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"Gutes Sicherheitsmanagement ist der beste Burn-out-Schutz"
Yemile Bucay berät Medien in Sicherheitsfragen, von Kriegseinsätzen bis hin zu Bedrohungen auf Demos. Sie sagt: "Allen Beteiligten muss klar sein, dass Sicherheit in diesem Beruf sehr leicht erodiert." Interview: Marlene Halser
01.11.2023
journalist: Frau Bucay, Sie arbeiten als Sicherheitsexpertin für Journalistinnen und Journalisten. Was machen Sie genau?
Yemile Bucay: Diesen Posten gibt es in den USA und in Großbritannien seit dem Golfkrieg beziehungsweise seit dem Einmarsch westlicher Truppen in Afghanistan. Es war die Zeit des embedded journalism. Reporter mussten aus klassischen Hochrisiko-Kriegsgebieten berichten. Also wurden Sicherheitsberater eingestellt. Zu Beginn waren das in erster Linie ehemalige Militärs, die sich mit den Risiken in Kriegsgebieten auskannten und die die Reporter vor dem Einsatz schulen konnten. Es ging dabei vor allem um das richtige Verhalten in feindlicher Umgebung und um Erste-Hilfe-Trainings.
Also: Was mache ich im Falle einer Entführung, oder wie stoppe ich eine Blutung?
Genau. In den folgenden Jahren haben sich die Aufgaben erweitert. Es ging auch um Länder mit begrenzter Rechtsstaatlichkeit oder mit einer hohen Kriminalitätsrate. Und dann – vielleicht in den letzten fünf bis zehn Jahren – hat es in den Redaktionen erneut ein Umdenken gegeben. Heute geht es darum, Risiko- und Sicherheitsbewertung inklusiver und ganzheitlicher zu gestalten.
Was bedeutet das?
Langsam entsteht in Redaktionen ein Bewusstsein dafür, dass es für Journalistinnen und Journalisten im Prinzip immer Bedrohungen geben kann, unabhängig vom Land, in dem sie recherchieren, und auch zu jedem Zeitpunkt. Man kann physische Risiken nicht von psychischen oder sozialen Gefahren oder auch von Angriffen auf die Reputation eines Journalisten trennen. Also muss man nach ganzheitlichen Lösungen suchen.
Wie geht das?
Das Individuum muss im Vordergrund stehen. Ich versuche zu verstehen, was die individuelle Bedrohungslage ist, welche Geschichten recherchiert werden und in welchem Verhältnis die Identität des Reporters oder der Reporterin zu den Themen steht, die er oder sie bearbeitet. Ein weißer Mann ist anderen Bedrohungen ausgesetzt, als eine Schwarze Frau. Gleichzeitig haben sie oft unterschiedliche Zugänge. All das muss ich miteinbeziehen. Auch versuche ich, die Person innerhalb ihres Arbeitsumfeldes zu begreifen. Häufig arbeiten Journalisten ja in Teams, die nicht nur aus Reportern bestehen, sondern es gibt auch Fahrer oder Übersetzer oder einen Producer oder Stringer vor Ort. Auch die muss man selbstverständlich in Sicherheitsfragen miteinbeziehen. Meine Rolle als Risikoberaterin besteht also darin, solche Bedrohungen zu identifizieren und mit der Redaktionsleitung zusammenzuarbeiten, um diese Risiken so gut es geht zu minimieren. Ich sorge dafür, dass Gefahren weniger wahrscheinlich sind – und wenn doch etwas passiert, dass die Auswirkungen weniger schwerwiegend sind.
Wie machen Sie das?
Dafür, dass ich meine Arbeit gut machen kann, muss eine zentrale Voraussetzung erfüllt sein: Innerhalb des Verlags und in der Redaktion muss das Verständnis vorherrschen, dass Reporterinnen und Reporter Menschen sind, die Wertschätzung und Sicherheit brauchen, weil sie sonst früher oder später einfach nicht mehr können. Allen Beteiligten muss klar sein, dass Sicherheit in diesem Beruf sehr leicht erodiert und dass man nicht mehr ordentlich arbeiten kann, wenn Sicherheit nicht gegeben ist. Das betrifft Freie oft viel akuter als die festangestellten Journalisten.
Warum?
Redakteurinnen und Redakteure sind in einen Redaktionsalltag eingebunden, der Rückhalt bieten kann. Auch müssen sie nicht unmittelbar fürchten, dass sie ihren Job verlieren, wenn sie Forderungen stellen. Bei Freien dagegen hängt es oft sehr davon ab, wie gut ihr Verhältnis zu einem einzelnen beauftragenden Redakteur ist und wie erfahren sie sind, ob sie überhaupt in der Lage sind, über das Thema Sicherheit zu sprechen und hier gute Bedingungen zu verhandeln. Freie zögern deshalb häufig, um etwas zu bitten, weil sie Angst haben, dass man sie dann nicht mehr beauftragt. Es muss der Verlag sein, der auch zu Freien sagt: Diese und jene Ressourcen bieten wir unseren Reportern an, um sie zu schützen.
Wie arbeiten Sie denn mit einem Reporter, der einen schwierigen Einsatz vor sich hat? Sagen wir: eine Demonstration von Rechten, die Journalisten als „Lügenpresse” beschimpfen und handgreiflich werden könnten?
Ein Fall, der vergleichsweise häufig vorkommt. Hier würde ich eine einwöchige Basisschulung vorschlagen für alle Reporterinnen und Reporter, die solche Einsätze machen. Buzzfeed hat beispielsweise mit der New York Times kooperiert, sodass eine größere Gruppe zusammenkam. Dort würden wir besprechen, welches Sicherheitsequipment sinnvoll ist und wie man es am besten trägt, sodass es einen nicht bei der Arbeit stört. Zum Beispiel Helme oder auch Sicherheitswesten. Die sollten Reportern zur Verfügung stehen.
"Allen Beteiligten muss klar sein, dass Sicherheit in diesem Beruf sehr leicht erodiert und dass man nicht mehr ordentlich arbeiten kann, wenn Sicherheit nicht gegeben ist."
Was wäre der Inhalt der Schulung?
Wir würden über Vor- und Nachteile der Schutzausrüstung sprechen. Einerseits schützt sie den Körper vor Verletzungen, gleichzeitig macht sie einen auch leichter erkennbar. Man muss also wissen: Wie evaluiere ich das Risiko des jeweiligen Einsatzes, und nach welchen Kriterien entscheide ich mich für welche Ausrüstung? Ebenso wichtig ist die Frage: Welche Kommunikationswege habe ich während des Einsatzes mit der Redaktion? Es sollte immer eine Ansprechperson geben, die nicht auf der Demonstration ist. Man sollte auch eine klare Vorstellung vom Gelände haben und wissen, wo mögliche Fluchtwege sind. Man sollte die rechtliche Situation kennen, zum Beispiel wenn es zu Polizeikesseln oder Festnahmen kommt.
Reicht eine einmalige Schulung aus?
Das ist das Basiswissen. Idealerweise gibt es zusätzlich vor jedem Einsatz eine Besprechung zwischen dem Reporter, der Ressortleitung und dem Sicherheitsberater. Ich habe es immer ein gemeinsames Dokument angelegt, in dem wir zusammentragen, welche möglichen Gefahren es bei diesem Einsatz gibt und wie wir Schritt für Schritt vorgehen, wenn etwas davon eintrifft. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass wir eine gemeinsame Chat-Gruppe auf Signal einrichten und bestimmte Zeiten für Check-ins vereinbaren. Oder die Person im Backoffice kann die Nachrichtenlage zu diesem Ereignis filtern und Informationen in der Gruppe teilen, die für die Person vor Ort hilfreich sind.
Das heißt, Sie sind automatisch im Dienst, wenn eine Reporterin oder ein Reporter auf einem potenziell gefährlichen Einsatz ist?
Das ist etwas, wofür ich mich bei Buzzfeed sehr eingesetzt habe: Wenn jemand draußen unterwegs ist, muss es einen zuverlässigen Ansprechpartner im Backoffice geben, der den Reporter betreut. Diese Person darf weder schlafen noch selbst eine wichtige Deadline haben. Es führt zu rationaleren Entscheidungen, wenn man sich mit jemandem besprechen kann, der nicht vor Ort ist und sagen kann: Brauchen wir das wirklich für die Geschichte? Lohnt sich das Risiko? Das gibt Sicherheit. Denn am Ende des Tages ist Sicherheit genau das: ein Gefühl.
Das müssen Sie erklären.
Man kann Maßnahmen ergreifen, die objektiv zu mehr Sicherheit beitragen. Aber am Ende ist Sicherheit ein individuelles Gefühl, das von weitaus mehr Faktoren abhängt. Zum Beispiel von den Erfahrungen, die eine Person zuvor in ihrem Leben gemacht hat. Und eben auch von ihrer Identität. Ich als relativ kleine Frau fühle mich in einer Menschenmenge, die aus aggressiven Männern besteht, die misogyne Beleidigungen brüllen und mich alle um mindestens einen Kopf überragen, wahrscheinlich weniger sicher als ein Kollege, der zwar vielleicht diese Sprüche nicht teilt, aber allein aufgrund seines Geschlechts und seiner Größe leichter in der Menge verschwinden kann. Es geht also auch um die Wahrscheinlichkeit, Opfer zu werden. Die ist nicht für alle Menschen gleich. Insofern können auch die Lösungen nicht für alle gleich sein. Eine Kultur der Sicherheit schafft man nur dann, wenn man sich immer wieder aufs Neue fragt: Wen schicke ich wohin und was bedeutet das für diese Person?
Welche Unterstützung sollten Redaktionen Freien bieten?
Es muss vor Einsätzen dieselbe Risikoabwägung geben wie bei festangestellten Reportern. Das ist zentral. Die Zeit, die dafür drauf geht, ist Arbeitszeit und sollte bezahlt werden. Auch sollte Freien dieselbe Schutzausrüstung zur Verfügung stehen. Bei besonders gefährlichen Einsätzen muss die Redaktion für den Freelancer eine Versicherung abschließen. Wichtig ist auch, dass die Redaktion auch nach der Veröffentlichung noch ansprechbar ist, wenn es irgendwelche Probleme gibt. Sei es nun Online-Belästigungen oder juristische Klagen. Meine Einschätzung dazu ist sehr klar: Freelancer sollten Zugriff auf dieselben Ressourcen, dieselben Zugänge und denselben Schutz haben wie Festangestellte. Denn am Ende ist es die Redaktion, die ganz maßgeblich von der Arbeit von Freien profitiert. Sicherheit ist keine Privatsache, für die Freie selbst aufkommen müssen.
"Manchmal genügen auch nur wenige Nachrichten oder E-Mails mit besonders gewalttätigem, erniedrigendem Inhalt, um jemanden völlig aus der Bahn zu werfen."
Welche unterschiedlichen Bedrohungen haben Sie in Ihrer Arbeit identifiziert?
Es gibt nach wie vor Reporter, die aus Kriegs- und Krisengebieten berichten, wie aktuell aus der Ukraine oder Israel/Gaza. Also gibt es auch weiterhin die akute Gefahr, verletzt zu werden oder zu sterben. Hinzu kommen – bedingt durch die voranschreitende Klimakatastrophe – Orte, an denen Umweltkatastrophen wie Waldbrände oder Überschwemmungen stattfinden. Auch solche Ereignisse bergen Gefahren für Leib und Leben. Gefährlich können aber auch Demonstrationen oder Proteste mit gewaltsamen Ausschreitungen sein. Aber die Gefahren für Journalisten nehmen auch in anderen Bereichen zu.
Welche sind das?
Da sind zum einen rechtliche Bedrohungen, wie Verleumdungsklagen oder Klagen wegen übler Nachrede. Auch gibt es zunehmend SLAPP suits, also Klagen, bei denen es um etwas ganz anderes geht, oft um finanzielle Angelegenheiten, die aber dazu dienen sollen, Reportern die Existenzgrundlage zu entziehen, um sie zum Schweigen zu bringen. Und dann gibt es natürlich eine ganze Reihe psychischer Risiken.
Was beobachten Sie da?
Überlastung, Depression, traumatische Erlebnisse, Burn-out. Psychische Belastungen können entstehen, wenn Journalisten über Covid berichten und viele Menschen sterben sehen, oder aber auch wenn sie in den USA über Waffengewalt berichten und dann über fünf Schulmassaker innerhalb von sechs Wochen schreiben. Das fordert Tribut. Auch moralische Dilemmas können für Reporterinnen und Reporter sehr belastend sein. Wenn die Menschen, die Sie interviewen wollen, eigentlich Hilfe brauchen und Sie das aufgrund ihrer Rolle nicht leisten können. Reporter zum Beispiel, die über illegale Einwanderung berichten und Grenzen problemlos überqueren können, während andere verzweifelt auf einer Seite festhängen oder das Mittelmeer in Booten überqueren müssen und ertrinken.
Aber lässt sich so etwas verhindern?
In solchen Fällen würde ich eher daran arbeiten, die Auswirkungen so gut es geht abzumildern. Dafür gibt es verschiedene Strategien. Egal, was man macht: Am wichtigsten ist, dass so was von oben, also von der Redaktionsleitung oder aus dem Management kommt. Was auch hilft ist ein so genanntes Peer-Netzwerk, also Kolleginnen und Kollegen, die darin geschult sind, betroffenen Kollegen zuzuhören und die richtigen Fragen zu stellen, wie eine Art akute Erstversorgung. Das hilft aber nur dann, wenn es im Anschluss auch die Möglichkeit gibt, betroffene Kollegen an geschulte Psychologen oder in andere medizinische Angebote zu vermitteln, für die die Redaktion die Kosten übernimmt.
Wie sehen solche Schulungen aus?
Idealerweise macht das ein Psychologe und alle in der Redaktion nehmen daran teil. Darin wird besprochen: Was ist Trauma und was bedeutet peer support überhaupt? Aber auch: Wie ist das interne Programm aufgebaut und welche Grenzen hat es? Welche Ressourcen stehen für die psychische Gesundheit der Mitarbeitenden zur Verfügung? Es nützt nichts, wenn es eine Ansprechperson gibt, von der in der Redaktion niemand weiß. In den USA ist Gesundheitsvorsorge oft an den Arbeitgeber gebunden. Psychotherapie ist meist teuer. Ein Arbeitgeber könnte also beispielsweise die Kosten der Behandlung tragen. Oder man kann einen Therapeuten einstellen, zu dem die Mitarbeitenden gehen können. Auch regelmäßige Workshops mit traumasensiblen Therapeuten, die bereits mit Journalisten gearbeitet haben, sind gut. Das Dart Center bietet solche Workshops an. So kann ein Bewusstsein im Haus dafür geschaffen werden, welche Belastungen es geben kann. Reporter können lernen, wie sie bei sich selbst frühzeitig Signale einer Überlastung erkennen. Sie können Strategien entwickeln, um mit belastendem Bildmaterial oder traumatischen Situationen besser umzugehen. Wichtig ist aber auch, wer welchen Auftrag bekommt.
Inwiefern?
Die Redaktions- oder Ressortleitung sollte wissen, wer gerade womit zu tun hat – und entsprechend auch was diese Person noch schultern kann und was nicht. Das können so simple Dinge sein wie dass man nicht immer denselben Reporter zu Massenschießereien schickt. Man braucht ein Verständnis dafür, dass eine Person, die gerade so eine Geschichte gecovert hat, danach vielleicht mal etwas Leichteres, Fröhliches braucht.
"Innerhalb des Verlags und in der Redaktion muss das Verständnis vorherrschen, dass Reporter und Journalisten Menschen sind, die Wertschätzung und Sicherheit brauchen, weil sie sonst früher oder später einfach nicht mehr können."
Was schlagen Sie im konkreten Fall vor?
Die Leitung muss mit der Reporterin oder dem Reporter sprechen. Das kann die einfache Frage sein: Wie geht es dir nach der letzten Recherche? Was brauchst du jetzt? Kannst du noch? Man kann für potenziell traumatisierende Recherchen auch ein Rotationsprinzip einführen, oder Regeln etablieren, die automatisch dafür sorgen, dass es Abwechslung in der Besetzung gibt. Das entlastet, weil dann niemand um eine Pause bitten muss. Man kann institutionalisieren, dass man nach belastenden Recherchen automatisch ein paar Tage frei bekommt, damit man abschalten kann. Es sollte auch klare Regeln zum Thema Erreichbarkeit geben. Auch ständige Rufbereitschaft ist eine psychische Belastung. Es muss Zeiten geben, in denen man frei hat und in denen auch wirklich niemand stört.
Wie sieht es mit belastendem Bild- oder Videomaterial aus?
Auch hier ist die Leitungsebene gefragt. Es muss jemanden geben, der sich die Frage stellt: Ist es wirklich notwendig, dass sich diese Person ein bestimmtes Video oder bestimmte Bilder ansieht? Bringt das die Recherche tatsächlich voran? Falls dem so ist: Wie genau machen wir das? In welchem Rahmen? Alleine oder gemeinsam? Wie viel Zeit am Stück? Auch hier lassen sich Verfahren etablieren und Regeln aufstellen, die solches Material für die, die es sichten, weniger toxisch machen. Wenn die Leitungsebene sich der Tatsache bewusst ist, dass mentale Gesundheit ein wichtiges Thema ist und wenn über dieses Thema in der Redaktion offen und ohne Stigmatisierung gesprochen wird, dann macht das meist schon ziemlich viel aus.
Leider fehlt dafür im Redaktionsalltag oft die Zeit, oder es fehlt generell an Ressourcen.
Das ist richtig. Und das Schlimme daran ist: Wenn das Geld fehlt und Leute entlassen werden müssen, dann sind immer weniger Reporter übrig, die über potenziell traumatisierende Ereignisse berichten können. Es bleibt weniger Raum, sich zu erholen. Das ist auf Dauer schädlich. Denn immer dann, wenn Reporter und ihre Arbeit nicht wertgeschätzt werden, wird auch ihre Sicherheit prekär. Eigentlich wäre es deshalb gerade in finanziell schlecht aufgestellten und unterbesetzten Redaktionen notwendig, auf die psychische Gesundheit und auf die Sicherheit der Journalisten zu achten. Gutes Risiko- und Sicherheitsmanagement ist der beste Burn-out-Schutz.
Wir haben noch gar nicht über Hass im Netz gesprochen. Ist das nicht auch eine Risikoquelle?
Auf jeden Fall! Es gibt vielfältige digitale Bedrohungen. Dazu zählen Online-Belästigungen ebenso wie Fälle von Hacking und Doxing, also wenn private Informationen wie die Adresse eines Reporters öffentlich ins Netz gestellt werden. Hass im Netz hat sich zu einem sehr weit verbreiteten Phänomen entwickelt. Aber auch hier gilt: Davon sind nicht alle Journalisten gleich stark betroffen. Auch Beleidigungen im Netz haben oft etwas mit der Identität des Journalisten zu tun, und unterschiedliche Menschen können unterschiedlich stark verwundbar oder angreifbar sein. Ich bin jüdisch. Bei mir steht in solchen Nachrichten, dass ich am besten vergast werden oder dass man Lampenschirme oder Seife aus mir machen sollte. Selbst wenn solche Drohungen nicht in die Tat umgesetzt werden, haben sie dennoch starke psychische Auswirkungen für die Person, die sie bekommt. Manchmal genügen auch nur wenige Nachrichten oder E-Mails mit besonders gewalttätigem, erniedrigendem Inhalt, um jemanden völlig aus der Bahn zu werfen. Vielleicht kochen Sie Ihren Kindern gerade das Abendessen und plötzlich haben sie eine Morddrohung im Postfach, oder jemand beschreibt detailliert, wie er Sie auf brutale Weise vergewaltigen oder Ihren Kindern Schmerzen zufügen will.
Von Online-Belästigungen sind nicht nur Journalisten betroffen. Gibt es dennoch Unterschiede?
Ich denke schon, dass Hass im Netz bei Journalisten eine andere Qualität haben kann, einfach weil Reporter gar nicht die Möglichkeit haben, anonym zu bleiben. Journalisten werden so zu einem Symbol für alles, von dem andere glauben, es kritisieren zu müssen. Dadurch geraten sie in die Schusslinie. Auch können Angriffe aus allen Richtungen kommen. Der Auslöser kann eine schlechte Rezension des neuen Taylor-Swift-Albums sein oder ein kritischer Kommentar über die britische Königsfamilie oder auch Metoo-Berichterstattung über einen bekannten Künstler. Plötzlich bekommen Journalisten eine Flut von Hass-Kommentaren und werden Opfer einer Kampagne der Fans. Ich glaube nicht, dass das so auf andere Berufsgruppen zutrifft. Ich würde auch sagen, dass die Gefahren für Journalisten generell zunehmen.
Woran liegt das?
Ich glaube, die Gegner fühlen sich ermutigt, weil gefährliches und einschüchterndes Verhalten gegenüber Journalisten sehr oft straflos bleibt. Wenn die Belästigung, Einschüchterung oder Verletzung eines Journalisten keine Konsequenzen hat, warum sollte man damit aufhören? In manchen, meist autoritären, Ländern werden Belästigungen und Einschüchterungsversuche ja sogar staatlich gesteuert. Fast nie müssen die Täter am Ende damit rechnen, dass ihnen etwas passiert. Denken Sie an Jamal Khashoggi. Hier gilt als gesichert, dass der saudische Kronprinz seine Ermordung angeordnet hat. Oder die maltesische Journalistin Daphne Caruana Galizia. Auch hier gibt es Indizien, dass der Auftrag für die Autobombe, die sie getötet hat, aus Regierungskreisen kam. Wenn die Gewalt von ganz oben kommt, sind Journalisten vogelfrei, und das ermutigt auch andere.
Yemile Bucay ist Reporterin und arbeitet als Medienstrategin und Sicherheitsexpertin für Journalisten. Zuvor war sie als Risk and Security Manager bei BuzzFeed in New York angestellt. Bucay ist Fellow im Next-Gen-Safety-Trainers-Programm der International Women’s Media Foundation. Sie hat an Projekten wie ElectionSOS, NewsQ, NewsGuard und FASPE mitgewirkt. Zu Beginn ihrer Karriere war sie Global Migration Reporting Fellow an der Columbia University und berichtet über die Schnittstelle zwischen Einwanderung und Gender. Als Journalistin und Dokumentarfilmproduzentin hat sie unter anderem in Mexiko und Frankreich recherchiert. Ihre Arbeiten wurden in der Columbia Journalism Review, bei Broadly, Newsweek, Tablet und Rest of World veröffentlicht.