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"Es wird erst dann interessant, wenn man Widersprüche akzeptiert"
Zwei Protagonist*innen im Gespräch, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Gas-Lobbyist Charlie Grüneberg (l.) und Klima-Journalistin Leonie Sontheimer. (Foto: Holger Talinski)
Die freie Journalistin und Umweltaktivistin Leonie Sontheimer und der Sprecher des Lobbyverbands der deutschen Gaswirtschaft, Charlie Grüneberg, diskutieren über das Selbstverständnis im deutschen Klimajournalismus. Über schwierige Wahrheiten, die nötige Distanz und die Herausforderungen der Wahlberichterstattung.
Interview: Thilo Komma-Pöllath
31.08.2021
Tiefe, dunkle Wolken über dem Berliner Regierungsviertel Anfang August, sieben Wochen vor der Bundestagswahl. Nicht irgendeine Bundestagswahl, sondern eine Richtungswahl in Sachen Klimapolitik. Von der „Klimawahl 2021“ ist die Rede. Auf den Stufen zu einem der Parlamentsgebäude des Deutschen Bundestags treffen sich auf journalist-Einladung eine klimabewegte Journalistin und ein journalistisch ausgebildeter Lobbyist zum Grundsatzdiskurs: die freie Journalistin Leonie Sontheimer, 29, die gerade das Netzwerk Klimajournalismus Deutschland mitgegründet hat und selbst auch Umweltaktivistin ist, und der langjährige ARD-Journalist Charlie Grüneberg, 47, heute Sprecher des Lobbyverbands der deutschen Gaswirtschaft, Zukunft Gas.
journalist: Herr Grüneberg, genau wie Frau Sontheimer sind Sie an der Deutschen Journalistenschule zu einem kritischen Kopf und erfolgreichen Journalisten ausgebildet worden. 17 Jahre waren Sie, auch in leitender Funktion, beim Bayerischen Rundfunk. Im Herbst 2020, mitten in der Pandemie und inmitten einer heiß diskutierten Klimawende wechseln Sie auf die „dunkle Seite“ der Kommunikation und werden Lobbyist. Was ist schiefgelaufen?
Charlie Grüneberg: Ich weiß nicht, ob da was schiefgelaufen ist. Das waren sehr spannende Jahre beim BR, irgendwann haben das Haus und ich uns auseinanderentwickelt. Aber weil ich eben so lange als Journalist gearbeitet habe, kann ich mich gut reinfühlen. Ich versuche auch in meiner jetzigen Arbeit, journalistisch zu denken.
Leonie Sontheimer: Wenn ich da mal reingrätschen darf, ich vermute, es gab auch handfeste finanzielle Gründe?
Grüneberg: Ich habe beim BR ähnlich verdient, es ging nicht um Geld. Ich habe bei meinem alten Arbeitgeber die Perspektiven nicht mehr gesehen. Ich bin zu einem Verband gewechselt, der sich selbst in einer sehr wichtigen Transformation befindet von einem rein fossilen hin zu einem dekarbonisierten Geschäftsmodell. Es ist eben nicht so, dass die Gaswirtschaft blockieren will. Im Gegenteil: Hier wird ernsthaft versucht, Industrie umzustellen. Das ist eine spannende Aufgabe.
Sontheimer: Das klingt jetzt fast so, als wären Sie zu Zukunft Gas gewechselt, um für den Klimaschutz zu streiten. Glauben Sie wirklich, dass bei den Lobbyverbänden der stärkste Hebel liegt, um gesellschaftlich etwas für den Klimaschutz zu tun?
Grüneberg: Es ist zumindest ein starker Hebel. Wir sind ein Industrieland, weshalb ich tatsächlich glaube, dass hier Potenziale und Lösungen schlummern, die wir wecken können. Ich habe kein Problem mit dem Begriff Lobby. Ich stehe dazu: Ich bin Lobbyist! Ich habe ein Problem damit, dass man Lobby sofort negativ abstempelt. So wie unsere Demokratie organisiert ist, braucht es Lobbyverbände, die für ihre Interessen eintreten, Abgeordnete informieren, mit Wissen helfen. Da denke ich ganz journalistisch: Sagen, was ist. Wichtig ist mir, dass wir bei der Wahrheit bleiben, keine Lügen erzählen und dass die Sache transparent ist. Ich bin von der Gas- und nicht von der Windkraft- oder Solarlobby.
Sontheimer: „Keine Partei hat in ihrem Wahlprogramm ausreichend Maßnahmen stehen, um die Klimaziele erreichen zu können.“
Grüneberg: „Uns sind die Programme von Union und FDP näher. Aber wir haben auch keine Angst vor einer grünen Bundeskanzlerin.“
Sontheimer: Das ist jetzt noch kein krasser journalistischer Skill, dass ich die Wahrheit sage. Das scheint mir viel mehr moralisch geboten ...
Grüneberg: … aber das wird Lobbyisten ja gerne unterstellt, dass sie das nicht tun.
Ihr Verband hat sich dieses Jahr von „Zukunft Erdgas“ in „Zukunft Gas“ umbenannt. Das ändert nichts am Geschäftsmodell, klingt nur weniger fossil.
Grüneberg: Das macht vor allem deutlich, dass wir als Branche den Klimawandel nicht infrage stellen, sondern dass wir die Klimaziele der Bundesregierung anerkennen und dass wir für die Zukunft ein dekarbonisiertes Produkt brauchen.
Sontheimer: Das könnten Sie alles auch mit dem Namen Zukunft Erdgas, das wäre sogar glaubwürdiger. So hat man den Verdacht, dass Sie darüber hinwegtäuschen wollen, womit die Unternehmen, die sich unter ihrem Dach vereint haben, einen Großteil ihres Profits machen: mit fossiler Energie.
Grüneberg: Das ist richtig, was das aktuelle Geschäftsmodell angeht. Aber wir heißen ja Zukunft Gas, und es soll uns auch nach der Transformation, in einer klimaneutralen Zukunft noch geben. Es geht um Lösungen, denn wir werden auch in Zukunft schnelle, flexible gasförmige Energieträger brauchen, beispielsweise Biogas oder Wasserstoff. Wir wissen, es wird 2035, 2040 wahrscheinlich kein Erdgas mehr sein, aber ganz ohne gasförmige Energieträger wird es, unserer Meinung nach, nicht gehen. Anders werden wir die Schwankungen der Erneuerbaren, Stichwort Dunkelflaute, nicht in den Griff bekommen.
In der aktuellen Kampagne von Zukunft Gas heißt es: „Die Gasbranche bietet innovative Lösungen für Dekarbonisierung.“ Das müssen Sie mir jetzt mal erklären: Wie dekarbonisiert man mit einem fossilen Brennstoff wie Erdgas?
Grüneberg: Das Problem an Erdgas ist das Kohlenstoff-Atom. Erdgas besteht hauptsächlich aus Methan, CH4. Was aber mache ich mit dem C? Beim sogenannten blauen Wasserstoff kann ich das beim Abspalten entstehende CO2 auffangen und unterirdisch in Lagerstätten speichern. Es gibt aber auch ganz neue Verfahren, wo ich CO2 nicht als Gas sondern als elementaren Kohlenstoff rausbekomme, Rußpulver, den ich für industrielle Zwecke verwenden kann oder den ich, im schlimmsten Fall, in Säcke abfüllen und in ein altes Kohlebergwerk schieben kann, bis mir irgendwann eine Verwendung dafür einfällt.
Für beide Verfahren fehlt die Marktreife, um die Energiewende jetzt damit zu gestalten.
Grüneberg: Nein, beim blauen Wasserstoff machen die Norweger mit unterirdischer Lagerung schon viel, die haben mehreren Industrieunternehmen in der EU bereits angeboten, deren CO2-Emissionen ab sofort unterirdisch zu speichern. Aber es stimmt, bei der Pyrolyse, dem sogenannten türkisen Wasserstoff, bei dem der Kohlenstoff als festes Pulver ausfällt, sind die Verfahren noch nicht so marktreif, wie wir das gerne hätten. Nur: Wären wir mit dem gleichen Argument an die Windkraft- oder Solarbranche herangegangen, gäbe es sie heute nicht. Wenn wir als Gesellschaft sagen, das ist eine Technik, die bringt uns Lösungen, dann müssen wir da auch eine Power reinstecken. Es gibt sehr spannende Pyrolyse-Forschungsprojekte, die gerne den nächsten Schritt gehen würden. Aber sie bekommen derzeit von der Bundesregierung keine Forschungsgelder, weil es dort heißt: Wir fördern nur grünen Wasserstoff!
Grüneberg: „Ich finde es befremdlich, wenn in einem Artikel ein Thema nur von einer Seite beleuchtet wird, und ich stelle dann bei der Lektüre fest, die haben die andere Seite gar nicht gefragt.“
Sontheimer: Und welche Lebensräume werden bei der Methangewinnung zerstört? Was ist mit den Menschen, die über den CO2-Lagerstätten leben? Wenn es da keine Probleme gäbe, könnte man ja sagen, super, wunderbar. Ist aber halt nicht so. In Ihrer Branche unterschlägt man gerne wichtige Informationen. In Ihrem Verband sind Unternehmen organisiert, die die größten Treibhausgas-Emittenten überhaupt sind. Shell zum Beispiel liegt im Club der weltweit 100 größten Emittenten auf Platz 9. Wie fühlt sich das denn an, wenn Sie die ganze Zeit über Klima sprechen und gleichzeitig ist so jemand Teil Ihres Vereins?
Grüneberg: Weil auch Shell sich auf die Fahnen geschrieben hat, sein Geschäftsmodell zu dekarbonisieren.
Sontheimer: Und das glauben Sie?
Grüneberg: Ich weiß nicht, ob es funktioniert. Aber Shell sagt nicht, es hat keinen Bock auf Klimawandel und will sich die nächsten zehn, zwanzig Jahren noch die Taschen voll machen, und dann war es das, sondern Shell sagt: Wir wollen auch in zwanzig Jahren noch ein Geschäftsmodell haben.
Sontheimer: In der Pressemitteilung von Zukunft Gas würde bestimmt nicht stehen, dass Shell den Hauptteil seiner Profite fossilen Energieträgern verdankt, weil es nicht das ist, was man vermitteln will. Es wird erst dann interessant, wenn man auch im Lobbyismus Widersprüche akzeptiert und nicht versucht, sie zu kaschieren. Für einen Journalisten ist es essenziell, diese Widersprüche zu benennen.
Grüneberg: Wir sagen offen, womit unsere Mitglieder ihr Geschäft machen. Erdgas hatte im ersten Halbjahr 2021 mit 31 Prozent zum ersten Mal den größten Anteil am Primärenergieverbrauch, gleichzeitig sind die Erneuerbaren zurückgegangen. Wir sagen das ganz ohne Häme, aber sehr offen. Viel bedenklicher finden wir, wie die Kohle im ersten Halbjahr zugelegt hat. Jedes vierte Haus in Deutschland hat noch eine Ölheizung. Das ist einer unserer Hauptargumentationspfade: Wenn wir schneller von Öl und Kohle auf Gas umsteigen, haben wir immer noch fossilen Brennstoff, der aber 65 Prozent weniger CO2 ausstößt als Kohle. Wir reden viel über 2045, aber wir reden nicht darüber, was wir sofort umsetzen können.
Frau Sontheimer ist im Wendland mit den Castor-Transporten groß geworden. Glauben Sie ernsthaft, dass Sie Menschen von einem unterirdischen CO2-Zwischenlager überzeugen können, wo es heute immer noch kein atomares Endlager gibt? Echte Energiewende kann doch nur heißen: Toxischer Müll entsteht gar nicht erst.
Grüneberg: Das Thema unterirdisches Speichern von CO2 ist in Deutschland vergiftet, da geht es schnell um Fracking, da wird zu viel zusammengeworfen. Wie sicher ist das? In unseren Augen sehr sicher: Man leitet das CO2 in vorher ausgeförderte Erdgaslagerstätten ein. Man weiß, wo fangen die an, wo hören die auf.
Sontheimer: Atommüll oder CO2, beides sind gefährliche Endprodukte, für die wir Lagerstätten finden müssen. Es wäre klug, jetzt zu schauen, wie wir sie so weit wie möglich reduzieren oder ganz vermeiden können.
Grüneberg: Beim blauen Wasserstoff kann ich den Einwand verstehen, denn die Lagerstätten für CO2 sind endlich. Sicher ist es in jedem Fall. Nach etwa 100 Jahren wird CO2 vom umgebenden Stein aufgenommen. Beim türkisen Wasserstoff, wo der Kohlenstoff als Pulver ausfällt, habe ich einen Stoff, den ich wieder verwenden kann. Für die Produktion von Farbe, Reifen, Asphalt. Das Gegenargument ist: Wenn wir das im großen Stil tun, dann haben wir viel zu viel Kohlenstoff. Es wäre aber nicht das erste Mal, dass der Industrie angesichts eines billigen Rohstoffs im Übermaß nicht einfiele, was man damit tun kann. Und: Kohlenstoff ist ungiftig und strahlt nicht.
Herr Grüneberg, in meinem Kopf gibt es das Lobbyisten-Bild von mächtigen, bösartigen Strippenziehern im Hintergrund, die die Politik am Gängelband führen und echten Wandel verwässern, verhindern, unmöglich machen. Das ist also alles Quatsch?
Grüneberg: Es gibt im Bereich Lobbyismus das, was Lobbycontrol einen Klüngel nennen würde. Mit denen hatte ich vor kurzem auch ein längeres Gespräch, weil sie uns vorwerfen, die Klimapolitik zu verwässern. Diesen Vorwurf weise ich zurück. Natürlich gibt es Hintergrundrunden. Aber dort sitzen ja alle Beteiligten am Tisch, natürlich in unterschiedlichen Besetzungen. Als es um den Kohleausstieg ging, da gab es erst mal eine Runde zwischen Politik und Kohleindustrie, danach gab es eine Runde zwischen Politik und Klimaseite. Die Politik muss ja erst mal wissen, was sind die Argumente auf beiden Seiten, um dann eine Lösung zu finden, die auch gesamtgesellschaftlich getragen wird. Wo alle sagen, okay, wir haben unsere Punkte nicht zu einhundert Prozent durchgebracht, aber wir haben eine tragfähige Lösung, mit der wir besser dastehen als vorher.
Sontheimer: „Es wird erst dann interessant, wenn man auch im Lobbyismus Widersprüche akzeptiert und nicht versucht, sie zu kaschieren. Für einen Journalisten ist es essenziell, diese Widersprüche zu benennen.“
Sontheimer: Da möchte ich doch deutlich widersprechen, dass alle gleichermaßen mit der Politik ins Gespräch kommen und gehört werden. Es gibt regelmäßig Untersuchungen, die belegen, dass sich bestimmte Branchen viel häufiger mit „der“ Politik treffen. Es gibt Lobbyisten, die haben einen Hausausweis für den Deutschen Bundestag, andere nicht. Diese Lobby hat natürlich mehr Macht im Sinne von Geld, Einfluss, Ressourcen, etwa Studien in Auftrag zu geben. Sie sagen, für unsere Demokratie brauchen wir Lobby. Ich weiß gar nicht, ob ich da mitgehen würde. Warum denn?
Grüneberg: Weil wir als Interessenverband einer Branche viel tiefer im Stoff sind als gewählte Abgeordnete, die sich mit vielen Themen befassen müssen. Unser Angebot ist, dass wir eine sehr spezielle Brancheninformation aufbereiten und zur Verfügung stellen. Natürlich muss immer klar sein: Wir haben ein eigenes Interesse als Gasverband. Wir haben ein Interesse daran, dass auch in Zukunft gasförmige Energieträger in diesem Land eingesetzt werden. Aber nicht nur, weil wir das verkaufen, sondern auch, weil wir überzeugt sind, dass es richtig ist.
Frau Sontheimer, Sie bezeichnen sich selbst als „Journalistin und Aktivistin“. Was ist mit Ihrer Unabhängigkeit? Ist Aktivismus nicht auch eine Form von Lobbyismus?
Sontheimer: Herr Grüneberg gibt dieses Interview in seiner Arbeitszeit, ich werde gerade nicht bezahlt. Der Unterschied ist sicher, dass man Aktivismus eher aus Überzeugung macht. Kann ich trotzdem professionell journalistisch arbeiten? Ja, klar kann ich das, weil ich es gelernt habe. Es ist mein ureigenes Interesse, professionelle Distanz zu wahren. Ich kopiere keine Flyertexte in meine Artikel, ich vermische die Dinge nicht.
Es gibt nicht wenige, die im Aktivismus das Ende des kritischen Journalismus sehen.
Sontheimer: Es ist nun mal meine Geschichte. Ich habe im Wendland früh gelernt, dass das Atommüllproblem ungelöst ist, mit 12 Jahren bin ich zu Greenpeace. Erst danach habe ich meine journalistische Ausbildung angefangen. Wenn ich jetzt aufhören würde, aktivistisch tätig zu sein, würde ich meine Glaubwürdigkeit vor mir selbst verlieren. Ich bin in einem journalistischen Kollektiv, und wir haben uns simple Regeln gegeben: Wir schreiben nicht über Aktionen oder Organisationen, in denen wir selbst organisiert sind, ich schreibe also keine Texte über Greenpeace. Das Allerwichtigste ist die Transparenz. Ich kann nicht ändern, dass ich diese Doppelrolle habe, aber ich kann immer wieder darauf hinweisen. Am liebsten wäre mir, wenn am Ende eines jeden Textes diese Doppelrolle benannt ist.
Das Hanns-Joachim-Friedrichs-Mantra „Mache dich nie mit einer Sache gemein, auch nicht mit einer Guten“ gilt also nicht mehr?
Sontheimer: Dieser Satz ist ein echtes Phänomen. Er ist in einem anderen Kontext gefallen, und trotzdem wird er in der Aktivismus-Journalismus-Debatte immer wieder hervorgekramt. Man kann es sich damit sehr leicht machen. Was ist denn, wenn ich mir als Mutter Gedanken zur Reform des Mutterschaftsgelds mache? Der Anspruch, sich zu allen Themen komplett objektiv zu verhalten, ist absurd. Ich weiß auch gar nicht, wo dieser Anspruch herkommt.
Grüneberg: Klar ist: Als Aktivistin habe ich keine Distanz zum Thema, da bin ich emotional, da habe ich eine Überzeugung. Vereinfacht gesagt: Ich kenne die Wahrheit schon, ich muss sie mir nicht mehr suchen. Als Journalist dagegen sollte ich Distanz haben, ich lasse mich nicht von Überzeugungen, sondern von Argumenten leiten, ich suche die Wahrheit, ich kenne sie noch nicht. Ich halte es für schwierig, diese beiden Rollen zu trennen.
Sontheimer: Es gibt aber doch Wahrheiten, die wir nicht mehr suchen müssen. Der Klimawandel ist menschengemacht, und wir befinden uns mittendrin, ist so eine Wahrheit. Auch als Aktivistin habe ich mir die Welt rational angeschaut und mir überlegt, wie ich mich verhalten muss, und habe dann danach gehandelt. Zu oft wird mir Aktivismus mit Dogmatismus gleichgesetzt.
Grüneberg: Der Klimawandel ist eine Wahrheit, aber wie kann ich mich diesem Problem stellen, was gibt es für Lösungen, da gibt es noch nicht „die“ Wahrheit. Da treffe ich in meiner jetzigen Arbeit, und das war einer der größten Lernprozesse, auf Journalisten, deren erstes Interesse nicht mehr zu sein scheint, Informationen zu vermitteln, sondern zu missionieren. Nur als Beispiel: Für viele steht die Wahrheit fest, nur grüner Wasserstoff aus erneuerbaren Energien ist gut – und da sage ich, das ist zu einfach, da möchte ich gerne noch mal diskutieren.
Herr Grüneberg, Sie haben mir im Vorfeld Artikel von Zeit, Correctiv, Tagesspiegel und dpa geschickt, die Ihnen missfallen. Sie beklagen, KlimajournalistInnen rufen nicht mehr an, fragen nicht mehr nach, es werden nicht mehr alle Seiten zu einem Thema gehört.
Grüneberg: Ich finde es befremdlich, wenn ein Thema nur von einer Seite beleuchtet wird, und ich stelle dann bei der Lektüre fest, die haben die andere Seite gar nicht gefragt. Ich habe die Vermutung, dass manche KollegInnen mit einem missionarischen Eifer unterwegs sind. Die sagen sich, ich habe schon meine Geschichte, ich brauche nicht noch das andere Argument, das ist eh Lobby ...
Sontheimer: Bei „missionarisch“ gehe ich nicht mit. Mir stellt sich die Frage, wie sind die KollegInnen zu dem Punkt gekommen, dass sie mit der Gaslobby nicht mehr sprechen wollen? Die werden es vorher mit Sicherheit versucht haben, offenbar mit schlechten Erfahrungen.
Grüneberg: In dem knappen Jahr, in dem ich auf der anderen Seite stehe, habe ich mehrmals KollegInnen nach ihren Beiträgen angeschrieben und ein Gespräch angeboten. Ich drohe nicht mit Gegendarstellungen, weise aber darauf hin, dass dieses oder jenes fachlich nicht richtig ist. Und da kam bis jetzt kein einziges Mal eine Resonanz. Doch, einmal, von Lobbycontrol. Die Kollegin hat sich für meine Korrekturen bedankt und sie übernommen.
Ich habe eine der Co-Autorinnen der Zeit-Recherche zu gefährlichen Methan-Lecks in Deutschland und der Correctiv-Story zur Macht der Wasserstofflobby um eine Stellungnahme angefragt. Ihre Antwort war: „Mit einem Lobbyisten diskutiere ich nicht über Journalismus.“ Und: „Ich diskutiere auch nicht mit Klimaleugnern über Journalismus.“ Herr Grüneberg, sind Sie ein Klimaleugner?
Grüneberg: Ich bin kein Klimaleugner. Ich habe lange als Journalist gearbeitet, und mir ist wichtig, dass ich mein bisheriges berufliches Leben nicht an der Bürotür eines Lobbyverbands abgebe. Die Methan-Geschichte in der Zeit wurde von zwei Kolleginnen geschrieben, die ich eher der grünen Klimabewegungsseite zuordnen würde. Dann kommt noch Constantin Zerger von der Deutschen Umwelthilfe vor, und als die Wissenschaft wird Claudia Kemfert vom Institut für Wirtschaftsforschung zitiert, beide haben dieselbe Position. Mir hätte man früher so einen Text um die Ohren gehauen. A: langweilig, die reden ja alle das gleiche, und b: wo ist denn mal eine Gegenstimme? Ich war in dem Fall froh, dass sie mich nicht angerufen haben, wir wären zu dem Zeitpunkt gar nicht sprechfähig gewesen. Eine wirklich gute Geschichte, die uns voll auf dem falschen Fuß erwischt hätte, und wir kamen gar nicht erst in die Verlegenheit, zugeben zu müssen, dass wir keine Antwort gehabt hätten. Heute haben wir eine, und es ist alles nicht so dramatisch wie geschrieben.
Sontheimer: Wenn die Gaslobby in einzelnen Texten nicht zu Wort kommt, finde ich das nicht so schlimm, aber Sie scheinen den Eindruck zu haben, dass das andauernd vorkommt.
Sie glauben, es hat System?
Grüneberg: Es sind sich häufende Einzelfälle. Ich habe den Eindruck, dass wir mit vielen nicht mehr ins Gespräch kommen. Und es geht um handwerkliche Fehler, die sich häufen. Ein Beispiel vom Juli 2021: Protest von Umweltaktivisten vor einem Vattenfall-Kraftwerk in Berlin, das von Kohle auf Erdgas umsteigt. Was wir natürlich super finden. Robin Wood hat eine Presseerklärung geschrieben, und ich hatte den Eindruck, der dpa-Kollege war gar nicht vor Ort, er hat nur die PM von Robin Wood abgeschrieben. Die Kollegen von RBB und Tagesspiegel waren vor Ort, aber es fehlte mir bei allen dreien der Satz, was sagt denn eigentlich Vattenfall dazu?
Sontheimer: Vermutlich wollte Vattenfall nichts dazu sagen?
Grüneberg: Zumindest in der Agenturmeldung hätte ich den Platz gehabt zu sagen, Vattenfall will keine Stellung abgeben. Mein Verdacht: Die wurden gar nicht erst gefragt.
Offenbar ein journalistisches Zeitgeistphänomen: Der seriöse Politjournalist redet nicht mit den Rechten von der AfD, Carolin Emcke nicht mit Ulf Poschardt, die Klimajournalistin nicht mit Charlie Grüneberg. Wovor haben wir so große Angst?
Sontheimer: Vor Widersprüchen. Da müssen wir auf jeden Fall ran, das geht natürlich nicht!
Grüneberg: Wenn wir den Klimawandel wirklich stoppen wollen, dann heißt das für jeden einzelnen von uns Einschränkungen. Wir werden irgendwann an den Punkt kommen, wo wir Inlands- oder Mallorcaflüge verbieten, weil wir sagen: Das können wir dem Klima nicht mehr zumuten. Diese Einschränkungen werden wir nur hinkriegen, wenn alle in der Gesellschaft mitziehen. Und dafür brauchen wir den Diskurs. Natürlich sind die Unternehmen, die bei uns im Verein organisiert sind, Teil eines kapitalistischen Systems. Natürlich kann man diskutieren: Ist das noch zeitgemäß, brauchen wir ein anderes Wirtschaftssystem? Noch aber gibt es sehr viele Menschen, die sagen: Ich finde das System gut, so wie es ist. Ich will nach Mallorca, ich will nicht mehr für mein Fleisch bezahlen, Klimawandel finde ich schlimm, aber deshalb will ich mich nicht einschränken.
Sontheimer: Als Journalistin sehe ich meine Aufgabe darin, genau diese Frage zu stellen, ob wir nicht ein anderes System brauchen. Ihre Aufgabe ist das sicher nicht! Derzeit überlasten wir den Planeten mit unserer Wirtschaftsweise. Meine Intuition sagt mir, dass es nicht ausreichen wird, nur den Rohstoff in den Pipelines zu ändern.
Frau Sontheimer, Sie haben diesen Sommer das Netzwerk Klimajournalismus Deutschland mitgegründet. Warum?
Sontheimer: Wir haben uns in letzter Zeit vermehrt mit KlimajournalistInnen ausgetauscht und gemerkt, es braucht eine formellere Vernetzung. Einzelne RedakteurInnen, die sich mit der Klimakrise beschäftigen, haben den Eindruck, dass sie als Aktivistinnen abgestempelt werden. Dabei drängen sie auf die Themen, weil sie einen Wissensstand haben, den andere in der Redaktion nicht haben.
Grüneberg: Das ist noch kein Aktivismus, vielleicht ein Stück weit Haltung. Es gibt ja immer noch das Korrektiv der Redaktionskonferenz.
Sontheimer: Es ist absurd, dass ausgerechnet wir uns rechtfertigen müssen und nicht die, die sagen, Klima ist nicht so wichtig, das hatten wir letzte Woche schon mal. Ich hoffe sehr, dass sich das in fünf Jahren komplett umgedreht hat.
Wie ist es um das Know-how im deutschen Klimajournalismus bestellt?
Sontheimer: Ich bleibe mal bei mir, ich würde sagen, es ist nicht ausreichend. Ich will mich noch viel mehr weiterbilden. Es ist ein irrsinnig komplexes Thema, man kann nie alles gelesen haben. Aber ich habe den Anspruch, immer noch mehr zu wissen. Es wäre in jedem Fall sinnvoll, Studiengänge zu Klimajournalismus ins Leben zu rufen oder Workshops in den Medienhäusern zu geben, um Basiswissen zu vermitteln.
Grüneberg: Apropos Know-how, ich habe noch ein Beispiel für schwierigen Klimajournalismus. Im Spiegel gab es im Februar eine Geschichte über Windkraftblockierer, darüber, wie finstere Lobbyverbände dafür sorgen, dass der Windkraftausbau in Deutschland stockt. Das ganze beruhte zu einhundert Prozent auf einer Greenpeace-Recherche und gipfelte darin, dass im letzten Absatz ein Zahlungsfluss nicht genau nachgewiesen werden konnte. Auf diese Frage könne auch die Greenpeace-Recherche keine Antwort geben, hieß es dann im Text. Der Spiegel, das Geschütz für Recherchejournalismus, sourct seine Recherchekapazitäten komplett an Greenpeace aus und ist sich nicht zu schade, das auch zu schreiben. Nicht wir können diese Frage nicht beantworten, sondern unser outgesourcter Dienstleister Greenpeace. Wie absurd ist das denn?
Es ist kein Zufall, dass wir ausgerechnet jetzt, so kurz vor der ersten „Klimawahl“, über die Art der Einflussnahme auf politische Entscheidungen reden. Herr Grüneberg, an welchem Wahlprogramm hat die Gaslobby mitgeschrieben?
Grüneberg: Wir haben an keinem Wahlprogramm mitgeschrieben, so mächtig ist die Gaslobby nicht. Aber natürlich versuchen wir, Einfluss zu nehmen. Wir werden alles tun, um zu verhindern, dass im Koalitionsvertrag ein Gasheizungsverbot steht, weil wir sagen, das ist der falsche Weg. Was uns angeht, sind uns die Wahlprogramme von Union und FDP näher als das der Grünen. Aber wir haben auch keine Angst vor einer grünen Bundeskanzlerin.
Sontheimer: Für KlimajournalistInnen ist die Wahlberichterstattung eine ziemliche Herausforderung. Keine der Parteien hat in ihrem Wahlprogramm ausreichend Maßnahmen stehen, um mit den ausgerufenen Klimazielen konform zu gehen. Ich bin gerade Mutter geworden, und ich weiß jetzt schon: Kein Wahlergebnis wird reichen, um mir die Angst vor der Zukunft zu nehmen. Das klingt so platt, aber für mich ist es absurd, dass die Frage „Wie gehen wir damit um, dass wir mitten in der Klimakrise stecken“ immer noch nicht die wichtigste politische Frage in unserem Land ist.
Frau Sontheimer, Herr Grüneberg, vielen Dank für das Gespräch.
Thilo Komma-Pöllath, freier Journalist und Buchautor (Die notwendige Revolution), betreibt in München ein Redaktionsbüro. Er schreibt unter anderem für das SZ-Magazin und die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung.
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