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Im Desinformationskrieg
Rettungskräfte und Freiwillige tragen eine verletzte schwangere Frau aus einem Entbindungsheim in Mariupol, das unter Beschuss geraten war. Im Netz kursiert dazu die Geschichte einer angeblichen Schauspielerin, die Faktenchecks als Lüge überführt haben (Illustration: Tim Möller-Kaya).
Der russische Überfall auf die Ukraine wird von einer Flut von Desinformation und Propaganda begleitet. Das Repertoire der Manipulation reicht von plumpen Bild-Fälschungen bis zu dreisten Lügen des russischen Staats. Im Kampf um die Wahrheit über Bombardierungen und Kriegsverbrechen muss der Journalismus sein ganzes Arsenal aufbieten – von detektivischer Kleinarbeit bis zur großen Analyse. Text: Michael Kraske.
06.05.2022
Auf den ersten Blick könnte man den Artikel für eine detailreiche Beweisführung halten. Unter der Überschrift "Russland bombardiert eine Geburtsklinik? Marianna und die neue Brutkastenlüge" bezichtigt der Blogger Thomas Röper die ukrainische Regierung und Journalisten der "Kriegspropaganda". Der Autor gibt die Position der "russischen Streitkräfte" wieder, wonach die Klinik in Mariupol zum Zeitpunkt des Angriffs "zu einem Stützpunkt des Asow-Bataillons umfunktioniert worden" sei. Dagegen behaupte die ukrainische Regierung, Russland habe eine Geburtsklinik bombardiert. Einerseits, andererseits – so simuliert Röper eigene Objektivität und verspricht eine "Spurensuche" mit dem Fazit: Der "angebliche Luftangriff auf die Geburtsklinik", der weltweit für Entsetzen sorgte, sei eine Inszenierung, die vermeintlichen Opfer "Schauspieler".
Röper ist unter anderem Co-Autor des Buchs Vladimr Putin: Seht Ihr, was Ihr angerichtet habt?, als Wohnsitz wird Sankt Petersburg angegeben. Als wichtigsten Beweis seiner "Spurensuche" im Fall Mariupol veröffentlicht Röper Fotos einer jungen Frau, Marianna, einer ukrainischen Beauty-Bloggerin, die angeblich in verschiedenen Rollen auftrete. Mal gehe sie selbst eine Treppe hinunter, mal werde sie "auf der Bahre die gleiche Treppe hinuntergetragen". Bei genauerem Hinsehen stelle man fest, "dass es die gleiche junge Frau ist", so der Blogger: "Jeder kann ohne allzu große Probleme erkennen, dass die Aufnahmen von dem angeblichen russischen Angriff gestellt sind." Veröffentlicht wurde der Artikel auf Röpers Blog anti-spiegel.ru, das das gemeinnützige Center für Monitoring, Analyse und Strategie (Cemas) hierzulande zu den reichweitenstarken Kanälen im verschwörungsideologischen Milieu zählt.
"Der Fall des Angriffs auf die Klinik in Mariupol zeigt typische Muster von Desinformation."
Wie etliche Kolleg:innen von dpa oder ZDF hat auch die Faktencheckerin Sarah Thust von Correctiv mit ihrem Team die Erzählung über die angebliche Inszenierung in Mariupol geprüft. Sie haben Bilder verglichen und Berichte vor Ort ausgewertet. Correctiv kommt zu dem eindeutigen Ergebnis: "Nein, diese Fotos verletzter Frauen belegen keinen inszenierten Angriff." Die abgebildete Bloggerin und die Frau auf der Bahre seien zwei verschiedene Frauen. Die Verletzte auf der Bahre habe andere Gesichtszüge und sei Recherchen der Nachrichtenagentur AP zufolge später verstorben. Bei der Frau in dem auffällig gepunkteten Pyjama handele es sich dagegen tatsächlich um eine Bloggerin, die zuvor auf Instagram ihre Schwangerschaft dokumentiert hat. Später hat AP über die Geburt ihres Kindes berichtet.
Während in den Medien zwei verschiedene Nachnamen der Frau kursieren, was Thust mit dem Verweis auf deren Mädchennamen sowie den Namen ihres Manns erklärt, nahm Correctiv den Nachnamen schließlich ganz aus dem Text. "Um die Frau zu schützen", wie Thust sagt. Eigentlich hätten auch die Gesichter verpixelt werden müssen. Doch angesichts des ungeheuerlichen Vorwurfs standen die Medien unter Druck. Am Ende hatte Priorität, die Geschichte von der angeblichen Schauspielerin als Lüge zu überführen. Um auch am konkreten Beispiel zu zeigen, woran Reportagen, Bildmaterial und Augenzeugenberichte keinen vernünftigen Zweifel zulassen: dass die russische Armee entgegen offizieller Beteuerungen systematisch zivile Ziele und die Zivilbevölkerung bombardiert, was als Kriegsverbrechen gilt. Dass russische Soldaten bei ihren Angriffen nicht vor Schwangeren und Kindern Halt machen.
Der Fall des Angriffs auf die Klinik in Mariupol zeigt beispielhaft typische Muster von Desinformation, wie sie im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine kursieren. Da sind die Foren und Blogs, die russische Desinformation verstärken und verbreiten wie eben anti-spiegel.ru. Und staatliche russische Akteure treten als Quellen auf, weil sie auf Twitter anders als Privatpersonen nicht effektiv belangt werden können. So war es die russische Botschaft in London, die auf Twitter Fotos der jungen Bloggerin veröffentlichte und sie als Schauspielerin an den Pranger stellte. Die russische Botschaft sei in dieser Kampagne eindeutig als Akteur zu identifizieren, so Faktencheckerin Thust. Gleichwohl lasse sich der Urheber der Desinformation bisher nicht rekonstruieren.
Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar werden die sozialen Medien wie Twitter, Instagram, Telegram, Facebook und Tiktok mit Fotos und Videoschnipseln über den Krieg geflutet. Von explodierenden Panzern über ausgebombte Häuserskelette bis hin zu tanzenden Uniformierten, die angeblich ukrainische Soldaten zwischen den Gefechten zeigen. Wohl noch nie gab es so viel Bildmaterial von einem Krieg. Ob es authentisch ist oder nicht – für User ohne digitales Know-how ist das schwer zu unterscheiden.
"Wohl noch nie gab es so viel Bildmaterial von einem Krieg. Ob es authentisch ist, ist oft schwer zu sagen."
Eine besondere Rolle spielt Tiktok. Marcus Bösch, der an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) in Hamburg über die Plattform forscht, erklärt das mit dessen Alleinstellungsmerkmalen. Dort kann man nämlich auch Videos runterladen, um sie andernorts zu teilen. Zudem ermöglicht es der Algorhitmus, schon mit den ersten Videos ganz ohne Followerschaft enorme Reichweiten zu erzielen. Laut Tagesschau-Faktenfinder wurden Videos mit dem Hashtag #Ukraine auf Tiktok innerhalb weniger Tage mehr als 22 Milliarden Mal geklickt. Einzelne Clips erreichten über 80 Millionen Aufrufe.
Schon vor Kriegsbeginn hätten ganz normale User begonnen, Videos von russischen Truppenbewegungen hochzuladen, so Medienforscher Bösch. Bis heute gebe es "eine Vielzahl von Quellen aus erster Hand" über den Krieg. Vom ersten "Tiktok-Krieg" ist die Rede. Bösch beobachtet, dass die Plattform vielfach Ausgangspunkt von Desinformation ist, die sich dann crossmedial von Instagram bis Telegram verbreitet: "Von Misinformation aus Unwissen bis hin zu staatlicher Desinformation gibt es ganz unterschiedliche Spielarten." So würden etwa Sounds aus dem Krieg über Videos aus ganz anderen Kontexten gelegt. Unterschiedliche Zielgruppen werden mit einer jeweils speziellen Ästhetik angesprochen. Videos für urbane Influencer nutzen moderne Musik, für Ältere gibt es Sonnenaufgänge, Sinnsprüche und Nationalhymnen. Die russische Propaganda, auf die Bösch bei seinen Analysen stößt, reiche von stümperhaften Videos bis zu "hochdiffizilen, professionellen Kampagnen". Vom plump animiert tanzenden Putin bis zur durchgestylten Tanz-Choreographie einer jungen Frau, die am Ende ein Z formt. "Damit holt sie das russische Kriegs-Symbol in die Popkultur", sagt Bösch. "Die Wiederholung einfacher Botschaften zeigt wahrscheinlich durchaus Wirkung. Immerhin verbringen Nutzer Zeit damit." Was der Algorithmus mit noch mehr Reichweite belohnt.
In Deutschland gebe es mittlerweile 15 Millionen Tiktok-Nutzer, vier Millionen mehr als alle deutschen Schüler zusammen, die damit Zugang zu echten oder vermeintlichen Kriegs-Videos haben, so der Forscher: "Journalistinnen und Journalisten werden in dieser neuen Unübersichtlichkeit händeringend gebraucht, um herauszufinden, was wahr ist und was nicht." Falschinformationen sollten übrigens da richtiggestellt werden, wo sie kursieren, mahnt der Forscher – nämlich auf den Plattformen: "Die Tagesschau macht auf Tiktok schon einen super Job, andere können und sollten da angesichts der riesigen Relevanz ebenfalls aktiver werden."
Derweil verbreitet der russische Staat unablässig Propaganda-Narrative: Der Krieg wird als "Spezialoperation" verharmlost. Mal wird die "Entnazifizierung" der Ukraine als Kriegsziel benannt, mal die Verhinderung eines "Genozids" im Osten des Landes, dann wieder geht es um angebliche ukrainische Biowaffen-Labore. Nach dem Massaker in Butscha hat Patrick Gensing vom Tagesschau-Faktenfinder appelliert, bei aller notwendigen Sorgfalt im Einzelfall nicht zu vergessen, dass der Kreml seit Jahren "systematisch lügt". Der russische Angriffskrieg basiere mithin auf "Lügen und Verschwörungslegenden". Gensing nennt es angesichts der vielfach dokumentierten Angriffe auf die Zivilbevölkerung einen "Holzweg", grundlos jedes journalistische Bilddokument anzuzweifeln. Das Spektrum russischer Desinformation reicht von verwackelten Video-Schnipseln bis zu offiziellen Erklärungen von Außenminister Lawrow oder Präsident Putin. Welche Rolle spielt der Krieg um die Wahrheit? Mit welchen Methoden und Mustern wird er geführt, und wie kann der Journalismus auf die massenhafte Manipulation reagieren?
Lutz Güllner ist Leiter der Strategischen Kommunikation im Europäischen Auswärtigen Dienst der EU und Chef einer Taskforce gegen Desinformation. In ihrer Datenbank seien 13.000 Fälle von staatlicher russischer Desinformation erfasst, so Güllner. Er unterscheidet drei Ebenen systematischer Manipulation: Was die klassische Kriegspropaganda über Staatskanäle angehe, gelte seit Kriegsbeginn: "The gloves are off", die Samthandschuhe sind ausgezogen. Zweitens gebe es einen Graubereich von Portalen, die dem russischen Staat zugerechnet werden können. Die zwar vorgäben zu informieren, letztlich aber nur russische Narrative verbreiten, kaschiert als journalistische Arbeit. Tagesschau-Faktenfinder verortete kürzlich die Berliner Agentur Redfish mit ihrer vermeintlich progressiven Medienarbeit als "Ableger der russischen Nachrichtenagentur Ruptly". Drittens, so Güllner, seien in den sozialen Medien mithilfe falscher Identitäten digitale Netzwerke aufgebaut worden, die ebenfalls als Verstärker staatlich eingespeister Narrative dienten: "Was die Größe der russischen Trollarmeen angeht, sind verlässliche Angaben schwierig." Nach dem eher wahllosen Einsatz von Bots in der Vergangenheit würden falsche Accounts mittlerweile sehr viel präziser justiert, um zielgerichtet zu manipulieren.
"Marcus Bösch beobachtet, dass die Tiktok vielfach Ausgangspunkt von Desinformation ist, die sich dann crossmedial verbreitet."
Der propagandistische Werkzeugkasten des russischen Staats enthält laut Güllner diverse Methoden: "Eine ganz erfolgreiche Technik ist die Relativierung." Nach dem Motto: Vielleicht hat Russland die Ukraine angegriffen, aber was hat denn die Nato im Kosovo-Krieg und im Irak gemacht? Ein Argumentationsmuster, das hierzulande sowohl bei Teilen der Linken als auch in der AfD und der Querdenken-Szene verfängt. "Im Wesentlichen werden zwei Techniken verwendet", so Güllner. Da sei zum einen das Prinzip Trial and Error. Oder bildlich gesprochen: "Schmutz an die Wand werfen und sehen, was kleben bleibt." Beispiel Butscha: Da bezeichnet das russische Verteidigungsministerium nach dem dortigen Massaker die veröffentlichten Fotos und Videos von getöteten Zivilisten als "Provokation des Kiewer Regimes". Die Leichen auf den Bildern zeigten "keine charakteristischen Leichenflecke". Alle Einwohner hätten die Stadt verlassen können. Angeblich hätten ukrainische Truppen eigene Wohngebiete beschossen. Bis zum Abzug russischer Truppen sei "kein einziger Einwohner von jeglicher Misshandlung betroffen" gewesen.
Eine Vielzahl teils absurder Behauptungen. Widerlegt durch diverse Leichenfunde im Ort und Augenzeugenberichte von Bewohnern. Die New York Times veröffentliche Satellitenbilder, die zeigen, dass schon lange vor Abzug der russischen Truppen Leichen an den gleichen Stellen lagen. Im Spiegel-TV-Interview sagt der örtliche Pfarrer vor einem Massengrab an der Kirche des Ortes: "Hier liegen hauptsächlich alte Menschen, Frauen, Kinder. Sie hatten keine Waffen, das waren Zivilisten." Angesichts erdrückender Beweise für das Massaker zielen die russischen Statements darauf ab, Nebelkerzen zu werfen, Unsicherheit zu erzeugen.
Als zweite wichtige Technik zur Manipulation erkennt EU-Experte Güllner die gezielte Ansprache gesellschaftlicher Gruppen durch russische Stellen. Jenen nämlich, die in westlichen Demokratien für solche Botschaften besonders aufnahmefähig seien, weil sie eine "Vulnerabilität mitbringen". Hierzulande sind das vor allem Anhänger von Verschwörungsideologien, das AfD-Milieu, Teile der Linken sowie Friedensbewegte mit dem Feindbild Amerika.
Ein Großteil der Desinformation ziele allerdings auf den russischen Markt, so Güllner. Wie die permanente Propaganda viele Russen beeinflusst, hat die in Kiew geborene Publizistin Marina Weisband beschrieben. Demnach glauben viele Russinnen und Russen nicht mal den eigenen ukrainischen Verwandten, wenn sie ihnen von Kriegsverbrechen berichten: "Neben jahrelanger Propaganda wollen sie die Wahrheit auch einfach nicht wissen." Darüber hinaus zielten langjährige Kampagnen für die Bevölkerung der Ukraine darauf ab, die Eigenständigkeit des ukrainischen Staats in Frage zu stellen, eine ethnische Zugehörigkeit zu Russland als historische Tatsache zu implementieren und die politische Führung des Landes als inkompetente Nazis zu diskreditieren. In den europäischen Demokratien wiederum sollen die russischen Kampagnen gesellschaftliche Konflikte befeuern. "Die größte Gefahr sehe ich eher nicht darin, dass kurzfristig Meinungen von A nach B gedreht werden", so Güllner, "sondern, dass Zweifel gesät und demokratische Gewissheiten infrage gestellt werden." Das Ziel sei gar nicht unbedingt, die Empfänger von Desinformation zu überzeugen, sondern Verwirrung zu stiften. Nach der Vergiftung des ehemaligen Spions Sergej Skripal in Salisbury seien seinerzeit ein Dutzend verschiedener Versionen lanciert worden. Viele Menschen verunsichere das so, dass sie gar nichts mehr glauben.
"Man muss wissen: Desinformation ist selten zu hundert Prozent erfunden, sondern es gibt immer einen faktischen Kern“, erklärt Güllner. Beispiel "Entnazifizierung": Ja, dem ukrainischen Asow-Regiment und deren politischem Arm werden Rechtsextremisten zugeschrieben. Aber bei Wahlen blieben die drei rechtsradikalen Parteien Freiheit, Rechter Sektor und Nationales Corps marginal. Präsident Wolodymyr Selenskyj ist Jude. Das United States Holocaust Memorial Museum wirft Putin einen Missbrauch des Holocausts zur Rechtfertigung des Angriffs auf die demokratische Ukraine vor. Dennoch bekam Correctiv-Faktencheckerin Sarah Thust in einem Gespräch im eigentlich aufgeklärten Familienkreis mit, wie die Erzählung von der ultrarechten Ukraine verfängt: "Das war für mich ein Aha-Moment, wo ich gemerkt habe: Das wirkt."
Beispiel: Der Vorwurf, die Ukraine habe Biowaffen entwickelt. Bis heute konnte Russland dafür keine Beweise liefern. Tagesschau-Faktenfinder dokumentierte einen Bericht der US-Botschaft in der Ukraine vom Sommer 2020, wonach das US-Verteidigungsministerium gemeinsam mit der ukrainischen Regierung daran arbeite, Ausbrüche gefährlicher Krankheitserreger zu erkennen und Impfstoffe zu entwickeln. "In diesem Fall kann sich die Erzählung darauf beziehen, dass es in der Ukraine tatsächlich Forschungseinrichtungen gibt", sagt Güllner. "Aber in den ukrainischen Labors werden eben keine Waffen hergestellt, sondern es wird Forschung betrieben." Tagesschau-Faktenfinder nennt das Biowaffen-Narrativ einen "Dauerbrenner für Desinformation".
"Das Spektrum russischer Desinformation reicht von verwackelten Video-Schnipseln bis zu offiziellen Erklärungen von Putin."
"Das Ausmaß und die Bedeutung des Desinformationskriegs, der ja schon seit einigen Jahren geführt wird, sind zu lange nicht verstanden worden", sagt der Politikwissenschaftler Nils Weidmann von der Universität Konstanz. In ihrem Buch Like War – The Weaponization of Social Media beschreiben zwei US-amerikanische Autoren die langjährige, systematische Destabilisierung der Ukraine durch russische Staatsmedien. Güllners EU-Taskforce warnte, Deutschland sei mit 700 registrierten Fällen seit 2015 ein Hauptangriffsziel russischer Desinformation. Viral ging jenes zunächst auf Tiktok verbreitete Video, in dem eine verzweifelte Frau auf Russisch erzählt, dass ein 16-jähriger, Russisch sprechender Flüchtlingshelfer in Euskirchen von ukrainischen Flüchtlingen zu Tode geprügelt worden sei. Faktenchecks ergaben: Die Polizei hatte keinerlei Hinweise auf ein solches Verbrechen. Eine gefährliche Falschinformation, die dazu angetan war, Hass auf ukrainische Geflüchtete zu schüren. Wie seinerzeit im Fall Lisa, als der russische Außenminister Lawrow deutschen Behörden Vertuschung vorwarf, obwohl gar keine Straftat vorlag. Nicht immer seien Faktenchecks überhaupt sinnvoll, weil die Gefahr bestehe, ungewollt Propaganda-Erzählungen zu verstärken, sagt Frederic Huwendiek, Redaktionsleiter der digitalen ZDF-Heute-Nachrichten. In Fällen wie Euskirchen und Mariupol jedoch sei journalistische Aufklärung unverzichtbar: "Da wäre ein he said, she said zu wenig. Da braucht es Faktenchecks und Einordnung."
Die Redaktion von Correctiv betreibt vor ihrer Morgenkonferenz ein Monitoring und sammelt in den sozialen Medien potenzielle Fälle in einem internen Kanal. "Das Ausmaß von Desinformation auf Plattformen wie Telegram oder Tiktok ist mittlerweile überwältigend", sagt Sarah Thust. In der Konferenz wird dann entschieden, was in einem Faktencheck überprüft werden soll. "Falschinfos wabern manchmal lange durchs Netz, bevor sie viral werden", so Thust, zu deren Aufgaben es gehört, Telegram zu beobachten. Als Faktencheck wird ausgewählt, was die Kriterien Viralität und Relevanz erfüllt und Einzelnen oder gesellschaftlichen Gruppen potenziell schaden kann.
Der Erfolg dieser Aufklärungsarbeit ist schwer messbar. Auf Facebook etwa werden alle Nutzer:innen, die entsprechende Inhalte auch nur geliked haben, benachrichtigt: enthält Falschinformation. Das sei besser, als Inhalte einfach zu löschen, sagt Thust. Effektive Fälschungen seien übrigens in den meisten Fällen technisch nicht allzu anspruchsvoll. Die vieldiskutierten Deepfakes erfordern den Einsatz künstlicher Intelligenz, was nur Profis beherrschen. Thust zufolge kursieren derzeit nur wenige Deepfakes. "Was immer geht, sind grob manipulierte Fotos", sagt Thust. "Da wird ein alter Screenshot aus einem CNN-Bericht, der gar nichts mit dem Krieg zu tun hatte, mit einem neuen Text versehen und in die Welt geschickt." Solche Sharepics erzielten eine enorme Reichweite. Je emotionaler die Botschaft, desto größer der Aufreger und damit der Erfolg.
Die Rechercheurin plädiert in Bezug auf den Krieg für journalistische Sachlichkeit und weist auch auf ukrainische Propaganda hin. Auch von pro-ukrainischer Seite würden bisweilen falsche Fotos und Videos verbreitet. Was aber nicht dazu führen darf, Unterschiede zu verwischen. Russland ist der Aggressor, und russische Kriegspropaganda versucht, das eigene Morden zu verschleiern. Dennoch dürfen ukrainische Angaben nicht ungeprüft übernommen werden, weshalb es sich in der Berichterstattung durchgesetzt hat, Meldungen über Opferzahlen oder zugespielte Bilder mit dem Zusatz zu versehen, die Angaben seien derzeit nicht unabhängig überprüfbar. Patrick Gensing hat vor Gewöhnungseffekten gewarnt. Angesichts des Massakers von Butscha und einer Entgrenzung durch Gräueltaten dürfe der Angriffskrieg auf die Ukraine nicht schon als neue Normalität angesehen werden: "Russland verschiebt in diesem Krieg die Grenzen dessen, was irgendwie noch hingenommen wird", twitterte Gensing.
Noch ist offen, wie der Desinformationskrieg hierzulande die Gesellschaft verändern wird. Correctiv-Redakteurin Thust beobachtet, wie sich seit Kriegsbeginn die Inhalte in einigen Corona-Gruppen auf Telegram verändert haben. Nach wie vor gehe es vorrangig um die Pandemie, aber der Krieg ist nun auch ein wichtiges Thema. In den Gruppen, die sie auswertet, werden eher keine eindeutigen Falschinformationen geteilt, "sondern sie bauen das Thema in ihre Narrative ein. Die Nato-Osterweiterung wird mit dem sogenannten Great Rest in Verbindung gebracht." Hier stößt die Arbeit von Correctiv an Grenzen, denn die Redaktion überprüft grundsätzlich keine Verschwörungsideologien. In der Querdenken-Szene ist offene Sympathie für Putin gleichwohl verbreitet, wie russische Fahnen auf Corona-Demos zeigen. Eine Cemas-Studie konnte zeigen, dass bis zum Verbot der russischen Staatsmedien RT und Sputnik durch die EU hierzulande RT DE die zentrale Informationsquelle unter Verschwörungsideologen war.
Die Entscheidung der EU, die Sender RT und Sputnik europaweit zu sperren, ist auch unter Journalist:innen umstritten. Kritiker lehnen ein Verbot von Medien grundsätzlich ab. Lutz Güllner verteidigt das Vorgehen: "Das war eben keine willkürliche Verbannung, sondern ein Sanktionsmechanismus. Um das klar zu sagen: Wir wollen als EU keine unliebsamen Kritiker ruhigstellen, sondern eine staatliche Aktivität unterbinden, die in klarer Verbindung zum russischen Angriffskrieg steht." Niemand wolle den Kampf gegen Desinformation führen, indem die Pressefreiheit eingeschränkt werde. Aber bei RT und Sputnik handele es sich um staatliche Outlets ohne redaktionelle Freiheit. Die Meinungen, für die beide stehen, gebe es ja auf diversen Kanälen: "Das muss eine Demokratie aushalten. Aber sie muss sich wehren, wenn von außen ein staatliches Instrument eingesetzt wird, das nichts anderes bezweckt als zu manipulieren." Politikforscher Weidmann ergänzt, es hätte sogar früher politische Konsequenzen geben müssen, wenn "staatsfinanzierte Propaganda eindeutig antiliberale, antidemokratische Inhalte verbreitet, um demokratische Systeme gezielt zu destabilisieren".
Wie hierzulande auch nach dem Aus für RT die offiziellen russischen Erzählungen weiter verbreitet werden, beschreibt Sarah Thust: "Bei Telegram ist uns schon früh der Kanal Neues aus Russland von Alina Lipp aufgefallen. Wir konnten feststellen, dass sie ganz aktiv dabei ist, auf ihrem Telegram-Kanal russische Narrative zu verbreiten." Da finden sich beispielsweise Inhalte, die das Massaker von Butscha als westliche Medieninszenierung erscheinen lassen oder die prophezeien, dass große Mengen von Sprengstoff in die EU gelangen werden. Europa erwarte Chaos, Kriminalität und Terrorismus, heißt es in einem geteilten Beitrag. Correctiv beschreibt in einer Analyse, wie Lipp als ehemaliges Mitglied der Grünen zum "Popstar russischer Propaganda" wurde. Allein ihr Telegram-Kanal hat nach wenigen Monaten bereits mehr als 120.000 Abonnenten. Lipp, in Hamburg geboren und mit russischem Vater, ist als Medienaktivistin auf zahlreichen Plattformen von Telegram bis Youtube aktiv. Correctiv schreibt ihr eine Doppelrolle zu: Deutsche User versorge sie mit "pro-russischer Kriegspropaganda". Für das russische Publikum zeichne sie das Bild eines "düsteren Deutschlands" ohne Meinungsfreiheit. Ihre beachtliche Wirkung erziele Lipp durch ein Netzwerk von Unterstützern aus der Querdenker- und Verschwörungs-Szene.
Russische Desinformation kann hierzulande aber nicht nur auf die Unterstützung von Medienaktivisten zählen. Auch Politiker tragen dazu bei, fragwürdige Narrative zu verbreiten. Der BR hat berichtet, dass der stellvertretende bayerische Landesvorsitzende der AfD, Rainer Rothfuß, noch Anfang März im russischen Fernsehkanal NTV davon sprach, Russlands geopolitische Interessen seien ignoriert worden. "Es ist klar, dass der Staat aufsteht, um seine Sicherheit, seine Interessen zu schützen", wird der AfD-Politiker zitiert. Deutsche Redaktionen wiederum müssen sich selbstkritisch hinterfragen, warum SPD-Alt-Kanzler Gerhard Schröder weiterhin wie ein unabhängiger Experte interviewt wurde, als er längst als Putin-treue Lobby-Stimme zu verorten war. Noch im Dezember, als der russische Truppenaufmarsch in vollem Gange war, sagte Schröder in einem Interview: "Nach meiner Auffassung denkt in der russischen Führung keiner darüber nach, die Ukraine zu überfallen." Ein nüchterner Blick auf die russischen Kriegsvorbereitungen wäre seinerzeit erhellender gewesen.
Das Debunking, also die Dekonstruktion gefährlicher Narrative, funktioniere am besten als kollektive Rechercheleistung, sagt EU-Experte Güllner. Dazu zählt detektivische Detailarbeit mit dem Einsatz von Open Source Intelligence und Forensik. Die Überprüfung von Bildmaterial auf Echtheit. Aber eben nicht nur. Patrick Gensing hat darauf hingewiesen, wie wichtig es in diesem Krieg ist, den Kontext zu beachten. Dazu gehört, dass das grausame russische Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung Vorläufer in Tschetschenien und Syrien hat. Dazu gehört zuallererst, was Reporter:innen wie Katrin Eigendorf, Arndt Ginzel oder Christoph Reuter vor Ort recherchieren. Was sie über das Ausmaß der Zerstörung in Mariupol oder Charkiw und das Martyrium der Zivilbevölkerung berichten. Dazu gehören die Berichte der Menschenrechtsorganisationen Human Rights Watch und Amnesty International über Vergewaltigungen und weitere Kriegsverbrechen. Zudem die millionenfachen Schicksale der Geflüchteten mit dem Verlust von Angehörigen und der Vernichtung ihrer Existenzen. Und schließlich gehört dazu, Putins völkisch-nationalistische Patchwork-Ideologie zu dechiffrieren, die diesen Krieg begründet und deren Ziele multimedial in Propaganda-Erzählungen gerechtfertigt werden.
Jeder Tag, den der russische Angriffskrieg andauert, bringt nicht nur neues Leid, sondern auch eine Flut neuer Bilder, Videos und Geschichten. Neue Desinformation, die es zu dekonstruieren gilt. "Menschen sterben auf dem Schlachtfeld oder in Städten wie Mariupol und nicht, wenn sie sich Videos auf Tiktok angucken", sagt Medienforscher Marcus Bösch. Gleichwohl sei die Bedeutung insbesondere der sozialen Medien kaum zu überschätzen: "Was da an Narrativen kursiert, hat durchaus Einfluss auf die Weltpolitik, weil es die Sichtweise sehr vieler Menschen auf den Krieg beeinflusst."
Michael Kraske lebt als Journalist und Buchautor (Tatworte) in Leipzig. Tim Möller-Kaya arbeitet als Illustrator in Hamburg.