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"Ist die Lage wirklich so dramatisch?"

Jürgen Overkott kümmert sich gerade um die Renovierung der Redaktionsräume in Balve. Auslöser dafür war das Hochwasser vom 14. Juli 2021. Balve gehörte zu den hauptbetroffenen Städten im Märkischen Kreis . Im WP-Keller stand das Grundwasser 40 Zentimeter hoch. Neueröffnung ist Ende Mai.

In der April-Ausgabe schrieb Sebastian Dalkowski, warum er in der Lokalredaktion nicht glücklich wurde. Hier antwortet Jürgen Overkott, Redakteur bei der Westfalenpost, warum er seinen Job als Alleinredakteur im sauerländischen Balve gerne macht – und dass Storytelling wie in der Zeit auch im Lokalen möglich ist.

28.04.2022

"Ich könnte glücklich werden bei in einer Lokalredaktion oder bei einer Regionalzeitung, wenn diese nicht so wären: zu lieblos, zu mutlos, zu schlecht besetzt, zu tot." Auf diese Formel hat Sebastian Dalkowski seinen beruflichen Frust gebracht. Ist die Lage wirklich so bedrückend dramatisch?

Zur Wahrheit gehört: Ich habe mich nicht danach gedrängt, auf dem Dorf im Sauerland zu arbeiten. Doch der Appetit kam, wie es so schön heißt, beim Essen.

Balve ist eine dörfliche Stadt am Nordrand des Sauerlands, knapp 12.000 Einwohner, Hagen und Dortmund sind jeweils in einer knappen Stunde erreichbar, von Tür zu Tür, und doch scheinen die Großstädte weit weg zu sein. Ich komme aus der Großstadt. Doch ich arbeite auf dem Dorf.

Und noch etwas kommt dazu (an dieser Stelle hat Sebastian Dalkowski recht): Ich bin Alleinredakteur; der Stellenplan war einst deutlich größer. Erscheinungstäglich schrubbe ich 1,8 Seiten. Online geht extra. An manchen Tagen fühlt sich der Job so an, als stünde bei der Tour de France 21-mal Alpe d’Huez an, hintereinander. 

So könnte eine Geschichte des Scheiterns anfangen. Doch so weit es nicht gekommen. Im Gegenteil. Was ist passiert?

Sehr schnell habe ich gemerkt, dass mein Publikum die Zeitung nicht mag – es liebt sie. Balve hat die höchste Haushaltsabdeckung im nordrhein-westfälischen Funke-Imperium. Noch immer liegt die Haushaltsabdeckung bei 30 Prozent. Meine Vorgänger haben gute Arbeit geleistet.

Und weil mein Publikum die lokale Berichterstattung liebt, sind seine Reaktionen direkt: bei Kritik und, gelegentlich, auch bei Lob. Gleichgültig sind sie nie.

"Ich habe gelernt: Mit Vereinsberichterstattung ist kein Blumentopf zu gewinnen. Aber ohne sie kann ich den ganzen Garten verlieren."

Meine Aufgabe bestand darin, herauszufinden, wie meine Leserschaft tickt. Was geht im Print? Was läuft online? Was funktioniert auf allen Kanälen?

Wenig überraschend mag das Publikum die in der Kollegenschaft geringgeschätzte Vereinsberichterstattung. Kein Wunder. Die Kennziffern: 12.000 Einwohner, 120 Vereine, Mehrfachmitgliedschaften sind nicht die Ausnahme; sie sind die Regel. Vereine sind ein Schutz- und Trutzbündnis. Ihre Arbeit fängt da an, wo der Staat aufhört. Ehrenamt geht nahtlos in Nachbarschaftshilfe über – ein Grund, warum Balve die Folgen des Jahrhundert-Hochwassers vom vorigen Juli überraschend gut gewuppt hat.

Ich habe gelernt: Mit Vereinsberichterstattung ist kein Blumentopf zu gewinnen. Aber ohne sie kann ich den ganzen Garten verlieren. Mehr noch: Ich musste über die Vereinsberichterstattung Vertrauen auf dem Dorf aufbauen. Das ist Voraussetzung für exklusive Geschichten. Ich habe lange daran gearbeitet, meine Botschaften auszusenden:

1. Persönliche Präsenz ist die härteste Währung auf dem Dorf. Homeoffice ist auf Dauer keine Option. Ich habe auch in der Pandemie vor Ort gearbeitet. Es fiel mir leicht. Ich habe ein Einzelbüro.

2. Ich höre zu. Ich will wissen, wie mein Publikum tickt. 

3. Gespräche werden nachrichtlich zusammengefasst. Das habe ich in langen Jahren in einer Nachrichtenredaktion gelernt. Ich biete dpa-Standard fürs Dorf. Es gibt niemals eine zugespitzte Zusammenfassung, um maximale Skandalisierung von Inhalten zu erreichen. Gespräche unter Dreien bleiben unter Dreien. Privates bleibt privat.

4. Ich moderiere die politische Debatte in der Stadt. Vielfalt der Standpunkte wird nicht geduldet; sie ist erwünscht.

5. Kommentare argumentieren. Polemik und Befindlichkeiten bleiben außen vor.

Ich arbeite seit vier Jahren daran, mein Ziel zu erreichen. Zur Wahrheit gehört: Es war eine long and winding road. Aber ich schätze, die Passhöhe ist nur noch eine Serpentine entfernt.

Aber wenn ich mit Vereinsberichterstattung keinen Blumentopf gewinnen kann, womit, bitte, kann ich Lorbeer ernten?

Ich biete Standard plus. In meiner Zeit als Redakteur der Medienseite des Content-Desks NRW der damaligen WAZ-Gruppe musste ich stets zwei Saure-Gurken-Zeiten überbrücken: eine kurze zu Jahresbeginn und eine lange zwischen Juni und September. Not macht erfinderisch. Der Trend ging zum selbst gesetzten Thema. Es ging gar nicht anders.

Und genau diese Tugend kam und kommt mir auf dem Dorf zupass. Ich habe in der Corona-Zeit keine Termine gebraucht. An Themen hat es nicht gefehlt, darunter etliche ohne direkte Linie von der Tagesschau in die Lokalausgabe. Beispielsweise habe ich die Corona-Flaute Anfang dieses Jahres genutzt, um ein denkwürdiges Jubiläum zu würdigen. 1947 entschieden die Briten, die als Kriegsbetrieb missbrauchte Balver Höhle zu sprengen. Im September jährt sich die Rettung zum 75. Mal. Warum sollte Storytelling wie in der Zeit nicht auch in der lokalen Ausgabe möglich sein? Geschichte als Geschichte erzählen, jedes Detail recherchiert. Die Serie war Stadtgespräch. Folge-Themen sind bereits geplant.

Bei der Entwicklung von Themen stelle ich mir Fragen:

- Gibt es für bundes- oder landesweite Entwicklungen ein lokales Echo? Gibt es Abweichungen? Was läuft gegen den Trend? Das gilt für Themen aus allen Ressorts, vom Sozialen bis zu hin zu Wirtschaft. Mantelerfahrung hilft.

- Wie kann ich Information mit einem wohl verstandenen Schuss Emotion interessanter machen? Storytelling mit Reportage-Elementen wird belohnt.

- Welche Themen hat eine lokale Gesprächspartnerin, ein Gesprächspartner nebenher eingestreut, ohne ihre wirkliche Bedeutung zu erkennen? Das Zauberwort heißt aktives Zuhören.

Ich habe lange dafür gebraucht, um Themen-Findung zur Tagesroutine zu machen. Aber dieser Muskel lässt sich trainieren.

Kann ein derartiger Anspruch allein umgesetzt werden? Natürlich nicht. Mir war und ist bewusst, dass ich immer der Redakteur von außen sein werde. Genau deshalb ist es mir wichtig, freie Mitarbeiter zu gewinnen, die möglichst vor Ort wohnen. Die Rekrutierung freier Mitarbeiter gleicht auf dem Dorf einer Mission impossible. Warum?

"Die Währung heißt Wertschätzung. Jede Mitarbeiterin, jeder Mitarbeiter wird präzise gebrieft. Ideen sind willkommen."

Balve hat kein Gymnasium; nicht einmal eine Gesamtschule gibt es. Wer die Oberstufe besucht, muss fahren – nach Menden, nach Sundern, nach Altena. Freie Zeit ist für Oberstufler rare Ware. Zudem ist Journalismus längst nicht mehr so sexy wie ehedem. Dennoch ist es mir gelungen, ein Team aufzubauen. Die Währung heißt Wertschätzung. Jede Mitarbeiterin, jeder Mitarbeiter wird präzise gebrieft. Ideen sind willkommen. Macht sie oder er eine gute Figur, mache ich eine gute Figur.

Bin ich deswegen Tom Cruise? Keineswegs. Zu alt, zu dick, zu wenig Haare. Die Wahrheit ist natürlich profaner. Erst hatte ich kein Pech, und dann kam noch Glück dazu.

Ach ja, eines habe ich bisher nicht erwähnt, und das macht die Alpe-d’Huez-Etappen meist erträglich: maximale Entscheidungsfreiheit. 

Jürgen Overkott (60) ist Alleinredakteur bei der Funke Medien-Gruppe in Balve, Sauerland. Nach Studium und Volontariat war er in der Nachrichtenredaktion der "Westfälischen Rundschau" in Dortmund und später zuständig für die Medienseite des Content Desk der WAZ-Gruppe NRW in Essen.

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