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Die Wiederentdeckung des Lokaljournalismus
Marc Rath: "Es geht um einen Journalismus auf Augenhöhe mit der Leser- und Userschaft" (Foto: Philipp Schulze)
In der Pandemie hat sich der Lokaljournalismus auf das konzentriert, was wichtig ist, sagt Marc Rath, langjähriger Chefredakteur der Landeszeitung für die Lüneburger Heide. Dafür müssen Journalisten wieder mehr raus auf die Straße. Text: Marc Rath
01.02.2022
Als 2020 ab Mitte März die erste Welle der COVID-19-Pandemie das Leben lahmlegte, entdeckten die Lokalredaktionen in Deutschland den echten Lokaljournalismus wieder. Plötzlich war der Terminkalender leer. Die wöchentliche Presserunde beim Bürgermeister - abgesagt. Ausschuss- und Ratssitzungen fanden allenfalls virtuell, manche auch im Umlaufverfahren oder gar nicht statt.
Die täglichen Routinen waren passé. Es gab sie einfach nicht mehr. Stattdessen stellten sich viele neue Fragen. Manche waren lebensnotwendig - ja, überlebensnotwendig. Auch für die eigene Branche. Viele Kolleginnen und Kollegen machten plötzlich wieder das, weswegen viele von ihnen diesen Beruf gewählt hatten - und konnten erleben und ausleben, wie es ist, wenn nicht übliche Regularien und Hierarchien den Alltag bestimmen. Die eigene Neugier, die Frage nach dem, was die Menschen gerade wirklich bewegt und nach neuen Informationen, die helfen einzuordnen und die Krise zu bewältigen, prägten in dieser ersten Corona-Phase den Redaktionsalltag.
Viele Lokalzeitungsausgaben aus dieser Zeit werden als die besten vergangenen Jahre im Gedächtnis bleiben - nicht nur bei ihren Macherinnen und Machern, sondern bei den Leserinnen und Lesern. Mir haben niemals zuvor so viele auf der Straße oder am Telefon „Wie gut, dass es Sie gibt“ oder „Halten Sie bitte durch“ zugerufen. Und mancher hat mir in dieser Zeit berichtet, dass er den Lokalteil, mit dem bei der Landeszeitung die Zeitung beginnt, gar nicht mehr in der üblichen Zeit schafft, die er - oder sie - sich für die Lektüre reserviert hat. Es gibt für uns wohl kaum ein schöneres Kompliment. Zumal die Zeitung insgesamt - und das nicht nur wegen des geringeren Anzeigenteils - aus Kostengründen dünner geworden war.
Zeit für Rückbesinnung
Die Corona-Pandemie bekommen wir hoffentlich irgendwann wieder in den Griff. Aber was lernen wir aus diesen Wochen und Monaten 2020 für uns? Ich hoffe, eine ganze Menge. Es ist Zeit für eine Rückbesinnung. Für eine Wiederentdeckung des Lokaljournalismus, die für manche vielleicht sogar eine neue Entdeckung sein mag. Umso besser.
"Die täglichen Routinen waren passé. Es gab sie einfach nicht mehr."
Zum Blick nach vorn gehört der Blick zurück. Wo stehen wir? Unser Beruf hat sich zunehmend technisiert. Ich kann heute nicht nur per mobilem Telefon, sondern auch per Mail und via Messenger-Diensten meine Gesprächspartnerinnen und -partner zu praktisch jeder Zeit erreichen. Das macht unsere Arbeit schneller. Aber wird sie dadurch auch besser? Zu oft erlebe ich, wie ein Nachfassen zu einer Frage über eine Rundmail an die Fraktionschefs im Rat nicht hinausgeht. Die schicken inzwischen routiniert druckreife Sätze. Und die werden dann mitunter eins-zu-eins in den Text gehoben. Das früher übliche und wichtige Nachfragen in einem direkten Gespräch unterbleibt inzwischen viel zu oft. Zudem gibt es in Landratsämtern, Rathäusern und anderen Einrichtungen in den Kommunen inzwischen stetig wachsende Stäbe für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Anstelle von Pressegesprächen, die auch die Gelegenheit für Nachfragen und einen Austausch ermöglichen, kommen selbst auf dem Lande im elektronischen Redaktionspostfach zunehmend druckreife Pressemitteilungen mit ansprechendem Bildmaterial an, die die Absender ins beste Licht rücken - in der Hoffnung, dass es mit Copy-and-Paste ins Blatt und die anderen Kanäle gehoben wird. Ersteres ist bis zu einem gewissen Grad legitim, letzteres geschieht leider häufig. Auf der Strecke bleibt dann oftmals die eigene Recherche.
In manchen Redaktionen gibt es überdies eine selbstgewählte Gefangenschaft im Dreieck von Terminjournalismus, Mailordner und Tagesregularien. Doch die besten Geschichten liegen auf der Straße. Und sie müssen auch nicht immer groß und lang sein. Um sie zu finden, muss man aber rausgehen.
So oft wie möglich draußen sein
Wenn Corona etwas Gutes hatte, dann gehört in jedem Fall dazu, wie schnell in einzelnen Redaktionen jetzt neue Strukturen geschaffen wurden. Homeoffice, mobile Arbeitsplätze, schlankere und bessere Planungsprozesse gehören heute fast überall zum Alltag. Das schafft auch die Zeit für Recherche und um eben raus aufs Land zu gehen. Jetzt darf es keinen Rückfall mehr in alte Zeiten geben.
Es geht darum, dass nicht mehr möglichst viele in die Redaktionen zurückkommen. Sondern, dass sie so oft wie möglich draußen sind. Laptops und Smartphones ersetzen Schreibtisch und Rechner für die Reporterteams. Das haben einige Häuser schon vor der Pandemie vorgemacht.
Mit diesem Geist und dieser Ausstattung müssen aber auch die Inhalte andere werden. Wer eine Tour über die Dörfer allein mit den Kaffeerunden bei den Ortsoberhäuptern verwechselt, kann sich Sprit und Aufwand auch sparen. Dann kämen wir auch im digitalen Zeitalter wieder dort an, wo deutsche Tageszeitungen vor zwei Jahrhunderten mal starteten, als einstmals unter der Dorflinde der Bürgermeister, der Pfarrer und der Lehrer mit dem Schriftleiter des örtlichen Kreisintelligenzblattes oder Generalanzeigers besprachen, was das gemeine Volk denn erfahren dürfe und wie es ihm am besten nahegebracht werden solle.
"In manchen Redaktionen gibt es eine selbstgewählte Gefangenschaft im Dreieck von Terminjournalismus, Mailordner und Tagesregularien. Doch die besten Geschichten liegen auf der Straße.“
Nicht erst seit heute muss es um einen Journalismus auf Augenhöhe mit der Leser- und Userschaft gehen. Aber gerade jetzt in den Zeiten einer allgemeinen Verunsicherung und größer werdender Skepsis auch gegenüber uns Medien ist es wichtig, dass wir deutlich machen, wo und wie wir verortet sind.
16- bis 96-Jährige umfassend informieren
Die große Chance in der heutigen Zeit ist, dass wir über unsere verschiedenen Kanäle wirklich 16- bis 96-Jährige erreichen können. Aber nicht mit den gleichen Inhalten. Und selbst bei den gleichen Themen gilt es, sie aus und für unterschiedliche Blickwinkel zielgruppengerecht aufzubereiten. Wenn etwa in einem Landkreis die Berechnung der Kita-Gebühren von festen Sätzen auf eine einkommensabhängige Berechnung umgestellt wird, möchten die zumeist jungen Eltern erfahren, was das für sie genau bedeutet. So genau wollen es Senioren vielleicht nicht wissen. Aber sie wollen verstehen, was da gerade passiert und was das bedeutet. Oft berichten wir dagegen mit dem Fokus auf die Folgen für die Stadtkasse. Das ist - auch - wichtig, geht aber an den Bedürfnissen derer, für die wir eigentlich schreiben, vorbei.
Bei der Kommunalwahl in Niedersachsen im Herbst 2021 haben wir bei der Landeszeitung genau das versucht. Wir haben die 46- bis 96-Jährigen in der Printausgabe umfassend informiert und die 16- bis 46-Jährigen über unsere digitalen Angebote. Manches war gleich, vieles aber anders.
Mit dem gedruckten Tanker und den digitalen Schnellbooten haben wir nunmehr die Chance, wirklich alle Altersgruppen zu erreichen. Das hat die gedruckte Ausgabe allein früher nicht geschafft, wenn wir ehrlich sind. Es gab nur damals keine Alternativen. Nur wenige Themen und Texte funktionieren so, dass sie die Lebenswirklichkeit von Großeltern und Enkeln gleichermaßen treffen.
Nicht zuletzt gehört dazu, dass sich der Journalismus wieder als Lokaljournalismus im besten Sinne des Wortes versteht. Wir Journalistinnen und Journalisten müssen die Orte nicht nur kennen, über die wir schreiben. Wir müssen dort ansprechbar sein und auf Augenhöhe agieren. Dabei können wir heute im direkten Gespräch, aber auch über unsere digitalen Kanäle auch weit mehr leisten - Foren des Austausches anbieten, Transparenz und Aufklärung schaffen.
Das muss nicht zuletzt in der gedruckten Ausgabe auch zu lesen sein. Hier sind viele Verlage zuletzt auf dem Rückzug gewesen und haben eher auf die „großen Geschichten“ gesetzt. Die sind zweifellos das Salz in der Suppe. Aber wenn sich im Lokalteil fast ganzseitige Artikel Seite an Seite reihen, wird die Mischung gleichförmig und es fehlt die lokale Einlage.
Das Feld nicht allein Facebook & Co. überlassen
Die Volksstimme im Norden von Sachsen-Anhalt ist sehr konsequent den Weg gegangen, in der Fläche präsent zu sein. Die Kolleginnen und Kollegen arbeiten mit festen Verträgen, zumeist nicht als Angestellte. Sie wohnen aber in der Regel im Gebiet „ihrer“ Verbands- oder Einheitsgemeinde, kennen dort nicht nur fast jeden Stein, sondern wirklich „Gott und die Welt“ - und füllen damit täglich eine halbe bis ganze Tageszeitungsseite.
Das Konzept wurde oft belächelt, trägt aber Früchte. Die Haushaltsabdeckung der Volksstimme bei ihren beiden Harz-Ausgaben Halberstadt und Wernigerode ist signifikant höher als bei der benachbarten Mitteldeutschen Zeitung im Altkreis Quedlinburg. Alle drei Gebiete sind strukturell vergleichbar – der größte Unterschied der beiden Zeitungstitel liegt im Lokalteil: Während die Volksstimme jedes Gebiet täglich im Blatt hat, setzt die MZ mehr auf thematische Schwerpunkte.
Die richtige Würze ist dann durch das digitale Angebot möglich. Hier sollten Verlage lokale Mitmach- und Austausch-Plattformen anbieten und dieses Feld nicht allein Facebook & Co. überlassen. Bei der Landeszeitung in Lüneburg folgen wir dem Beispiel der Harke aus Nienburg und haben seit Ende 2020 in Zusammenarbeit mit dem Startup „Lopo-Lokalportal Media“ ein „Lokalportal“ für den Landkreis Lüneburg aufgebaut, das genau diese Möglichkeiten anbietet und unser journalistisches Angebot um eine Community-Möglichkeit erweitert.
"Als 2020 ab Mitte März die erste Welle der COVID-19-Pandemie das Leben lahmlegte, entdeckten die Lokalredaktionen in Deutschland den echten Lokaljournalismus wieder"
Viele Enkelkinder haben ihren Großeltern inzwischen die sinnvolle Nutzung von Messenger-Diensten beigebracht, so dass sich auch die ältere Generation Bilder vom sonnabendlichen Dorffest schon am Sonntag auf ihrem Smartphone angucken kann. Bild und Bericht am Montag in der Lokalzeitung gehören dazu, sind aber selbst für die ältere Generation nicht mehr die einzige Nachrichtenquelle und haben ihre Exklusivität - „Guck mal eine ganz Bilderseite, und das auch noch in Farbe“ - längst eingebüßt.
Journalismus studieren ist kein Muss
Diese Veränderungen machen auch vor unserem Berufsbild nicht Halt. Wir müssen diverser werden. Und das nicht nur kulturell. Die Trennung in Desk- und Reporterteams ist längst nicht in allen Häusern vollzogen. Doch dabei bleibt es nicht. In digitalen Einheiten gibt es bereits unterschiedliches Spezialwissen. Bei den Reportern müssen auch nicht alle investigativ recherchieren. Was wir brauchen, sind auch Kolleginnen und Kollegen, die das Land nicht nur lieben, sondern auch leben. Dazu kann man Journalismus studiert haben, muss es aber nicht.
Braucht es unbedingt einen Hochschulabschluss? Journalistisches Handwerk lässt sich auch lernen, wer eine Ausbildung absolviert hat und mitten im Leben steht. Gerade im Lokalen finden Letztgenannte womöglich einen viel besseren Draht zu den Leuten und ihren Themen. Ich selbst habe auch schon tolle Erfahrungen mit Kolleginnen und Kollegen gemacht, die „nur“ mit einem Realschul-Abschluss angefangen haben. Genauso wie mit einem Koch oder einem Sozialarbeiter, der die Seiten gewechselt hat. Das sind Ausnahmen im Alltag, aber sie sollte es geben.
Viele Redaktionen im Westen sind dagegen über Jahrzehnte hinweg recht gleichförmig besetzt worden. Im Osten Deutschlands waren in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur die Brüche größer. Hier sind auch mehr Quereinsteiger zu finden. Aus der Mitte des Lebens. Für den Lokaljournalismus war und ist das eine Chance, denn sie sind näher dran. Sie sehen auch das Kleine - und diese Mischung macht uns erst groß.
Marc Rath, Jahrgang 1966, war von 2018 bis Anfang 2022 Chefredakteur der Landeszeitung für die Lüneburger Heide. Zuvor koordinierte er als Mitglied der Chefredaktion die Lokalausgaben der Volksstimme. Im Februar 2022 übernimmt Rath die Chefredaktion der Mitteldeutschen Zeitung in Halle.
Dieser Beitrag ist in einer Kooperation von Vocer und dem journalist entstanden. Der Beitrag wird in dem Buch "Wie wir den Journalismus widerstandfähiger machen" erscheinen. Herausgeber sind Vocer-Mitgründer Stephan Weichert und journalist-Chefredakteur Matthias Daniel.
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