Meinung
"Ich bin sowieso ein ruhiger Typ"
"Die Journalistin wird bei dem, was ich als Nächstes mache, stärker zum Vorschein kommen als bislang", sagt Anne Will. (Foto: Marlene Gawrisch)
Nach Hunderten Sendungen ist Schluss mit "Anne Will". Im Interview erzählt die Journalistin, wie sie beim Moderieren mitfühlte und doch hartnäckig blieb – und warum sie Gerhard Schröder vergrault hat. Interview: Jan Freitag
19.01.2024
Sonntag für Sonntag moderierte Anne Will einen der wichtigsten Polittalks im deutschen Fernsehen. „Es hat Einfluss, wenn unsere Sendung drei bis fünf oder sechs Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer erreicht“, sagt sie. Ruhe auszustrahlen, sei mit das Wichtigste an ihrem Job – und auch mal zu Lachen.
journalist: Frau Will, verspüren Sie sonntags zwischen Tatort und Tagesthemen mittlerweile eine Art medialen Phantomschmerz?
Anne Will: Nein, es gefällt mir, dass der Sonntag wieder mir gehört. Ich fand es schön, dass ich vorige Woche auf dem Sofa liegend mal wieder linear den Polizeiruf gucken konnte. Wenn überhaupt, dann hatten Freundinnen und Bekannte sowas wie einen Phantomschmerz. Jedenfalls kamen so 21.46 Uhr SMS, wo ich denn bitte sei, jetzt sei doch eigentlich meine Sendung.
Kontern Sie das Ende Ihrer Talkshow gewissermaßen mit unpolitischen Krimis?
Nein, ich habe am selben Abend auch noch Bericht aus Berlin und Berlin direkt gesehen und danach die Tagesschau. Ich muss ja nicht plötzlich vom politischen Weltgeschehen detoxen oder sowas, im Gegenteil: Ich habe jetzt wieder Zeit, breiter, themenunabhängiger zu gucken und zu lesen. Bislang war ich Richtung Ende der Woche auf das jeweilige Thema der Sendung fokussiert und habe mit einem klaren Verwertungsinteresse gelesen. Mir fehlte manchmal schlicht die Zeit, auch noch alles links und rechts davon zu lesen.
Sie leiden nicht unter News Fatigue nach 553 Sendungen in 16 Jahren?
Nee, das kenne ich nicht.
Was macht es mit Mensch und Journalistin, wenn beide sich tagein tagaus an den Frontverläufen der Weltpolitik aufhalten?
Naja, das ist ja mein Job. Und Politik interessiert mich. Mir ist zu Beginn meiner Tagesthemen-Zeit aber klar geworden, was man in diesem Job, wenn Sie so wollen, als Mensch mitbringen sollte. Nämlich: Ruhe auszustrahlen. Ich habe im April 2001 angefangen, die Tagesthemen zu moderieren, war gut ein halbes Jahr dabei, als es die Terroranschläge vom 11. September gab. Wir haben tagelang gesendet, eine Sondersendung nach der anderen. Und dann erreichten mich – damals noch per Fax – etliche Reaktionen von Zuschauerinnen und Zuschauern, die da lauteten: „Danke für Ihre Ruhe“. Da habe ich gecheckt, dass es darum also auch geht.
Das Chaos hat Sie ruhiger gemacht?
Ich bin sowieso ein ruhiger Typ. Ich habe in dem Moment nur etwas Zusätzliches über meine Rolle verstanden: Wenn ein Ereignis weltweit für derart große Verunsicherung sorgt, müssen in den Top-Nachrichten- und Politiksendungen auch Grundton und Ausstrahlung der Moderatorinnen und Moderatoren sitzen. Ich habe mir rund um 9/11 auch die Frage gestellt, ob es angemessen ist, die Sendung mit einem angedeuteten Lächeln zu beginnen oder ob das dem Ernst der Lage nicht gerecht wird. Und ich habe mich entschieden: Doch, ein freundlicher Einstieg ist richtig. Und das habe ich all die Jahre beibehalten. Darin sehe ich auch eine meiner Aufgaben als Moderatorin.
Es ist also wichtig, zunächst mal eine kommunikative Wohlfühlatmosphäre zu schaffen?
Wohlfühlatmosphäre trifft es nicht. Es geht um ein leises Lächeln, einen freundlichen Eindruck zu Beginn. Mehr nicht.
Wie haben Sie es geschafft, sich Lachen und Ruhe zu bewahren, bei all den Krisen in der Welt, die Sie begleitet haben? Haben Sie das Ihrem Gemüt zu verdanken?
Weiß ich nicht so genau. Ruhe ist wichtig, Souveränität, journalistische Kompetenz und gute Vorbereitung sowieso. Lachen, wenn es passt, und Pausen können eine gute Moderationstechnik sein, die es Zuschauerinnen und Zuschauern gestattet mitzufühlen. Dazu fällt mir ein Beispiel ein, das allerdings aus dem Jahr 2001 stammt.
„Man darf nicht riskieren, plötzlich selbst zur Diskussionsteilnehmerin zu werden. Dann killt man die Debatte und verliert jede Steuerung.“
Nur zu.
Es war ein paar Tage nach den Anschlägen vom 11. September. Wir hatten einen Beitrag über die Feuerwehrleute am Ground Zero im Programm. Und einer davon kommt total erschöpft über und über mit dieser weißen Asche bedeckt aus den Ruinen des World Trade Centers auf die Kamera zu. Es war der Tag, an dem klar war, dass die Bergungsarbeiten eingestellt werden, es also keine Hoffnung mehr gab, noch Überlebende unter den Trümmern zu finden. Und dieser Feuerwehrmann, ein großer, kräftiger Mann, kommt nun auf die Kamera zu, und man sieht, wie er einem Kollegen in die Arme fällt und bitterlich zu weinen beginnt. Das war das letzte Bild des Beitrags, den ich vorher nicht kannte. Danach war ich wieder im Bild und musste mich echt zusammenreißen, um nicht auch in Tränen auszubrechen.
Ein menschliches, aber heikles Gefühl, weil es an der journalistischen Distanz kratzt.
Genau. Ich habe dann kurz innegehalten, habe bewusst eine Pause gemacht. Einerseits, um mich zu sammeln, andererseits, um den Zuschauerinnen und Zuschauern Zeit zu lassen und damit auch der Situation Respekt zu zollen. Stille zuzulassen, Pausen zu machen, kann bei aller gebotenen Distanz ein starkes journalistisches Mittel sein. Das habe ich auch in der Talkshow häufiger gemacht, hab gewartet, wenn jemand nach Worten rang, bin nicht dazwischen geplatzt. Das kann man dann machen, wenn man der eigenen Frage traut und sicher weiß, dass der Ton stimmt.
Und wie schaffen Sie das?
Indem ich bei mir bleibe. Ich habe außerdem mein Team gebeten, mir sofort einen Hinweis zu geben, wenn ich daneben liege. Da hat mir im Zweifel auch mal jemand aufs Ohr gesagt: „bleib dran“ oder „guck nicht so streng“ oder „lass ihn jetzt mal raus, du hast ihn gestellt, mach weiter mit der Runde“. So ein Hinweis aus der Regie kann helfen. Zum Beispiel auch, wenn es darum geht, ob man gänzlich ungeübten Gästen mit dem richtigen Ton begegnet. Die muss man ja ein bisschen anders befragen als super erfahrene Spitzenpolitikerinnen.
Wie denn?
Ich lege normalerweise Wert darauf, jeweils nur eine Frage zu stellen und nicht acht oder zwölf auf einmal. Bei ungeübten Gästen, die vielleicht noch nie in einer Fernsehsendung waren, habe ich Fragen aber oft verstolpert, um dem- oder derjenigen das Gefühl zu geben, dass es erlaubt ist, nach Worten zu suchen oder sich zu verhaspeln, dass hier lauter Leute sitzen, die Fehler machen und auch Fehler machen dürfen.
Und das ließ sich auf die Sportschau genauso anwenden wie auf die Tagesthemen oder Anne Will?
Das lässt sich immer anwenden. Eigentlich geht es darum, jemandem den Raum zu lassen, den er oder sie braucht, um sich verständlich zu machen. Genauso wie man das in jedem anderen Gespräch außerhalb eines Fernsehstudios ja auch macht. Man lässt Platz, hört geduldig, im besten Fall empathisch zu. Nur sitzt man da halt in einer höchst unnatürlichen Situation.
Hatten Sie dennoch das Gefühl, ihr medienpolitischer Einfluss war im Ersatzparlament Talkshow nochmals größer als in den Tagesthemen, von der Sportschau ganz schweigen?
Ich finde ja nicht, dass Talkshows Ersatzparlamente sind. Fand ich noch nie. Die Talkshow am Sonntagabend hat allerdings eine große Reichweite, die größte von allen. Da dreht man das ganz große Rad, haben wir im Team gerne gesagt und gemeint: Es hat Einfluss, wenn unsere Sendung drei bis fünf oder sechs Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer erreicht. Was besprochen wird, wissen tags darauf mindestens so viele. Hinzu kommt: Zeitungen berichten im Nachklapp, Nachrichtensendungen zitieren daraus. Das, was bei uns gesagt wird, verbreitet sich weiter. Das wussten wir und wir waren uns der Verantwortung bewusst. Und zwar in beiderlei Hinsicht: Dass wir Dinge positiv beeinflussen, aber auch gehörig daneben liegen können.
Inwiefern?
Es ist uns auch nicht immer alles super gelungen. Aber wenn wir es gut gemacht haben, wie zuletzt mit unseren Nahost-Sendungen, dann konnte man in den Tagen darauf beobachten, wie sich der Diskurs verändert.
Haben Sie damit aktiv Einfluss auf politische Entscheidungen genommen? Die sollten ja eigentlich in Parlamenten getroffen werden.
Wir haben natürlich keine politischen Entscheidungen getroffen, waren uns als Redaktion aber unserer Reichweite und unseres Potenzials bewusst. Das meinte ich. Die Fragen, die wir an Themen gestellt haben, sollten schon sitzen, die sollten was offenlegen, Dinge einordnen, Weltlagen verständlich machen. Wenn Sie vor Millionen Menschen live ein irrsinnig heikles Thema wie den neuen Gaza-Krieg diskutieren, dann sollten Sie das besser präzise machen und sauber abwägend. Wir wissen alle um die aufgewühlte Stimmung, den Hass, den neu aufflammenden Antisemitismus weltweit und nicht zuletzt auch in Deutschland.
Ausgerechnet in Deutschland!
Wir haben uns als Team echt viele Gedanken darüber gemacht, wie wir das Thema angehen, um zum Beispiel rhetorische Figuren wie das unsägliche „ja, aber …“ zu vermeiden. Da muss man konzentriert sein. Denn über 60 Minuten in einer Live-Sendung kann einem sprachlich immer mal was verrutschen. Darf es aber nicht. Zumal: wenn der israelische Botschafter mit in der Runde sitzt, dem deutlich anzumerken war, wie verletzt er und sein gesamtes Land sind, aber auch wie aufgebracht und erschöpft er war. Ich wollte, dass mir kein einziger Satz missrät. Ist mir aber auch nicht passiert.
Wie schafft man es, selbst einer solchen Person kritische Fragen zu stellen?
Indem man Fragen zum Beispiel einfühlsamer einleitet als sonst.
„Mir ist zu Beginn meiner Tagesthemen-Zeit klar geworden, was man in diesem Job, wenn Sie so wollen, als Mensch mitbringen sollte. Nämlich: Ruhe auszustrahlen.“
Nochmal zurück zur Bedeutung einer politischen Talkshow: Muss man sich als Moderatorin wichtiger Debatten ab und zu mal selbst versichern, nicht die Parlamentspräsidentin des Bundestags zu sein?
Nein. Ich weiß und wusste schon, was ich da tue und was meine Rolle und die meines Teams ist. Wir sind Journalistinnen und Journalisten. Wir sagen, was ist. Und mit dem, was ist, müssen wir kritisch umgehen. Mal knallhart, mal tastend und nach Erklärungen suchend wie zum Beispiel während der Pandemie.
Als anderthalb Jahre lang gefühlt jede Talkshow von Corona handelte.
Bei uns waren es mindestens 30 Sendungen in Folge. Aber sie trafen durch die Bank auf riesiges Interesse. Es war halt eine Phase großer Verunsicherung, in der sich Millionen Menschen auch von uns Erklärung und Orientierung erhofft haben. Parteipolitischer Streit dagegen, den die Zuschauerinnen und Zuschauer sonst gerne bei uns geguckt haben, schien völlig fehl am Platz. Die Menschen wollten wissen, wie es weitergeht, was die Virologinnen und Virologen sagen, wann der Spuk endlich vorbei ist. Aus dieser Wissbegierde entstand zum Beispiel auch der große Erfolg von Christian Drostens NDR-Podcast.
Coronavirus-Update, später mit seiner Kollegin Sandra Ciesek.
Es gab einfach ein riesiges Bedürfnis nach Aufklärung und Information. So, wie lange nicht mehr, weil jede und jeder unmittelbar betroffen war und irgendwie versuchte, mit der verwirrenden Situation klarzukommen.
Wobei das Durcheinander seither nur noch größer geworden. Der Titel Ihrer letzten Sendung am 3. Dezember lautete: „Ist Deutschland den Herausforderungen gewachsen?“
Wichtiger war uns sogar der Halbsatz davor: „Die neue Weltunordnung“ hatten wir die Sendung überschrieben, und dann: „Ist Deutschland den Herausforderungen gewachsen?“. Wobei unser Gast Navid Kermani, der Schriftsteller und Friedenspreisträger, gleich gesagt hat, die Fragestellung sei jetzt nicht so gut gelungen, weil sie das Grunddilemma deutscher Debatten zeige: Wir würden egal, was weltweit passiert, immer alles als deutsche Nabelschau betrachten.
Als ginge es immer nur um uns?
Ja. Ich fand den Titel trotzdem gut. Er passte, um nochmal alle losen Fäden des katastrophalen Jahres zusammenzubinden. Und wenn man dann sozusagen die Großwesire des Reiches zu Gast hat, wie eben Navid Kermani, die Zukunftsforscherin Florence Gaub und den Historiker Raphael Gross, dann kann man das machen.
Ein verblüffend unpolitischer Cast fürs Finale.
Immerhin ergänzt um Vizekanzler Habeck, der sich auf solche Überblicksthemen ja auch einlässt. Mit einer so breit angelegten Sendung aufzuhören, war natürlich riskant. Aber wir wollten fürs Finale die Latte eher zu hoch als zu niedrig legen.
Wie würden Sie die Titelfrage nach den Herausforderungen Deutschlands jetzt mit etwas Abstand beantworten?
Dass Deutschland diesen Herausforderungen eher nicht gewachsen ist. Nehmen Sie die Landesverteidigung: Wenn Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius neuerdings sagt, wir müssten „kriegstüchtig“ werden, müssten Putins Drohungen ernstnehmen und hätten noch fünf bis acht Jahre, uns als Land und NATO-Mitglied auf einen möglichen Angriff vorzubereiten, dann sagt er das, weil Deutschland alles andere als kriegstüchtig ist. Und die Lage dürfte sich weiter verschärfen, wenn die USA ihre Militärhilfe für die Ukraine zurückfahren. Dann kommt es ja nochmal mehr auf uns an. Die Lücke kann Europa aber nicht füllen, geschweige denn Deutschland alleine.
Und da wären wir noch lange nicht beim sehr viel komplizierteren Gaza-Krieg.
Tja, da müssten wir uns eigentlich fragen, was denn die vielbeschworene Staatsräson konkret bedeutet. Was wäre denn, wenn es zum Beispiel einen noch größeren Krieg etwa mit dem Iran gäbe. Enthält sich Deutschland dann nicht mehr bei UN-Resolutionen? Unterstützt es Israel mit Waffen? Und falls ja: womit genau? Wir haben dafür weder Material noch Manpower.
Es ist interessant, dass Sie auf die Frage nach den Herausforderungen Deutschlands zunächst außen- und sicherheitspolitisch antworten und nicht innen- und gesellschaftspolitisch. Vom Klimawandel über den Fachkräftemangel bis hin zum Rechtspopulismus lauern dort mindestens ebenso große Gefahren.
Das liegt sicherlich daran, dass Außenpolitik das Thema der letzten Sendung war. Dennoch ein guter Hinweis. In Ihrer Auflistung fehlt nur der anhaltende Haushaltsstreit. Und bei keinem dieser Konfliktfelder hat man den Eindruck, Regierung oder Opposition handelten visionär oder aus einem Guss.
Gehen der Mensch und die Journalistin Anne Will damit unterschiedlich um?
Also diese Trennung, die Sie da machen, verstehe ich nicht. Wenn ich privat diskutiere, bin ich sicherlich aufgebrachter. Etwa in Sachen Unterstützung der Ukraine oder auch beim Umgang mit der Klimakrise. Da hatte ich mir von der Bundesregierung mehr versprochen als das, was jetzt auf den Weg gebracht ist. Als Journalistin bin ich da nüchterner und mache halt meinen Job: recherchieren, analysieren, Entscheidungsträger konfrontieren, nachhaken.
„Ich wollte, dass mir da jetzt bitte kein einziger Satz missrät.“
Kommt jetzt der Mensch Anne Will stärker zum Tragen als die Journalistin? Zeigen Sie mehr Gefühle, Haltung, Subjektivität?
Nee, die Journalistin wird bei dem, was ich als Nächstes mache, stärker zum Vorschein kommen als bislang in meiner Rolle als Moderatorin der Talkshow.
Also bei Dokumentationen, Einzelinterviews und Podcasts. Sie wollen wieder mehr als Reporterin arbeiten, haben Sie im FAS-Interview angekündigt.
Moderieren ist ja nur eine Spielform unseres Berufs. Da war ich sehr der Neutralität verpflichtet. Überparteilichkeit braucht es in unserem Beruf eh, das ist ja klar, aber wer eine so genannte „Rundendiskussion“ moderiert, der muss nochmal anders arbeiten. Der oder die darf sich auf keine Seite schlagen, sollte neutral bleiben, muss am besten bei jeder Frage die jeweilige Gegenposition zum Befragten einnehmen, um die Diskussion in Gang zu bringen. Man darf nicht riskieren, plötzlich selbst zur Diskussionsteilnehmerin zu werden. Dann killt man die Debatte und verliert jede Steuerung.
Ihre viel jüngere, aber höchst erfahrene Kollegin Sophie von der Tann hat dazu gesagt, sie mag den Begriff Neutralität nicht und würde ihn gern durch Objektivität ersetzen.
Klug!
Ist es schwierig, neutral oder objektiv zu bleiben, wenn viele Gesprächspartner das genaue Gegenteil davon sind?
Ob schwierig oder nicht: Objektivität ist das Nonplusultra. Darum müssen sich Journalistinnen und Journalisten immer bemühen. In meiner speziellen Rolle passte das Bemühen um Neutralität den Positionen der Gäste gegenüber aber noch besser. Eine Korrespondentin wie Sophie von der Tann hat einen anderen Job. Wer über einen so aufgeladenen Konflikt mit so viel Leid berichtet, der oder die kann nicht neutral sein, im Sinne von: unbeteiligt berichten. Aber es gilt, objektiv zu bleiben, sonst handelt man ganz schnell nicht mehr journalistisch, sondern aktivistisch. Spätestens das wäre der Punkt, an dem man den Beruf an den Nagel hängen müsste.
Und wie ist es als Moderatorin?
Das habe ich ja versucht, zu erklären. Aber mal ehrlich: Ich habe das jetzt mehr als 16 Jahre gemacht, ungefähr dreimal so lang wie jeden meiner Jobs zuvor. Jetzt ist erstmal gut mit Moderatorin einer Talkshow; ich will wieder stärker als Journalistin kenntlich sein. Darauf freue ich mich total.
„In den Tagesthemen zum Beispiel habe ich in der Regel hart konfrontativ gefragt. Etwa den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder, der mir danach kein Interview mehr geben wollte.“
Wobei man bei Ihrer Talkshow auch selten das Gefühl hatte, Sie würden allzu subjektiv agieren. Haben Sie in all den Jahren überhaupt mal jemanden richtig à la Lanz gegrillt?
Ich bin nicht sicher, ob „Grillen“ eine Technik ist, die in Journalismus-Seminaren gelehrt wird, weil dabei gern mal eine gewisse Unfairness mitschwingt. Aber wenn Sie es auf „hartnäckig nachfragen“ bringen, dann habe ich das dauernd gemacht. Man darf und muss Leute nachdrücklich zur Verantwortung ziehen für Dinge, die sie zu verantworten haben. Im Fall von Sahra Wagenknechts Russland-Bild etwa habe ich das zuletzt mehrfach getan. Und kurz nachdem Alexander Gauland gesagt hatte, niemand wolle Jérôme Boateng als Nachbarn haben …
Während der sogenannten Flüchtlingskrise.
… habe ich ihm bei mir in der Sendung den Mitschnitt einer seiner Reden vorgespielt, bei der er etwas Kritikwürdiges gesagt hatte. Und was behauptet Gauland? „Das hab’ ich nicht gesagt!“ Da habe ich ihm die Stelle nochmal vorgespielt und immer wieder gefragt, er könne doch jetzt nicht behaupten, es nicht gesagt zu haben, wir hätten es ja nun alle gehört. Irgendwann platzte Heiko Maas, damals Bundesjustizminister, der Kragen, der mit in der Runde saß.
Was hat Sie als Medienkonsumentin da persönlich mehr geprägt: Kragenplatz-Pranger wie Der heiße Stuhl mit Ulrich Meyer oder einfühlsames Abtasten à la Heut’ Abend mit Blacky Fuchsberger?
Beides hatte seine Daseinsberechtigung, lässt sich aber nicht miteinander vergleichen. Es kommt drauf an, was man gerade macht. In den Tagesthemen habe ich in der Regel hart konfrontativ gefragt. Etwa den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder, der mir danach kein Interview mehr geben wollte.
Ein Ritterschlag?
(lacht) Eher ein bisschen schade; ich hätte ihn später – jetzt nicht mehr – gern wieder zu Gast gehabt, aber er fühlte sich ungerecht von mir behandelt. Das war es aus meiner Sicht nicht. Er hatte halt nur nicht damit gerechnet, dass ich bei einer Schalte nach Washington mit dem ungeschriebenen Gesetz breche, Kanzler bei Auslandsbesuchen nicht innenpolitisch zu befragen.
Worum ging es dabei?
Um die Vertrauensfrage, die er tags zuvor angekündigt hatte. Ich wollte wissen, ob er glaubt, damit durchzukommen und hab’ das mit der zugegeben etwas übertriebenen Behauptung begründet, 80 Millionen Bundesbürger würden das jetzt echt gern von ihm wissen. Ein Teil von denen fand es im Anschluss anmaßend, so mit dem Bundeskanzler zu reden, der andere Teil meinte das Gegenteil. Aber das war weder Heißer Stuhl noch Heut’ Abend, sondern einfach kritischer Journalismus.
Dann zwei andere Referenzgrößen zur Auswahl: Michel Friedman und Reinhold Beckmann, also eher Konfrontation oder Einfühlungsvermögen?
Eher Konfrontation, aber eben auf meine Art. Ich will mich da aber gar nicht mit Kolleginnen und Kollegen vergleichen, die allesamt herausragende Fähigkeiten haben.
Hatten oder haben Sie denn so etwas wie Vorbilder?
Hatte ich. Allen voran Juliane Bartel. Als ich Anfang der Neunzigerjahre volontiert habe, war sie Radio-Moderatorin bei SFB2 und neben Giovanni di Lorenzo Gastgeberin bei 3 nach 9. Ihre knallharte Lässigkeit wollte ich mir abgucken. Ich erinnere mich an ein Interview mit einem Berliner Immobilienhai, der sich irgendwann nur noch bitterlich über ihre Fragen beklagte. Dann hörte man sie lange an der Zigarette ziehen, genüsslich ausatmen und sagen: „Ach, Herr Bendzko, mir kommen die Tränen.“ Sensationell!
Als Frau in einer männerdominierten Zeit. Journalistinnen waren in der Minderheit und wurden eher als defensiv betrachtet.
Total. Schon deshalb hatte ich mir Juliane Bartel zum Vorbild genommen. Bis aufs Rauchen wollte ich genauso werden. Wahnsinnsstimme, tolle Präsenz, in meinem Verständnis als 26-jährige Volontärin eine echte Vorreiterin.
Das waren Sie auch. Sie haben als erste Frau die Sportschau moderiert und den prominentesten Sendeplatz der Talkshow-Landschaft übernommen.
Aber Herr Freitag, haben Sie da jetzt nicht jemanden vergessen?
Herrje – Sabine Christiansen natürlich, die auch Ihre Vorgängerin bei den Tagesthemen war. Trotzdem waren Sie früh prominent in einer Branche vertreten, die seinerzeit noch männlich dominiert war. Was war für die Gleichberechtigung wichtiger: Ihre Rolle im Sportjournalismus oder in der politischen Debattenkultur?
Wenn überhaupt, dann habe ich mit der Sportschau noch was freigekämpft. Denn da sah ich mich tatsächlich noch mit spießigsten Zweifeln konfrontiert, ob Frauen sowas überhaupt können. Im Politjournalismus hatte Sabine Christiansen bereits etliche Schlachten geschlagen. Bei den Sportkommentatorinnen dauern die ja bis heute an.
Claudia Neumann kriegt heute noch bei jedem kommentierten Fußballspiel einen Shitstorm, als lebten wir in den Fünfzigern.
Tja, traurig, aber wahr. Der Kampf um Gleichstellung ist eben längst nicht gewonnen, da muss man dranbleiben. Deshalb wollte ich immer möglichst viele, auch junge Frauen im Team haben – egal, mit wie vielen Schwangerschaften ich dann als Arbeitgeberin umgehen muss. Das sage ich nur, weil das immer noch manchen Einstieg verhindert. Und ich sage es auch, weil sich in dem Zusammenhang in den zurückliegenden 16 Jahren tatsächlich was zum Besseren verändert hat.
Zum Beispiel?
Dass mittlerweile mehr Männer in Elternzeit gehen, und zwar länger als die üblichen zwei Monate. Und: Manch einer kündigt so einen Plan selbstverständlich und ungefragt beim Vorstellungsgespräch an. Als mir das passierte, war ich wirklich baff und fand es super. Eine meiner Mitarbeiterinnen sagte mal, wahre Gleichstellung hätten wir erst, wenn Arbeitgeber auch bei jungen Männern als erstes damit rechneten, dass sie demnächst in Elternzeit gehen. Recht hat sie. So weit sind wir aber nicht. Mit der neuen Elternzeitregelung gibt es eher wieder eine Form von Backlash. Umso wichtiger ist, auch an der Repräsentation von Frauen zu arbeiten. Wir hatten uns deshalb die Regel gesetzt: mindestens zwei Frauen in der Runde zu haben.
Inklusive oder exklusive Ihrer Person?
Exklusive. Und das klappt auch. Leicht ist es allerdings immer noch nicht. Denn Männer sind in Entscheidungs- und Leitungsfunktionen nun mal weiterhin in der Mehrheit. Nehmen wir die Parteien: Bei FDP und CDU/CSU kommt man, anders als bei Grünen und SPD, schnell an Grenzen, weibliche Vorsitzende in eine Sendung einladen zu wollen.
Gibt es geschriebene oder ungeschriebene Regeln, wie genau Talkrunden zusammengesetzt sein sollten? Ich meine das Verhältnis von Männern und Frauen, Wissenschaft und Politik, Biodeutschen und Zugewanderten, Prominenten und Ottonormalverbraucherinnen.
Nein, die gibt es nicht. Besetzungen von Runden sind rein journalistische Entscheidungen. Es geht darum, unterschiedliche Positionen und Perspektiven vertreten zu sehen. Terminfragen von Wunschgästen können noch eine Rolle spielen. Mindestens zwei Frauen dabei zu haben, war halt unsere Regel. Jemand von der Regierung und der Opposition dabei zu haben, kann nicht schaden, muss aber nicht sein. In der letzten Sendung war nur ein Politiker dabei. Geht auch. Aber eine Pandemie-Ausgabe ohne Virologin oder Virologen? Schwierig! Wichtig ist, was die Person beizutragen hat, weniger, wen sie repräsentiert.
Hatten Sie je persönliche Präferenzen?
Am liebsten spreche ich mit eloquent argumentierenden, lebendigen, leidenschaftlichen Menschen. Da ist mir ihre Funktion erstmal herzlich egal. Menschen, die sich reinwerfen in die Thematik, denen ich sowas wie Wahrhaftigkeit abnehme und die am Ende womöglich sogar die Größe haben, sich vom besseren Argument überzeugen zu lassen.
Heute sitzen Laien häufiger als früher in Talkshows. Trifft all das auf sie eher zu als auf Profis?
Da mache ich keinen Unterschied. Und so neu ist die Entwicklung hin zu Gästen ohne Kamera-Erfahrung gar nicht. Wir haben damit schon 2007 begonnen. Wir haben ihnen damals sogar einen eigenen Platz zugewiesen, der gleich geringschätzig „Betroffenensofa“ genannt wurde.
Puh.
Wir sind irgendwann davon abgekommen, in jede Sendung eine Betroffene einzuladen, und haben wieder mehr auf Multiplikatoren gesetzt. Bürgermeister, Gewerkschafts- oder Städtetagvertreterinnen, die nicht nur für sich, sondern für viele sprechen. Aber wir haben in 553 Sendungen und bei mehr als 1.300 Gästen wirklich alle möglichen Menschen dagehabt – vom zu Unrecht wegen Mordes Verurteilten bis hin zur Supermarktverkäuferin, die wegen eines angeblich geklauten Pfandbons über 20 Cent ihren Job verloren hatte.
Wen hätten Sie gern mal in Ihrer Sendung gehabt, aber nie bekommen oder es gar nicht erst versucht?
Lustigerweise habe ich mich jahrelang darum bemüht, Navid Kermani in die Sendung zu bekommen, der tatsächlich noch nie in einer Talkshow war. Sein erster Auftritt in meiner letzten Sendung – das hat mich riesig gefreut.
Und sonst so?
Man sagt üblicherweise: der Papst, Joe Biden, Barack Obama. In Wahrheit habe ich gar nicht von grandiosen Namen geträumt, sondern von bestmöglichen Runden zu richtig guten Themen.
Könnten Sie sich vorstellen, noch mal eine andere Talkshow an anderer Stelle zu moderieren?
Klar. Ich habe meine Sendung gerne moderiert, sehr gerne sogar. Sonst hätte ich es nicht so lange gemacht. Aber das ist aktuell nicht das Erste auf meiner Liste.
Wovor haben Sie denn mehr Angst: Unterforderung und Langeweile oder einen Preis fürs Lebenswerk zu kriegen?
Sehr schöne Frage. Für den Lebenswerkpreis bin ich zu jung und gegen Unterforderung und Langeweile werde ich schon was tun. Bei beidem besteht also vorerst kein Grund zur Sorge.
Anne Will
1966 geboren in Köln, ist Anne Will seit 25 Jahren eines der prägendsten Gesichter des deutschen Fernsehens. Ende 1999 übernimmt die M.A. in Politik- und Geschichtswissenschaft als erste Frau die Moderation der Sportschau und löst zwei Jahre später Gabi Bauer bei den Tagesthemen ab. Die Tagesthemen übergibt sie 2007 an Caren Miosga, um Sonntagabend im Ersten Anne Will zu moderieren. Nach 553 Sendungen in 16 Jahren wird sie auf diesem Sendeplatz abermals von Miosga abgelöst. Anne Will wird sich jetzt verstärkt der journalistischen Arbeit widmen, etwa in Podcasts, Reportagen und Einzelinterviews. Ein mediales Role Model war und ist Anne Will zudem, weil sie zum Auftakt der ARD-Talkshow ihre langjährige Beziehung zur Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel publik machte. Anne Will lebt in Berlin, wo sie ihre Produktionsfirma Will Media GmbH betreibt.
Jan Freitag arbeitet als freier Journalist in Hamburg. Andreas Pein ist Fotograf in Berlin.