissenschaftler und Ärzte sich an ein neues, offenes Informations-Öko-System anpassen. Sie machen das viel besser als wir es im Journalismus tun. Sie wollen einen schnellen und offenen Informationsaustausch und haben dafür Preprint-Server eingerichtet, um Studien schneller untereinander zu verbreiten und zugänglich zu machen. Und sie nutzen Social Media, um der Öffentlichkeit komplizierte Sachverhalte verständlich zu erklären. Sie haben sich an das neue Informations-Öko-System angepasst. Wir Journalisten konzentrieren uns lieber auf die unangenehmen Akteure, statt unseren Fokus darauf zu legen, welche Chancen uns das Internet bietet.

Wir leben in der VUCA-Welt, mehr als zuvor. Veränderung, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität bestimmen unser Leben. Wir müssen uns ändern, um zu überleben. Es hilft nicht mehr, zu hoffen, dass die Dinge ewig bleiben wie sie sind. Aber was können wir tun, um Corona als eine Chance zu nutzen?

Wir müssen mehr wie Pädagogen handeln, die sich um die Folgen und die Wirkung ihrer Arbeit sorgen. Als Journalisten neigen wir dazu, unsere Berichte in die Welt zu streuen. Damit ist der Job erledigt. Wir sagen uns: Was dann damit passiert, ist nicht mehr mein Job. In der Rolle eines Pädagogen sollten wir uns Gedanken darüber machen, ob unsere Studenten das lernen, was wir uns wünschen, was sie lernen. Wenn wir Menschen in Amerika sehen, die sich weigern, Masken zu tragen, sagt das auch etwas über das Scheitern des Journalismus aus.

„Wir dachten immer, unser größtes Problem sei Desinformation. Die Corona-Krise zeigt uns nun, dass das größte Problem Unwissenheit ist.“

Glauben Sie, dass wir Fähigkeiten wie Deep Listening, respektvollen Umgang, Geben und Teilen ohne Erwartung und das Zeigen von Wertschätzung verbessern sollten?

Was in Amerika gerade passiert, ist der letzte Widerstand der alten weißen Männer. Und ich sage das als ein alter weißer Mann. Es herrscht Angst unter denen, die immer die Macht hatten. Sie haben Angst, diese Macht zu verlieren. Und sie brennen die Felder nieder. Sie haben eine Strategie der verbrannten Erde. Trump und seine Leute zerstören die Institutionen der Demokratie, weil sie sie nicht teilen wollen. Sie realisieren, dass sie sie verlieren werden. Das geht auch einher mit der aktuellen Debatte über „Cancel Culture“ und was diesbezüglich gerade passiert. Menschen, die die Mikrofone hielten, sind eifersüchtig, dass neue Leute nun neue eigene Mikrofone haben.

Wie muss der Journalismus damit umgehen?

Wir erleben einen Prozess der Disruption. Das Internet befähigt Menschen dazu, eine Stimme zu bekommen. Sie waren immer da, wurden aber vorher nicht gehört, weil sie in den Massenmedien nicht auftauchten. Das müssen wir uns klarmachen. Der erste Schlüssel dazu ist, dass wir lernen zuzuhören. Wir haben ein Programm für junge Journalisten gestartet, das sich „Social Journalism“ nennt. Wir erzählen den Studenten nicht, dass sie mit Content beginnen sollen, sondern mit Communitys. Und zwar damit, diese zu beobachten, ihnen zuzuhören, empathisch zu sein, zu verstehen und zu reflektieren. Und der Journalismus kann dann alle möglichen neuen Formen haben. Es ist nicht nur die Story. Es können Datenbanken sein, es kann Theater sein, Comics, alles, was hilft, eine Community zu erreichen und zu informieren. Wir Journalisten denken immer noch zu oft, dass wir die Agenda festlegen – das ist furchtbar egoistisch. Die Leute bestimmen die Agenda. Sie bestimmen darüber, was sie wissen müssen, um ihre Ziele zu erreichen als Individuen. Und deshalb müssen wir mit dem Zuhören anfangen.

Was lernen Sie von Ihren Studenten? Gibt es gute Beispiele neuer Journalismus-Formate?

Ich lerne extrem viel von meinen Studenten. Zuerst ist es auch hier wieder das Zuhören, dann ist es der Unterschied zwischen intern fokussiertem Journalismus und extern fokussiertem Journalismus. Extern fokussierter Journalismus erzählt Geschichten über die Welt, intern fokussierter Journalismus sorgt sich um die Interessen der Community und um das, was die Menschen brauchen. Wir machen beides, aber wir müssen sie unterscheiden. Und ich habe gelernt, wie sie neue Tools nutzen. Das geht weit über Storytelling hinaus. Das heißt nicht, dass wir keine Geschichten brauchen, aber wir sollten auch die verführerische Kraft der Geschichte erkennen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist der Fall Relotius. Die Macht der Geschichte und des Geschichten­erzählers wurde so verlockend, dass er die Geschichte besser machen wollte, indem er Dinge erfand und die journalistische Ethik verletzte. Wir müssen uns wegbewegen davon zu denken, dass wir von vornherein festlegen, wer in Geschichten zu Wort kommt, wie sie verlaufen. Wir müssen besser darin werden, die Community zu befähigen, uns dabei zu helfen.

Ist der Unterschied zwischen amerikanischen und deutschen Medien immer noch so groß? Es gibt ja durchaus auch ähnliche Entwicklungen.

Ich sage immer: Der einzige Unterschied ist, dass wir schneller sterben. Man könnte sagen, in einem gewissen Sinne haben wir es ein wenig besser, weil wir Zeitungsmonopole in den Städten haben. In Deutschland und Europa gab es lange Zeit und gibt es nach wie vor großartige nationale Marken und Wettbewerb. Ich starte jeden Sonntag damit – so gut wie ich kann –, die Süddeutsche, die Zeit, die FAZ und den Spiegel zu lesen. Und ich bin beeindruckt, dass, wenn etwas passiert, jede dieser Zeitungen mit einem anderen Lead aufmacht, etwas Einzigartigem, was nur sie über die Story wissen. Das ist in Amerika nicht so. Wir haben diesen Mythos von Nachrichten-Beurteilung. Sie versuchen alle, die gleiche Geschichte als Aufmacher zu haben.

Sollte die Regierung Medien unterstützen, die jetzt ins Straucheln geraten?

Ich glaube, das ist gefährlich. Und hier muss ich nochmal auf die Unterschiede bezüglich des Marktes, der Regierung und der Kultur zu sprechen kommen. In den vergangenen Jahren, als die Leute gesagt haben, der Staat sollte die Medien hier in Amerika unterstützen, habe ich darauf eine Zwei-Wort-Antwort gegeben: Donald Trump. Es läuft mir ein kalter Schauer den Rücken herunter, wenn ich daran denke, dass er die Kontrolle über das Geld und das Schicksal von Medien hat. Als Antwort für meine europäischen Freunde, die sagen, wir haben ZDF und BBC, habe ich zwei Worte: Boris Johnson.

Wenn Sie 5 Dinge, Verhaltensweisen oder Veränderungen auflisten müssten, die wichtig für guten Journalismus sind nach Corona: Welche wären das?

1. Ich komme wieder zurück zum Zuhören. Ich glaube, wir haben ein paar gute Beispiele – wie etwa Spaceship Media, die ich sehr gut finde.

2. Wir müssen unsere Expertise verstärken. Das ist auch, warum ich die Covid-19-Twitterliste gestartet habe. Wir müssen Stimmen stärken, die nie gehört wurden.

3. Wir brauchen unterschiedliche Einnahmequellen beziehungsweise unterschiedliche Erlösmodelle. Ich sage jetzt nicht, dass Bier-Auslieferung wie beim Mindener Tageblatt eine riesige Einnahmequelle ist, aber es zeigt Nähe und sendet das Signal, dass die Verantwortlichen sich mit den Bedürfnissen der lokalen Unternehmen, der Anzeigenkunden und der Community auseinandergesetzt haben

4. Wir müssen uns fragen, warum einige Leute die Wut die Oberhand über den Verstand gewinnen lassen. Wir müssen Journalismus neu kreieren.

5. Wir müssen besser darin werden, verlässliche und treffende Quellen zu finden. Die New York Times zum Beispiel hat einen Diät-Experten zum Thema Corona groß zu Wort kommen lassen. Er hat gesagt, dass die Folgen des Shutdowns möglicherweise schlimmer seien als die der Krankheit. Diese Aussage ist viral gegangen und auch in Donald Trumps Kopf gelandet. Es gibt viele Menschen, die größere Experten im Bereich Virologie oder Epidemiologie sind als ein Diät-Arzt.

Ute Korinth arbeitet als Journalistin und Kommunikationsexpertin in Dortmund und engagiert sich im DJV als Vorsitzende des Bundesfachausschusses Online.

Alle Infos zur DJV-Tagung Besser Online auf besser-online.info

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