Wie Journalismus Pflanzen zum Sprechen bringt

Wiesen können auf Whatsapp chatten und von ihrem Sommer erzählen. Zumindest an der Hochschule Darmstadt. Dafür haben Studierende Sensorjournalismus, Dialog und KI zusammengebracht. Ein Werkstattbericht. Text: Carla Moritz

22.01.2024

„Fett, Fetter, Ferdi. Hey, ich bin Ferdinand, der Vierte. Für dich heiße ich Ferdi und bin die coolste Wiese überhaupt. Wanna chat?“ Ferdi ist eine Wiese, er wächst in einem Hochbeet der Hochschule Darmstadt. Genauer gesagt ist Ferdi eine sprechende Wiese. Sensoren lesen den Zustand der Wiese aus, Computer spinnen aus den Daten Erzählungen. Noch genauer gesagt ist Ferdi eine sprechende Fettwiese. „Fett“ steht in diesem Fall für einen nährstoffreichen Boden und für konkurrenzstarke Grasarten in Ferdis Pflanzkasten. Neben Ferdi stehen noch zwei andere Labor-Wiesen mit weniger Nährstoffen im Boden, aber dafür mehr Arten an Pflanzen. Sie heißen Greta, die Frischwiese und Maggie, das Magerbeet.

Die drei Wiesen erzählen auf verschiedenen Plattformen von ihrem Sommer: per Chat, auf Instagram und auf einer interaktiven Webseite. Zum Sprechen verholfen haben den Wiesen 22 Studierende der Hochschule Darmstadt in einer sogenannten Lernagentur, einem praktischen Seminar des Studiengangs Onlinekommunikation.

Geleitet haben die Lernagentur Sebastian Pranz, Professor für Technologieentwicklung in der Onlinekommunikation an der Hochschule Darmstadt, und Jakob Vicari, Sensorjournalist und Mitbegründer des Innovationslabors tactile.news.

Sprachrohr für Biodiversität

Die Projektidee für das Wiesen-Projekt entstand im Sommer 2022. „Sebastian Pranz und ich haben seit einem gemeinsamen Seminar diese bescheuerte Idee, dass man Pflanzen mit Sensoren zum Sprechen bringen könnte“, sagt der Journalist Jakob Vicari.

„Wiesen sind ja eigentlich überall. Man hat aber wenig Bezug dazu. Und das finde ich spannend: Die Umwelt, die uns umgibt, zum Sprechen zu bringen“, erklärt Vicari. Sebastian Pranz ergänzt: „Wie kann man ein komplexes Thema wie Biodiversität so erzählen, dass Leute daran hängenbleiben?“ Der Medienentwickler vermutet, dass ein neuer Ausspielweg entscheidend ist: „Biodiversität kann man über ein Dialog-Tool anders erzählen als über eine Website.“

„Für dich heiße ich Ferdi und bin die coolste Wiese überhaupt.“ Die Wiese :)

Sebastian Pranz spricht von der Vision des „Internet of Plants“. Angelehnt an das Internet der Dinge, wollen die Seminarleiter reale Pflanzen mit der virtuellen Welt des Internets verbinden. Ausprobiert hat das bislang niemand. Ob Erdbeeren, Bäume, Wiesen oder Zimmerpflanzen sprechen sollen, ist im Moment noch nicht klar. Seit dem Hype um ChatGPT sind künstliche Dialoge überall. Beim Projekt „Pflanzendialoge“ soll das Gespräch allerdings faktenbasiert und verknüpft mit echten Daten sein.

Die Dozenten sind keine Experten für Artenvielfalt, ihre Studierenden ebenfalls nicht. Daher haben die Verantwortlichen einen Partner auf die Wiese gerufen: BioDivKultur, ein interdisziplinäres Forschungsprojekt rund um insektenfreundliche Wiesen. Ihr Auftrag: Wiesen eine Stimme geben, um Biodiversität neu zu kommunizieren.

Die Wiese verstehen

Im April 2023 hören die 22 Studierenden aus dem Bachelorstudiengang Onlinekommunikation das erste Mal von der Idee: Pflanzen zum Sprechen bringen. Wie das genau funktioniert, weiß zu diesem Zeitpunkt niemand. Mit dabei ist Scarlett Umlauf, Biologin und Kuratorin für Bildung und Vermittlung im Bioversum und damit Teil des Projekts BioDivKultur.

Während Pranz und Vicari über Datenbanken und Erzählstrukturen diskutieren, kann Umlauf als Biologin Campanula von Hundskamille unterscheiden. Für sie sind Wiesen wichtige Orte der Biodiversität: „Was viele nicht wissen, ist, dass es sehr unterschiedliche Wiesen gibt. Gerade die nährstoffarmen Wiesen sind ökologisch wertvoll, weil ihre Artenvielfalt sehr hoch ist. Je nährstoffärmer der Boden ist, desto mehr können sich spezialisierte Pflanzen durchsetzen und damit vielfältige Lebensräume für Insekten bieten.“

„Eine bunte, nährstoffarme Wiese, die mit allem klarkommt, ist für uns wie ein offener, selbstbewusster, widerstandsfähiger Mensch.“ Yasmina El Aallali, Studentin

Doch die nährstoffarmen Wiesen werden mit der modernen Landwirtschaft immer weniger. Maggie, die Magerwiese, wird immer öfter durch Ferdi, die effiziente Fettwiese ersetzt. Die Folgen betreffen nicht nur die Bewohner der Wiesen: „Alle Lebewesen haben eine biologische Funktion. Wir können nicht abschätzen, was passiert, wenn 20 Tierarten aussterben und ihre ökologischen Aufgaben nicht mehr übernehmen. Das kann auch Auswirkungen auf uns Menschen haben“, sagt die Biologin.

Bevor die Wiesen sprechen lernen, müssen ihre Samen den Weg in den Boden finden. Die Projektgruppe und die Biolog:innen von BioDivKultur haben dafür einen Innenhof der Hochschule ausgewählt. Ein paar Bäume wachsen, der Boden ist mit einem gewöhnlichen Rasen bedeckt. Drei Hochbeet-Baukästen, drei Bodenmischungen, drei Samentüten und fünf Stunden später stehen hier zusätzlich die drei Modellwiesen – zumindest stecken ihre Samen in der Erde.

Sensoren und Beete

Die Wiesen wachsen und mit ihnen das Wissen der Dozenten und Studierenden. Jakob Vicari lehrt die Grundlagen des Sensorjournalismus. Die Gruppe lernt den M5 Stack Core 2 kennen. Das ist ein Mikrocontroller oder einfacher gesagt Mini-Computer, der Informationen verarbeiten und ins Internet schicken kann. Daran schließen die Studierenden Sensoren, also kleine Messgeräte.

Es ist Juni geworden. In den Hochbeeten bewegen sich kleine Grashalme und erste bunte Blüten im Wind. Mit Plastikstäbchen stecken die Studierenden die Sensoren zwischen die Gräser: Kleine Kästchen mit Fühlern für Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Luftdruck, CO2-Gehalt, Licht- und Farbwerte. Die erfassten Daten werden über bunte Kabel an einen der neun M5-Stacks übertragen. Von hier aus sammeln sich die Messwerte in einer Online-Datenbank. Dabei sind die ständige Versorgung mit Strom und der Zugang zum Internet wichtig.

Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Luftdruck, CO2-Gehalt, Licht- und Farbwerte – wenn alles funktioniert, werden die Werte alle 30 Minuten auf den drei Wiesen erfasst. Daraus entstehen mehr als 35.000 Datenpunkte. Die nächste Herausforderung für die Studierenden ist es nun, eine Erzählung rund um die Daten zu finden.

„Da habe ich gemerkt, wie wichtig mir diese Wiesen geworden sind. Wir haben da nicht nur Sensoren reingesteckt. Da ist eine Beziehung gewachsen.“ Sebastian Pranz, Seminarleiter

Durch den Verlauf des Sommers und das Wachstum haben die Geschichten eine natürliche Dramaturgie. Aber wie spricht eine Wiese? Was für einen Charakter hat eine Fettwiese? Jakob Vicari sagt: „Eine Wiese ist etwas Übergeordnetes, eher eine WG aus verschiedenen Pflanzen, eine Meta-Figur. Dadurch ist die Wiese freier in ihrem Charakter.“

Die Studierenden überlegen sich, wie sie die Wiesen zum Sprechen bringen wollen. Yasmina El Aallali erzählt von der Entscheidung in ihrer Gruppe: „Eine bunte, nährstoffarme Wiese, die mit allem klarkommt, ist für uns wie ein offener, selbstbewusster, widerstandsfähiger Mensch. Die Fettwiese ist für uns ehrgeizig, ernst, organisiert und vielleicht etwas egoistisch. Die optischen Unterschiede zwischen den Wiesen wurden so zu Charakteren.“ Die Namen haben die Studierenden passend zu den Anfangsbuchstaben der Wiesenarten ausgewählt. Die Fettwiese wird zu Ferdi, die Magerwiese zu Maggie.

Yasmina und ihre Kommiliton:innen überlegen sich, wie die verschiedenen Charaktere auf Fragen antworten. Mit dem Tool Voiceflow bauen sie aus diesen Textbausteinen dann interaktive Dialoge. Das Script erkennt die Fragen im Gespräch mit Interessierten und sucht die passende Antwort aus.

Vier Prototypen

Schließlich sind die Dialoge fertig, es haben sich genug Messwerte in der Datenbank gesammelt. Studierende und Dozenten hoffen, dass beides zusammenpasst: „Bisher waren das alles Bruchstücke. Wir haben über Biodiversität gelernt, Sensoren programmiert, WhatsApp-Dialoge gebaut. Plötzlich funktioniert das alles in einem intelligenten System und entwickelt ein Eigenleben“, sagt Jakob Vicari.

Die Einbindung von echten Daten aus den Beeten in die interaktiven Dialoge klappt. So sprechen die Pflanzen zum Beispiel von den Temperaturen im Beet. Anfang Juli stellen die Studierenden ihre Ergebnisse vor. Yasmina El Aallali ist zufrieden: „In unserem Projekt verschmelzen Digitales und Physisches. Das macht das Thema greifbarer und auch für eine jüngere Zielgruppe interessant“. Sie ist überzeugt, dass bei einem Chat mit einer Wiese mehr über Artenvielfalt hängen bleibt, als bei einem trockenen Text.

Als exploratives Projekt konnte die Seminargruppe nicht alle ihre Ziele in einem Produkt vereinen. Dafür haben sie vier Prototypen veröffentlicht, die unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Die Biologin Scarlett Umlauf findet den Blickwinkel auf Wiesen innovativ: „Wiesen werden in diesem Projekt nicht als Hintergrundgrün wahrgenommen, sondern als sprechendes Lebewesen mit Bedürfnissen und Stress.“

Auch Sebastian Pranz und die Studierenden haben eine Nähe zu den Wiesen in ihrer Hochschule entwickelt. Er muss über ein Dach der Universität klettern, um den Wasserschlauch aus einem benachbarten Innenhof zu holen. „Da habe ich gemerkt, wie wichtig mir diese Wiesen geworden sind. Wir haben da nicht nur Sensoren reingesteckt. Da ist eine Beziehung gewachsen“, erzählt er. „Dadurch, dass wir mit den Pflanzen sprechen statt über sie, ist es eine ganz andere Haltung mit mehr Nähe und zeigt mehr die Dringlichkeit und Relevanz der Wiese für meinen Alltag und meine Zukunft.“

Was wird aus Ferdi?

Für einen Weiterbetrieb sollen jetzt Fördermittel akquiriert werden. Pranz und Vicari planen, dass Interessierte live-Daten abfragen können. So würden die Wiesen immer wieder über Veränderungen sprechen. Für Jakob Vicari ist das der große Vorteil der Technologie: „Dass die Menschen jeden Tag etwas Neues erfahren und so Fan der Wiese werden können“. Ferdi, die Fettwiese und seine Freunde sind auf jeden Fall dabei: „Jetzt, wo wir reden können, werden wir auch nicht mehr so schnell damit aufhören.“

Die Prototypen und Anleitungen finden Sie auf der Webseite: pflanzendialoge.de. Das Projekt wurde mit Mitteln des WPK Innovationsfonds Wissenschaftsjournalismus gefördert.

Carla Moritz ist Community-Journalistin. Sie gehört zum Team von tactile.news um Projektleiter Jakob Vicari, das innovative Projekte im Journalismus entwickelt.