Nur Krisen, Kriege, Katastrophen?
Sara Maria Manzo leitet das Innovationslabor von ARD-aktuell und fragt sich: Wie kommt die tagesschau an junge Leute ran? (Foto: NDR/Janis Röhlig)
Die tagesschau spürt Nachrichtenmüdigkeit beim Publikum. Sara Maria Manzo, Co-Leiterin des Innovationslabors von ARD-aktuell, erklärt in unserer Serie "Mein Blick auf den Journalismus", wie die Redaktion reagiert. Text: Sara Maria Manzo
09.04.2024
Als Russland im Februar 2022 die Ukraine angreift, macht Jule Schluss. Die 18-Jährige entfolgt allen Nachrichtenkanälen, die sie auf Instagram abonniert hat. Die schlechten Nachrichten sind ihr zu viel, erzählt uns die Schülerin aus Bayern später in einem Videocall. Jule gehört zu den Menschen in Deutschland, die wir als tagesschau noch zu wenig erreichen – und die sich zunehmend von Nachrichten abwenden. Jule hat zwar das Bedürfnis, informiert zu sein. Aber etwas anderes überwiegt: „Ich möchte mit guten Gedanken einschlafen“, sagt sie.
Jule ist kein Einzelfall: Die Pandemie, eine schwächelnde Wirtschaft, die Klimakrise und die Kriege in der Ukraine und in Nahost haben zwar kurzfristig dazu geführt, dass Menschen mehr Nachrichten konsumieren. Langfristig haben sie aber das Gegenteil bewirkt, das Interesse an Nachrichten insgesamt sinkt. Das zeigt der aktuelle Digital News Report des Reuters Instituts.
Für die Marke tagesschau ist das eine Herausforderung. Die Redaktion dahinter, ARD-aktuell, produziert rund um die Uhr Nachrichten für tagesschau und tagesthemen. Die Social-Media-Redaktion kümmert sich um Instagram, TikTok und andere Plattformen. Aber unser öffentlich-rechtlicher Auftrag ist es nicht nur, Nachrichten und Informationen zur Verfügung zu stellen, sondern die Menschen damit auch zu erreichen.
Wie das in Zeiten von Nachrichtenmüdigkeit funktioniert, damit beschäftigt sich das Innovationslabor von ARD-aktuell. Wir identifizieren potenzielle Zielgruppen und ihre Bedürfnisse an das Nachrichtenangebot. Das machen wir zu Beginn einer Formatentwicklung, aber auch dann, wenn wir mit den verschiedenen Redaktionen im Haus das bestehende Programm weiterentwickeln.
Weniger Zuschauer bei tagesschau und tagesthemen
Bei unseren klassischen Fernsehnachrichten im Ersten merken wir die Nachrichtenmüdigkeit an leicht sinkenden Zuschauerzahlen: Zwar ist die 20-Uhr-Ausgabe der tagesschau weiterhin mit Abstand Deutschlands meistgesehene Nachrichtensendung. Die durchschnittliche Zuschauerzahl ging jedoch von gut zehn Millionen Zuschauenden im Jahr 2022 (39,1% Marktanteil) zurück auf knapp 9,5 Millionen (38,5%). Diesen Trend gab es auch bei den tagesthemen: Weniger Zuschauende in absoluten Zahlen, die Quote ebenfalls leicht im Minus, das alles allerdings auf einem hohen Niveau im langjährigen Vergleich.
Die Autoren Benjamin Toff, Ruth Palmer und Rasmus Kleis Nielsen beschreiben in ihrem Buch Avoiding the News, dass Nachrichtenhäuser immer noch auf „One-size-fits-all“ setzen, statt Nachrichten auf die jeweiligen Zielgruppen zuzuschneiden. Dies funktioniere zwar in einer Welt, die von wenigen Massenmedien dominiert werde, schreiben die Autoren. Aber in einer Umgebung mit großer Wahlfreiheit, in welcher der Medienkonsum noch stärker entlang sozialer Linien und Interessengemeinschaften verlaufe, werde dieser Ansatz nicht mehr erfolgreich sein. Die tagesschau will deshalb auf ein ausdifferenziertes, für die jeweilige Plattform und Zielgruppe aufbereitetes Angebot setzen.
Strategien gegen Nachrichtenmüdigkeit im Fernsehen
Das Sendeteam arbeitet daran, die 20-Uhr-Ausgabe zu verändern und den Bedürfnisse der Zuschauenden besser gerecht zu werden. Das soll so gehen:
1. Mehr Schwerpunkte mit Hintergründen und lebensnahen Beispielen, um das Abstraktionsniveau zu senken und Politik anschaulich zu machen;
2. Höhere Erkläranteile, etwa Länder-Steckbriefe, Organisationsstrukturen, Übersichtsgrafiken bei Gesetzestexten oder Tarifeinigungen;
3. Konstruktive Ansätze. Wir berichten, wenn irgendwo etwas gut läuft oder innovative Ideen ausprobiert werden. Zum Beispiel, wenn sich ein Dorf irgendwo in Deutschland energieautark macht; medizinische Fortschritte oder technologische Neuentwicklungen bilden wir häufiger ab.
4. Meldungen aus Kultur, Sport oder beeindruckenden Wetterbilder zum Schluss, damit man am Ende der Sendung lacht oder staunt. Ein Bericht über den neuen Beatles-Song oder die Darts-WM zum Beispiel.
tagesschau.de soll künftig durch ein kompakteres Layout einen besseren Überblick über die Inhalte und Nachrichtenlage geben. Denn oft wollen Nutzerinnen und Nutzer nur kurz checken, ob etwas Wichtiges passiert ist.
Näher am Alltag der Zuschauer
Viele Nachrichtenthemen bleiben schwer greifbar, weil ihre Relevanz für die Leute nicht klar genug wird. „Was hat diese Nachricht mit mir zu tun?“ – diese Frage fiel mehr als einmal in Gesprächen mit denen, die sich mit Nachrichten schwertun. Dann können Inhalte schnell langweilen und überfordern. Oder, wie Jule sagt: „Ich muss mich durchkämpfen und mich zwingen, dranzubleiben.“
„Bei unseren klassischen Fernsehnachrichten im Ersten merken wir die Nachrichtenmüdigkeit an leicht sinkenden Zuschauerzahlen.“
Mit unseren Nachrichten versuchen wir deshalb so nah am Alltag der Menschen zu sein wie möglich, vor allem in den sozialen Netzwerken. Ein Beispiel: Die gestiegene Inflation im April 2022 erklärte das Team anhand eines Käsebrötchens. Das Posting gehört zu den erfolgreichsten Inhalten in dem Jahr überhaupt.
Auf Augenhöhe kommunizieren
Gemeinsam mit der Social-Media-Redaktion haben wir im Innovationslabor 2023 das tagesschau-Angebot auf Instagram um mehr erklärende, nutzwertige und lebensnahe Inhalte erweitert. Auch die gewählte Sprache spielt dabei eine Rolle. Wir bauen Nähe zur Community auf und kommunizieren mit ihr auf Augenhöhe. Im besten Falle gelingt das mit einer gewissen Portion Selbstironie – etwa beim Posting zur Legalisierung von Cannabis („Bubatz legal“), das mit der Erwartungshaltung gegenüber einer altehrwürdigen Marke wie der tagesschau bewusst gebrochen hat.
Dort sein, wo die Zielgruppe ist
Zudem sind wir auf den Plattformen präsent, wo sich unsere jungen Zielgruppen aufhalten. Seit vergangenem Jahr werden Inhalte neben TikTok, Instagram, YouTube, Facebook und X auch über tagesschau-Kanäle auf WhatsApp, Threads und Mastodon verbreitet. Gerade unsere Präsenz auf der chinesischen Plattform TikTok wurde mit Blick auf den Datenschutz und einer möglichen Inhalte-Zensur stark hinterfragt, insbesondere zum Start unseres Accounts. Auch wir berichten bis heute kritisch auf TikTok über TikTok. Bei aller Kritik gehört aber auch zur Wahrheit, dass wir Menschen, die nur mäßig bis gar nicht an Nachrichten interessiert sind, sonst nicht erreichen würden.
Gerade junge Menschen verbringen einen großen Teil ihrer Freizeit in den sozialen Netzwerken. Wir wollen denen, die dort Propaganda und Falschinformationen verbreiten, nicht das Feld überlassen.
Community fragt, tagesschau antwortet
Über die sozialen Netzwerke und über Messenger-Dienste erreicht die tagesschau mittlerweile mehr als 14 Millionen Konten. Um den Wissensstand und Bedürfnisse zu bestimmten Themen besser zu verstehen, haben wir unter anderem das Story-Format „Community-Frage“ entwickelt, in dem wir Antworten darauf geben, was unsere Nutzerinnen und Nutzer wissen wollen. Zum Beispiel: „Wieso wird die Tüte Gummibärchen kleiner, aber nicht günstiger?“
Neues Storytelling
Wenn wir mehr Menschen erreichen wollen, brauchen wir auch andere Formen, Nachrichten zu erzählen. Das versuchen wir mit unserem Format akkurat, das wir im Innovationslabor entwickelt haben. Wir haben bislang fünf Testfolgen veröffentlicht. akkurat richtet sich an 18- bis 24-Jährige, die vor allem auf YouTube unterwegs sind. Es ist eine narrative Mischform aus Information, Emotion und Unterhaltung mit einer eigenen Tonalität. Das Format hat klare Bezüge zur tagesschau und versucht gleichzeitig, nah bei der Zielgruppe zu sein und diese mit „Anspielungen auf Dinge, die ich kenne“ abzuholen, so hat es sich zum Beispiel die 20-jährige Alina von der tagesschau gewünscht.
„akkurat richtet sich an 18- bis 24-Jährige, die auf YouTube unterwegs sind – eine narrative Mischform aus Information, Emotion und Unterhaltung.“
Wir behandeln Themen, die auch ihren Platz in den klassischen Fernsehnachrichten finden, allerdings legen wir stärker den Fokus auf die Zielgruppe. Eine Folge befasst sich mit der Diskussion über die BAföG-Sätze, die vielen Studierenden nicht zum Leben reichen. Eine andere thematisiert sexuell übertragbare Infektionen, die sich bei jungen Menschen stark verbreiten („Geschlechtskrankheiten: Warum Kondome nicht immer schützen"). Unsere Botschaft lautet: Wir hören euch. Hier sitzen Journalist:innen, die nicht nur „senden“, sondern eure Belange ernstnehmen und sie in ihrer Berichterstattung abbilden.
Den Schmerzpunkt finden
Wir Journalist:innen neigen dazu, Annahmen über den Wissensstand der Zuschauenden und Lesenden zu treffen, anstatt ihn zu erfragen. Für jede Folge von akkurat fragen wir bei unseren Communities nach, was sie besonders beschäftigt. Die Rückmeldungen helfen uns, den Inhalt so zu strukturieren, dass wir bei jungen Menschen wirklich Gehör finden.
Zum Beispiel das Thema Alkohol: Der typische Journalistenreflex wäre, über die Risiken zu berichten und so auf die Gefahren für junge Menschen hinzuweisen. Dann ist man schnell die Spaßbremse. Wir konnten eher eine Verbindung zur Zielgruppe aufbauen, indem wir die Perspektive wechseln und die Fragen junger Menschen stellten: „Wie viel Alkohol ist noch okay?“ Wir haben natürlich trotzdem über die Probleme aufgeklärt, die mit dem Alkoholkonsum in jungen Jahren einhergehen können.
Wir sehen an den Performance-Zahlen (bislang insgesamt mehr als eine Million Aufrufe für die ersten vier Testfolgen) und den vielen positiven Rückmeldungen, dass akkurat als Nachrichtenformat der anderen Art erfolgreich ist. akkurat ist nicht das, was viele von der tagesschau erwarten würden, auch nicht die Zielgruppe. „Dass ich so ein Format mal von der tagesschau angeboten bekomme, hätte ich niemals erwartet“, kommentiert ein Nutzer auf YouTube. Das Format wurde für den diesjährigen Grimme-Preis nominiert.
Quellen und Fehler offenlegen
Alle Kolleg:innen im Haus wollen journalistisch einwandfreie Informationen vermitteln. Trotzdem passieren manchmal Fehler. Deshalb hat die Chefredaktion im vergangenen Jahr eine Korrekturseite eingerichtet. Auf tagesschau.de/korrekturen veröffentlichen alle ARD-aktuell-Redaktionen deshalb Punkte, an denen Fehler passiert sind.
Zu jeder Folge von akkurat veröffentlichen wir eine Quellenliste. Zuschauende haben dadurch die Möglichkeit, sich in bestimmte Aspekte genauer einzulesen und unsere Arbeit besser nachzuvollziehen. Die Quellenlisten zahlen dabei auf unser höchstes Gut ein: die Glaubwürdigkeit der Berichterstattung. Und sie werden von der Zielgruppe geschätzt, wie zahlreiche Kommentare zeigen.
Mit diesen Schritten versuchen wir, das Vertrauen in unsere Marke weiter zu stärken, auch durch klassische journalistische Tugenden wie Vielfalt und Gründlichkeit vor Schnelligkeit. Das Kerngeschäft der tagesschau ist weiterhin die tagesaktuelle Berichterstattung. Wir haben sie aber um mehr Erklärungen, Hintergründe und Bezügen zur Lebenswirklichkeit der Zielgruppen ergänzt – und wir versuchen, auch Informationen zu bieten, die Anlass zur Hoffnung geben. Wann immer das bei all den schlechten Nachrichten möglich ist.
Sara Maria Manzo ist Co-Leiterin des Innovationslabors von ARD-aktuell, der Redaktion hinter der tagesschau.