Meinung
Ich hatte einen Traum
Sebastian Esser: "Mir schwante, dass es den Journalismus, den ich mir erträumt hatte, gar nicht mehr gab." (Foto: Martin Gommel)
Sebastian Esser wollte Journalismus der alten Schule machen: Reportagen, Politikerinterviews, Herumreisen. Als es soweit war, fand er es schrecklich, erzählt er in unserer Serie "Mein Blick auf den Journalismus". Dann startete er eigene Projekte. Text: Sebastian Esser
30.01.2024
Vielleicht ist es dir, liebe Leserin, lieber Leser, mal ähnlich gegangen: Du hast einen Traum. Aber als er wahr wird, ist alles anders.
Mein Traum war der Journalismus der alten Schule. Als junger Mann stellte ich mir vor, wie ich die politische Welt erleben und der Öffentlichkeit meine Perspektive darauf mitteilen würde. Kulturkritik als self expression. Ich wollte nah dran sein, meinen Namen in der Zeitung gedruckt sehen. Ich wollte so sein, wie Journalisten in den 90er Jahren noch waren: verwegene Männer – Frauen lasen ja höchstens mal die Nachrichten vor –, mitten im Geschehen, dem Rest erklärend, wie der Hase läuft.
Ich finde das heute unsympathisch. Aber damals gefiel mir dieser journalistische Größenwahn.
Es kam anders. Wie alle Journalistinnen und Journalisten in den vergangenen zwanzig Jahren stieß ich auf zwei große Probleme. Ich will hier auf die Lösungen hinaus; muss dazu aber etwas ausholen und leider auch persönlich werden.
Für meinen Traum tat ich das Nötige. Erstmal musste ich einen Fuß in die Tür kriegen. Lokalzeitung für 50 Pfennig Zeilengeld. Studium, Ausland, Zeit-Abo. Hiwi, Freier und Praktikant bei dpa, ARD, FAZ. Ich sah meinen Namen in der Zeitung, ich fand es gut.
Dann folgte die Ernüchterung. Ab 2003 durfte ich an der Berliner Journalisten-Schule (BJS) lernen und irgendwann sagte der Leiter: Den wenigsten werde es gelingen, im Journalismus zu arbeiten. Wir sollten uns beizeiten mit PR und sonstiger Textlohnarbeit auseinandersetzen, sonst drohe die Arbeitslosigkeit.
Es war ein großes Medien-Massaker im Gange, als ich auf den Arbeitsmarkt gespült wurde. Die Dotcom-Blase war geplatzt. Aus kiloschweren Magazinen wurden dünne Blättchen. Bei Spiegel, FAZ, SZ, Zeit flogen hunderte Journalist:innen raus. Die Financial Times Deutschland wurde gleich ganz eingestellt.
Ich war Mitte 20 und endlich bereit. Die Welt des Journalismus sollte sich mir öffnen. Stattdessen schlug man mir die Tür vor der Nase zu. Mir schwante, dass es den Journalismus, den ich mir erträumt hatte, gar nicht mehr gab. Ich war schon desillusioniert, bevor ich richtig angefangen hatte.
Wider Erwarten fand ich eine Festanstellung bei einem jungen Fachverlag. Für 1.200 Euro brutto war ich der einzige Redakteur eines Medienmagazins namens V.i.S.d.P. Ich arbeitete ununterbrochen. In den folgenden Jahren bekam ich in den Produktionswochen monatlich Wadenkrämpfe von dem ganzen Stress.
Aber: Ich fand es richtig geil. Ich war vielleicht kein Hauptstadtjournalist wie der legendäre Hans Ulrich Kempski oder der damals von mir verehrte Kurt Kister. Aber ich konnte mein eigenes Ding machen. Ich war schon Creator, nur in der Print-Welt. Ich wollte alles selbst machen, und das durfte ich auch. Herausgeber Hajo Schumacher hatte genauso viel Lust wie ich, der Medienindustrie auf die Nerven zu gehen. Wenn ich heute V.i.S.d.P.-Ausgaben durchblättere, merke ich: Die Wut, die Ernüchterung, die enttäuschte Liebe trieft aus allen Seiten. Das Heft war ein Stinkefinger an die Medienindustrie.
Es war wild.
Johannes B. Kerner schimpft
Einmal hatte ich Johannes B. Kerner am Telefon, fast eine halbe Stunde auf mich einschimpfend. Ein bekannter Medienanwalt schickte Abmahnungen nach einer Titelgeschichte über seine Zunft („Achtung Ärger! Deutschlands gefährlichste Medienanwälte“). Auf einen Verriss hin („Wer liest eigentlich den Stern?“) kündigte Gruner+Jahr sämtliche Anzeigen.
Von der Pornoheft-Persiflage über die Bunte-Hommage: Jede neue Ausgabe war ein Witz auf Kosten der überkommenen Magazin-Genres um uns herum. In „103 Dinge, die Sie schon immer über das Internet wissen wollten, aber nie zu fragen wagten“ beschäftigten wir uns mit Blogs und Podcasts aus einer „Internet für Dummies“-Perspektive, denn das brauchten unsere hoffnungslos in der vordigitalen Welt verharrenden Branchen-Leser:innen – die eben noch meine Vorbilder gewesen waren.
Im Nachhinein mein Lieblingsheft: „Mach Dein Ding – wie man ein eigenes Magazin gründet in zehn Schritten“. (Grüße an Philipp Köster von 11 Freunde, Florian Illies von Monopol und Oliver Gehrs von Dummy.)
Man findet in den Heften Laune am Magazinmachen, aber eben auch Frust: „Kein‘ Bock mehr? Gute Nachricht: Es gibt ein Leben nach dem Journalismus. Glückliche Aussteiger berichten“. Meinen Traum begann ich zu ironisieren, wenn auch wehmütig. „Die gute alte Zeit – Als Journalisten noch Abenteurer waren, die Porsche fuhren“. Diese Zeit war definitiv vorbei.
Den Traum vom großen Politikjournalisten träumte ich weiter. Dabei war ich schon genau da, wo ich eigentlich hingehörte.
„Wenn ich die V.i.S.d.P.-Ausgaben durchblättere, merke ich: Wut, Ernüchterung, enttäuschte Liebe trieft aus allen Seiten. Das Heft war ein Stinkefinger an die Medienindustrie.“
V.i.S.d.P. wurde trotz sogenanntem Kult-Following eingestellt – Anzeigenkrise. Wirtschaftlich vernünftig war das Projekt wahrscheinlich nie. Dieses große Problem Nummer 1 verfolgte mich von Beginn an: Das Geschäftsmodell von Zeitungen und Magazinen war kaputt gegangen.
Ich galt jetzt immerhin als irgendwie interessant. Ulf Poschardt stellt mich ein als Politikredakteur in der Gründungsredaktion von Vanity Fair Deutschland. Heute fast vergessen, war das Wochenmagazin das wahrscheinlich letzte richtig große Print-Abenteuer. Angeblich 80 Millionen Euro und mehr soll der Condé Nast Verlag versenkt haben. Die gesamte Berliner Charité wurde zum Launch mit Werbung für „Das neue Magazin für Deutschland“ verdeckt, das Politik, Style und Unterhaltung zu verbinden versuchte.
Ich hatte ein ordentliches Gehalt, berichtete aus dem Regierungsviertel über die Grünen, flog durch die Gegend, stand mit wichtigen Leuten herum. Große Reportagen und Interviews. Mein Traum war Wirklichkeit.
Aber es war absolut schrecklich. Ich merkte, dass ich das gar nicht besonders gut kann: Small Talk, Abendtermine in Lobby-Repräsentanten, Netzwerken mit Politiker:innen, Rumtelefonieren ohne besonderes Ziel, aus Nebensätzen Geschichten konstruieren, Zitate einholen, um eine Meldung zu drechseln. Ich möchte mich an dieser Stelle beim damaligen CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla entschuldigen, den ich einmal sonntags nachmittags auf dem Handy angerufen habe (er hat verständlicherweise aufgelegt).
Ich wollte mein eigenen Ding machen
Dazu kamen wieder die offensichtlichen wirtschaftlichen Probleme: Die Leute kauften das Heft nicht. Printmedien hatten schon damals schlicht kein Geschäftsmodell mehr. Ich hatte nicht den Eindruck, auf eine vielversprechende Zukunft hinzuarbeiten. Die Zukunft war – natürlich – digital.
Und nicht nur das business model, auch das Verhältnis von Journalist:innen und Publikum war in der Welt der Kiosk-Magazine anachronistisch. Um uns herum entstand eine neue Öffentlichkeit, die auf Austausch und Dialog aufgebaut war: Blogs, Podcasts und Newsletter, die ersten Social Networks.
Wir aber hörten unserem Publikum kaum zu. Stattdessen waren wir damit beschäftigt, andere Journalist:innen zu beeindrucken. Hand aufs Herz, das kennen wir doch alle aus Redaktionskonferenzen: Wir sitzen um einen Tisch herum und geben alles, um den Kolleg:innen zu imponieren oder sie klein zu machen. Jemand findet sich immer, der sagt: Die Idee ist alt. Oder: Das kannst du bei Wikipedia nachlesen. Oder: Das stand vor 23 Jahren schon im SZ-Magazin.
Ich bin mir inzwischen sicher, dass den Leser:innen solche Argumente egal sind. Fragt man sie, wollen sie meist etwas Anderes, Unspektakuläres, Grundsätzliches. Dazu aber müsste man sie überhaupt zu Wort kommen lassen. Neben dem kaputten Geschäftsmodell war genau das das zweite große Problem: Die kaputte Beziehung zum Publikum.
Das war zwar der Journalismus, von dem ich geträumt hatte. Aber den wollte ich auf einmal nicht mehr. Meine Freundin war schwanger mit Zwillingen, die Hochzeit stand bevor, ich hatte einen festen Job bei einem renommierten Verlag. Es war einigermaßen unverantwortlich – aber ich habe gekündigt.
Ich wollte mein eigenes Ding machen.
„Während um uns herum eine ganz neue Öffentlichkeit entstand, die auf Austausch und Dialog aufgebaut war, sendeten wir weiter in eine Richtung.“
Aber was heißt das genau?
Mein Ansatz: Ich mache Medien unabhängig. Unabhängig von der Medienindustrie, unabhängig von Werbung, unabhängig von den großen Tech-Plattformen, so gut es geht. So arbeite ich seitdem, also etwa seit 2008. Ich habe es nie bereut.
Experiment 1 war Spredder im Jahr 2010, eine Syndikations-Plattform für journalistische Texte. Schon kurz nach dem Start übernahm die Deutsche Post das Projekt. Ich hatte gelernt: Software und Journalismus macht man am besten selbst, ohne starre Institution an der Backe.
Experiment 2 war eine Crowdfunding-Plattform 2012. Reichweite und Werbebanner galten damals als allein zukunftsträchtig, stattdessen machten wir in nur einem Jahr eine Viertelmillion Umsatz. Ich lernte: Die Leute zahlen für Journalismus, wenn man sie fragt.
Experiment 3 war die Krautreporter-Kampagne 2014. Als journalistisches Team von Leuten, die aus der digitalen Öffentlichkeit kamen, sammelten wir in vier Wochen mehr als eine Million Euro ein für ein werbefreies, Mitglieder-finanziertes Magazin. Ich lernte: Community ist gut für den Journalismus und gleichzeitig ein Geschäftsmodell.
Experiment 4 war Steady, eine Mitgliedschafts-Plattform für unabhängige Medienmacher:innen 2016. Wir spalteten Krautreporter in einen publizistischen Teil, organisiert als Genossenschaft, und einen technologischen Teil, in Form eines Risikokapital-finanzierten Start-ups. Denn wir und andere unabhängige Medien brauchten gute Infrastruktur für bezahlte Mitgliedschaften. Ich lernte: Digitale Produkte sind schwierig und teuer.
Neue Wege suchen
Inzwischen ist Krautreporter ein seit Jahren profitables Medienunternehmen mit etwa 17.000 Mitgliedern, werbefrei, vielfach ausgezeichnet und stabil wachsend. Steady zahlt jeden Monat mehr als eine Million Euro an fast 2.000 Magazine, Podcasts, Newsletter und andere Medienmacher:innen aus, die zusammen mehr als 200.000 Mitglieder haben und damit in der gleichen Liga spielen wie die Welt, die Süddeutsche, die FAZ oder das Handelsblatt. Das alles hat sich in wenigen Jahren entwickelt, und ich muss sagen: zu meinem großen Erstaunen.
Es klingt allerdings viel einfacher und gradliniger, als ich es erlebt habe. Nämlich als eine endlose Anstrengung, mit vielen unnötigen Umwegen und Niederlagen. Ich möchte trotzdem für neue Wege werben. Unabhängigkeit ist ein gutes Prinzip für Journalismus. Technologie und Distribution sind geklärt und kostengünstig. Eine überzeugte Community wird auch bereit sein, diesen Weg zu finanzieren.
Dieser nächste Journalismus ist längst kein Traum mehr.
Sebastian Esser ist Medienmacher und Gründer. Mit seinem Newsletter „Blaupause“ hat er gerade eine „Launch-Challege“ ausgerufen, der unabhängigen Medienmacher:innen helfen soll, in sechs Wochen ein Medien-Business zu starten.
Bisher erschienen:
Teil 1: Daniel Drepper, Chefredakteur von BuzzFeed Deutschland
Teil 2: Carline Mohr, Social-Media-Expertin
Teil 3: Georg Mascolo, Leiter des WDR/NDR/SZ-Rechercheverbunds
Teil 4: Hannah Suppa, Chefredakteurin Märkische Allgemeine
Teil 5: Florian Harms, Chefredakteur von t-online.de
Teil 6: Georg Löwisch, taz-Chefredakteur
Teil 7: Stephan Weichert, Medienwissenschaftler
Teil 8: Julia Bönisch, Chefredakteurin von sz.de
Teil 9: Ellen Ehni, WDR-Chefredakteurin
Teil 10: Barbara Hans, Spiegel-Chefredakteurin
Teil 11: Sascha Borowski, Digitalleiter Augsburger Allgemeine
Teil 12: Richard Gutjahr, freier Journalist, Start-up-Gründer und -Berater
Teil 13: Benjamin Piel, Chefredakteur Mindener Tageblatt
Teil 14: Josef Zens, Deutsches GeoForschungsZentrum
Teil 15: Christian Lindner, Berater "für Medien und öffentliches Wirken"
Teil 16: Nicole Diekmann, ZDF-Hauptstadtjournalistin
Teil 17: Carsten Fiedler, Chefredakteur Kölner Stadt-Anzeiger
Teil 18: Stella Männer, freie Journalistin
Teil 19: Ingrid Brodnig, Journalistin und Buchautorin
Teil 20: Sophie Burkhardt, Funk-Programmgeschäftsführerin
Teil 21: Ronja von Wurmb-Seibel, Autorin, Filmemacherin, Journalistin
Teil 22: Tanja Krämer, Wissenschaftsjournalistin
Teil 23: Marianna Deinyan, freie Journalistin und Radiomoderatorin
Teil 24: Alexandra Borchardt, Journalistin und Dozentin
Teil 25: Stephan Anpalagan, Diplom-Theologe, Journalist, Unternehmensberater
Teil 26: Jamila (KI) und Jakob Vicari (Journalist)
Teil 27: Peter Turi: Verleger und Clubchef
Teil 28: Verena Lammert, Erfinderin von @maedelsabende
Teil 29: Anna Paarmann, Digital-Koordinatorin bei der Landeszeitung für die Lüneburger Heide
Teil 30: Wolfgang Blau, Reuters Institute for the Study of Journalism der Universitäte Oxford
Teil 31: Stephan Anpalagan, Diplom-Theologe, Journalist, Unternehmensberater
Teil 32: Simone Jost-Westendorf, Leiterin Journalismus Lab/Landesanstalt für Medien NRW
Teil 33: Sebastian Dalkowski, freier Journalist in Mönchengladbach
Teil 34: Justus von Daniels und Olaya Argüeso, Correctiv-Chefredaktion
Teil 35: Benjamin Piel, Mindener Tageblatt
Teil 36: Joachim Braun, Ostfriesen-Zeitung
Teil 37: Ellen Heinrichs, Bonn Institute
Teil 38: Stephan Weichert, Vocer
Teil 39: Io Görz, Chefredakteur*in InFranken.de
Teil 40: Daniel Drepper, Leiter der Recherchekooperation von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung
Teil 41: Björn Staschen, Programmdirektion NDR, Bereich Technologie und Transformation
Teil 42: Malte Herwig, Journalist, Buchautor, Podcast-Host
Teil 43: Sebastian Turner, Herausgeber Table.Media
Teil 44: Alexander von Streit, Vocer Institut für Digitale Resilienz
Teil 45: Ellen Heinrichs, Bonn Institute
Teil 46: Patrick Breitenbach, Blogger, Podcaster, Unternehmensberater
Teil 47: Caroline Lindekamp, Project Lead "noFake" beim Recherchezentrum Correctiv
Teil 48: Henriette Löwisch, Leiterin Deutsche Journalistenschule
Teil 49: Sebastian Esser, Medienmacher und Gründer
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