Social-Media-Recherche

Gangs und Panzer auf TikTok

18.08.2023

Tiktok bietet nicht nur unterhaltsame Clips, sondern ist auch Schauplatz für Krieg, Konflikt und Kriminalität. Journalist*innen erhalten etwa Einblicke in den Krieg in der Ukraine oder in den Alltag von Gangs und Kartellen – mit den richtigen Tricks und Tools. Text: Julia Jaroschewski und Sonja Peteranderl, Illustration: Joni Majer

Tiktok als Rechercheinstrument rund um Kriege, Gangs und Kartelle

Ein Soldat wirft sich bei einer Explosion in den Schützengraben, durch einen Wald rollt eine Panzerkolonne, ein junger Ukra­iner filmt sich, während er aus einer Konservenbüchse isst: Der Krieg in der Ukraine wird auf Tiktok fast in Echtzeit festgehalten – in Millionen von Video-Fragmenten, die sich teils rasant weiterverbreiten, immer wieder neu remixt werden. Bereits Tage vor der russischen Invasion in die Ukraine im Februar 2022 verfolgten Analyst*innen die Truppenbewegungen über soziale Netzwerke wie Tiktok mit – der Krieg in der Ukraine gilt als der erste Tiktok-Krieg.

Die Videoplattform ist eine Fundgrube für Journalist*innen, um Innenansichten aus sonst schwer zugänglichen Szenarien wie Kriegs- und Konfliktschauplätzen oder aus dem Alltag krimineller Akteur*innen zu erhalten. Junge Soldat*innen und Anhänger*innen der Kriegsparteien verbreiten Inhalte aus dem Krieg in der Ukraine. Russ*innen ist es per Gesetz verboten, den Krieg und das russische Militär in sozialen Netzwerken zu kritisieren. Das Start-up Newsguard, das die Vertrauenswürdigkeit von Websites bewertet, identifizierte unter anderem Hunderte gewaltverherrlichende Videos der russischen Söldner-Gruppe Wagner auf Tiktok – und einige Konten, die Rekrutierungsaufrufe für die Wagner-Gruppe veröffentlichen.

Auch jüngere Mitglieder krimineller Organisationen weltweit dokumentieren via Tiktok ihren Lebensstil. Sie verbreiten Bilder und Videos von Dollarbündeln, Drogenlieferungen, Motorrädern oder Waffen – von US-amerikanischen, brasilianischen oder britischen Gangs bis hin zu italienischen Mafia-Mitgliedern und mexikanischen Kartellen. In Bolivien filmte sich eine Gruppe junger Männer dabei, wie sie im Regenwald Kokapaste herstellt. Im vergangenen Jahr wurden der 18-jährige Tiktoker Fortunato737 und der 26-jährige Tiktoker Colorits.fortu45 festgenommen, die mehrere der auf Tiktok viral gegangenen Videos angefertigt hatten. Kriminelle Nutzer*innen fordern auf der Plattform auch rivalisierende Gruppierungen heraus, versuchen in Ländern wie Mexiko Nachwuchs zu rekrutieren und bieten teils auch Drogen und kriminelle Dienstleistungen an.

Auf Tiktok mischen sich dabei authentische Originalfotos und -videos mit gefälschten Aufnahmen und Material, das völlig aus dem Zusammenhang gerissen ist. Oft veröffentlichen Nutzer*innen auch alte Aufnahmen von anderen Plattformen oder Ausschnitte aus Filmen. Wie also gelingt es Journalist*innen, sich Einblicke in Kriege, Konflikte oder Kriminalität zu verschaffen? Welche Taktiken und Tools lassen sich zur Suche und Verifizierung von Tiktok-Material nutzen?

Spezielle Hashtags sind meist das Eintrittsticket in die teils verborgenen Welten. „Dass viel mit Hashtags gearbeitet wird und zusätzlich viele Informationen öffentlich einsehbar sind, ist hilfreich für die Recherche”, sagt Johanna Wild von der Investigativplattform Bellingcat, die häufig auf Tiktok recherchiert. „Tiktok ist für uns in den vergangenen Jahren immer wichtiger geworden, insbesondere im Kontext von Konflikten.”

AK-47 heißt „Ziegenhorn“

Bei der Recherche zu kriminellen Organisationen oder zum Ukrainekrieg lohnt es sich, vor der Tiktok-Recherche öffentlich verfügbare Informationen wie Medien- und Forschungsberichte, Blogbeiträge und Studien zu den Zielgruppen zu lesen oder Interviews mit Expert*innen zu führen, um zu wissen, welche Symbole, Drogenbezeichnungen, Logos, Waffen, Interessen, Ausdrücke oder weitere Besonderheiten für die Tiktok-Recherche relevant sein könnten – etwa das „Z“ als Symbol der Unterstützung für die russische Armee.

Wer möglichst viel Wissen zu lokalem Slang oder in einer Szene oft genutzten Begriffen hat, kann gezielter suchen. In Mexiko heißt das bei mexikanischen Kartellen beliebte Sturmgewehr AK-47 etwa cuerno de chivo („Ziegenhorn”). Auch Orte spielen eine Schlüsselrolle. In welchen Clubs, Bars oder Städten halten sich bestimmte Gruppierungen bevorzugt auf? Wie bezeichnen Gangs ihr Territorium? Haben Gruppierungen eine Hochburg oder Insignien, die sie verehren – wie die italienische ’Ndrangheta, deren Historie eng mit dem Bergdorf San Luca verknüpft ist und bei deren Aufnahme­ritualen Heiligenfiguren eine zentrale Rolle spielen?

Tiktok-Analysis-Tool

„Hashtags haben oft mit Orten zu tun, gerade bei unseren Recherchen zur Ukra­ine und anderen Konfliktgebieten”, beobachtet Johanna Wild von Bellingcat. Sie hat für Bellingcat das Tiktok-Analysis-Tool entwickelt, das via Programmierschnittstelle (API) über einen längeren Zeitraum hinweg automatisiert Daten von Tiktok sammelt, die mit bestimmten Hashtags verbunden sind – und auch analysiert, welche anderen Themen am häufigsten zusammen mit ausgewählten Hashtags erscheinen. „Wenn ich 500 Tiktok-Posts gescrapt habe, weil sie alle den Hashtag #ukraine beinhalten, dann kann das Tool analysieren, was für Hashtags in den Posts noch vorkommen”, erklärt Wild. Die Datenanalyse zeigt ihr etwa, welche speziellen Begriffe von militärischen Gruppen benutzt werden. Das Tool stellt Bellingcat auf Github kostenfrei zur Verfügung. Allerdings können häufige Veränderungen bei der Tiktok-API dazu führen, dass Anwendungen wie das Tiktok-Analysis-Tool teils nicht wie gewohnt funktionieren.

„Wenn ich 500 Tiktok-Posts gescrapt habe, weil sie alle den Hashtag #ukraine beinhalten, dann kann das Tool analysieren, was für Hashtags in den Posts noch vorkommen.”Johanna Wild, Journalistin bei der Investigativ­plattform Bellingcat

Journalist*innen, die manuell nach bestimmten Hashtags suchen, können dies direkt in der Suchfunktion der Tiktok-App oder der Desktop-Anwendung tun. Oder sie geben bei Suchmaschinen wie Google den Befehl site:tiktok.com gefolgt von dem gesuchten Namen, Usernamen oder einem Hashtag ein, was oft zu besseren Ergebnissen führt. Je mehr Aufnahmen aus einem bestimmten Spektrum Tiktok-Nutzer*innen sich anzeigen lassen, desto mehr ähnliche Inhalte spielen die Tiktok-Algorithmen aus – so landen auch Journalist*innen relativ schnell in kriminellen Unterwelten oder im Ukra­ine-Tunnel. Die Kunst besteht darin, informative, authentische Inhalte herauszufiltern, denn Anhänger*innen verschiedener Gruppierungen oder Unbeteiligte fluten die Plattform oft mit irrelevanten Beiträgen.

Dass Tiktok sich in einen Kriegsschauplatz verwandelt hat, bedeutet auch für Factchecking-Teams, dass sie sich stärker auf die Plattform fokussieren müssen. „Der Krieg in der Ukraine hat unsere Arbeit von einem auf den anderen Tag verändert und eine ganze Flut an ungefilterten Bildern und Aufnahmen ins Netz gespült”, sagt Sophie Timmermann, stellvertretende Leiterin von Correctiv.Faktencheck. „Nutzerinnen und Nutzer wurden auf einmal mit Bildern von Gewalt, Leichen und Blut konfrontiert.” Timmermanns Team hatte sich zwar zuvor schon mit Tiktok-Inhalten beschäftigt, doch seit Kriegsausbruch konzentrieren sich zwei der elf Faktenchecker*innen gezielt auf das Tiktok-Monitoring, sind täglich dort unterwegs, schauen sich unzählige Videos an. „Wir mussten uns strategischer aufstellen, um die Menge und das Material in den Griff zu bekommen”, sagt Timmermann.

Kriegsfluencer

Ukrainer*innen und ihre Unterstützer*innen teilen etwa Eindrücke von der Front, Nachrichten von Präsident Selenskyj, motivierende Propaganda. Auch die pro-russische Seite nutzt Tiktok zu Propagandazwecken: Neben Szenen von den Kriegsschauplätzen, die teils Leichen und Gewalt zeigen, stößt das Team auch auf subtilere Desinformation wie Videos von Personen, die den Krieg kommentieren. Diese Kriegsfluencer versuchen oft, bestimmte Narrative zu verbreiten – etwa, dass Russland die Ukraine „nur entnazifizieren” wolle oder Kriegsverbrechen wie das Massaker in Butscha übertrieben worden seien.

„Der Krieg in der Ukraine hat unsere Arbeit von einem auf den anderen Tag verändert und eine ganze Flut an ungefilterten Bildern und Aufnahmen ins Netz gespült. Nutzerinnen und Nutzer wurden auf einmal mit Bildern von Gewalt, Leichen und Blut konfrontiert.” Sophie Timmermann, stellvertretende Leiterin von Correctiv.Faktencheck

Im deutschsprachigen Bereich werden Timmermann zufolge oft Kriegsszenen geteilt, die in den falschen Kontext gesetzt werden, oder der Krieg wird als Aufhänger missbraucht, um etwa gegen Menschen zu hetzen, die aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet sind. Auch Gerüchte zu Korruption bei Hilfslieferungen werden gestreut, um der Ukraine Unterstützung zu entziehen, mit Verweis auf Quellen wie angebliche – nicht existierende – Stellungnahmen von EU und anderen Organisationen.

„Viele Tiktok-Videos wollen Emotion erzeugen, sie sind sehr kurz und persönlich, teils witzig. Aber oft steckt dahinter Kalkül bestimmter Personen, die gezielt Desinformation verbreiten wollen”, warnt Timmermann. „Und wenn du einmal in einem Desinformations-Feed gelandet bist und diese Infos als wahr einordnest, ist das sehr problematisch.” Tiktok ist das am schnellsten wachsende soziale Netzwerk und wird laut Digital News Report 2023 des Reuters Institute international von rund 20 Prozent der 18- bis 24-Jährigen für den Nachrichtenkonsum genutzt.

Wie also können Aufnahmen verifiziert werden? Mit umgekehrter Bildersuche (Reverse Image Search) lässt sich feststellen, ob Aufnahmen wirklich von einem Kriegsschauplatz stammen oder schon einmal in einem anderen Kontext aufgetaucht sind. „Die russische Suchmaschine Yandex ist immer sehr hilfreich gewesen. Über Tools wie Satellitenbilder können wir uns auch ansehen, wie die Region aussieht – wenn wir etwas einer Region zuordnen können, können wir das weiter lokalisieren”, sagt Timmermann. Zu den Tools kommt klassische Recherche hinzu: Personen oder Institutionen, die in Aufnahmen auftauchen oder genannt werden, werden nach Möglichkeit kontaktiert, zitierte Daten und Quellen werden geprüft.

Bei Bellingcat sichten und vergleichen die Researcher*innen täglich Aufnahmen aus der Ukraine und lokalisieren sie – unter anderem mit einem neuen Ortserkennungssystem, das sich noch in der Testphase befindet und auf OpenStreetMap basiert. Die Analyst*innen geben Foto und Region in das System ein und lassen das Tool Objekte analysieren, die auf einem Foto zu sehen sind. Darauf basierend sucht das Tool nach Orten, die passen könnten. Wie gut das klappt, ist aber abhängig davon, wie gut eine Region bereits visuell abgedeckt ist, wie viel Vergleichsmaterial existiert. Vor kurzem gelang es Bellingcat, anhand von Tiktok-Videos und Geolokalisierung nachzuweisen, dass Nepalesen in russischen Militärcamps ausgebildet werden.

Dem Militärexperten und Bundeswehr-Offizier Paul C. Strobel zufolge könnten mithilfe von Video- und Fotoaufnahmen Ort und Zeit von Truppenbewegungen und Kampfhandlungen identifiziert werden: „Öffentlich zugängliche Feuersatelliten zeigen durch Kampfhandlungen verursachte Brände und können Aufschluss über den Ort größerer Gefechte geben. Ebenfalls öffentlich zugängliche Radarsatelliten können die Abschussstellungen von Flugabwehrsystemen lokalisieren”, schreibt er auf der Website des Offiziersbunds Freundeskreis Heeresaufklärer. Letztlich entstehe so ein „erstaunlich präzises öffentliches Lagebild, das durch eifrige Social-Media-Nutzerinnen und -Nutzer laufend aktualisiert wird”, so Strobel. „Truppenbewegungen, Truppenteile und Vorgehen, gar Hinterhalte – kaum etwas lässt sich offenbar noch geheim halten.” Ganz so weit würde Johanna Wild von Bellingcat nicht gehen: „Im besten Fall gelingt es, Frontverläufe nachzuzeichnen, aber dafür braucht man ein großes Team.”

„Letztlich entsteht so ein erstaunlich präzises öffentliches Lagebild, das durch eifrige Social-Media-Nutzerinnen und -Nutzer laufend aktualisiert wird. Truppen­bewegungen, Truppenteile und Vorgehen, gar Hinterhalte – kaum etwas lässt sich offenbar noch geheim halten.“ Paul C. Strobel, Militärexperte und Bundeswehr-Offizier

Auch im kriminellen Bereich kann Tiktok Einblicke in Alltag, Lebensstil, Drogentrends sowie Allianzen zwischen verschiedenen Akteuren geben oder auf neue Akteure und deren Aufenthaltsorte aufmerksam machen – was wie im Fall der bolivianischen Tiktoker auch mit Festnahmen enden kann. Zu analysieren, wer wem folgt, sowie Kommentare unter Posts können dabei helfen, Personen kriminellen Gruppierungen zuzuordnen und die Verbindungen der Accounts untereinander nachzuvollziehen. Falls auf Booten oder Leichtflugzeugen, die in Lateinamerika für Drogentransporte eingesetzt werden, Kennzeichnungen zu erkennen sind, lohnt es sich manchmal, die Nummern auf Plattformen wie marinetraffic.com oder Flug-Trackern wie flightradar24.com einzugeben, um mehr über die Routen zu erfahren.

Doch Tiktok ist schnelllebig, teils sperrt die Plattform kriminalitäts- oder konfliktbezogene Hashtags oder Accounts. Das Unternehmen hat seine Filtermechanismen in den vergangenen Jahren gestärkt, um illegale Inhalte von der Plattform zu entfernen. „Wir gestatten keine Präsenz gewaltbereiter oder hasserfüllter Organisationen oder Individuen auf unserer Plattform”, heißt es in den Community-Richtlinien von März 2023.

Recherchen dokumentieren

Viele der Originalvideos, die unter Hashtags wie #cartel, #carteltiktok oder den Namen oder Abkürzungen mexikanischer Kartelle veröffentlicht wurden, sind inzwischen von der Plattform gelöscht worden. Allerdings experimentieren Akteure im Drogenkrieg ebenso wie im Krieg in der Ukraine immer wieder mit neuen Hashtags oder Variationen bekannter Hashtags, um Sperren zu umgehen – oder sie legen einfach neue Accounts an.

Journalist*innen sollten ihre Rechercheergebnisse immer sofort dokumentieren, Daten und Screenshots sichern, Videos downloaden. „Archivierung ist ein großes Problem, da die Aufnahmen vor allem im einem dynamischen Umfeld wie Konflikten schnell wieder offline sind”, warnt Johanna Wild von Bellingcat. Sie beobachtet häufig, dass Personen, die Videos hochgeladen haben, Aufnahmen selbst wieder löschen: „Leute haben aus ihrer Wohnung etwas Spannendes fotografiert oder gefilmt und realisieren erst später, dass das vielleicht nicht unproblematisch ist, wenn Journalist*innen herausfinden, von wo sie gefilmt haben – und bekommen Angst.” Bellingcat hat auch ein Archivierungstool entwickelt, das Content schnell archivieren kann. Die Analyst*innen können in dem System Links von Tiktok posten – das Material wird dann sofort im Hintergrund archiviert.

Die Journalistinnen Julia Jaroschewski und Sonja Peteranderl sind Gründerinnen des Thinktanks BuzzingCities Lab und berichten vor allem zu Organisierter Kriminalität, Gewalt und Technologie. Ihre Recherche Organisierte Kriminalität auf TikTok erscheint 2023 im Handbuch Cyberkriminologie (Springer).

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