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"Du darfst nicht lügen"

Steffen Hebestreit, neuer Regierungssprecher. (Foto: Marzena Skubatz)

Die neue Bundesregierung kam ins Amt – und direkt in die Krise. Die muss Regierungssprecher Steffen Hebestreit (49) erklären, selbst ehemaliger Journalist. Jetzt steht er als Chef des Bundespresseamts vor der Frage: Wie kann man in Kriegszeiten transparent und glaubwürdig kommunizieren? Interview von Jan Freitag.

02.05.2022

Er ist der Zugang für Journalist*innen, wenn es um Olaf Scholz und die Politik der Bundesregierung geht: Steffen Hebestreit, einst selbst Hauptstadtjournalist (Frankfurter Rundschau, DuMont-Redaktionsgemeinschaft) und Mitglied im Vorstand der Bundespressekonferenz, leitet jetzt das 500 Personen starke Bundespresseamt. Über seinen Chef sagt er: "Der Bundeskanzler ist ein sehr erfahrener Politiker, der öffentlichen Druck gewohnt ist und sich nicht kirre machen lässt."

journalist: Herr Hebestreit, normalerweise wird neuen Regierungen und damit auch ihren Kommunikationsabteilungen eine Schonfrist von 100 Tagen eingeräumt, in denen beide ein wenig unter Welpenschutz stehen. Wie lang war Ihre Schonfrist – 100 Minuten?

Steffen Hebestreit: Wenn überhaupt. Aber diese 100 Tage sind schon immer mehr ein hehrer Wunsch gewesen als die Wirklichkeit, seit Franklin D. Roosevelt bei seinem Amtsantritt gesagt hatte: Give me a hundred days. Ich habe jedenfalls nach 28 Tagen den ersten Leitartikel gelesen, der sagte, eigentlich habe eine Regierung ja 100 Tage Schonzeit, aber schon jetzt müsse man sagen: alles Mist.

Also 27 Tage Schonfrist?

Wieso sollte es überhaupt eine Schonzeit geben, das habe ich nie verstanden. Eine neue Regierung, ein neuer Kanzler, neue Politik, das ist doch wahnsinnig spannend. Ich kann schon verstehen, dass Journalisten und Opposition das vom ersten Tag an kritisch begleiten wollen.

Zumal in einer hochtourigen Zeit, in der sich Menschheitskrisen nicht bloß abwechseln, sondern überlappen.

Mir hat gut gefallen, dass es zwischen alter und neuer Regierung einen so reibungslosen und vertrauensvollen Übergang gegeben hat. Hier an dem Tisch, an dem wir gerade sitzen, saß ich seinerzeit mit Steffen Seibert, und wir haben uns ausgiebig darüber ausgetauscht, was auf mich als Regierungssprecher zukommen wird. Das war bei früheren Regierungswechseln nicht üblich. Da Olaf Scholz als Vizekanzler der scheidenden Regierung schon angehörte, mag es leichter gewesen sein, uns frühzeitig einzubinden. Bei den Bund-Länder-Runden zur Pandemie waren wir ohnehin immer zugeschaltet. Ab Mitte November saßen Scholz und ich dann im Kanzleramt mit in diesen Runden. Die neue Bundesregierung wurde am 8. Dezember vereidigt, einen Tag später leitete der neue Kanzler erstmals diese Runde.  

Ansonsten werden Regierungssprecher – das -innen kann man sich mangels Frauen seit 1949 leicht sparen – hier im Bundespresseamt also nicht förmlich eingearbeitet?

Nein, das ist eigentlich nirgends üblich. Normalerweise gibt es eine kurze Tasse Kaffee, ein paar freundliche Worte und Hinweise, hier wäre dann die Toilette, dort das Vorzimmer. Fertig. Ich habe mich sehr gefreut, dass mein Vorgänger sich da mehr Zeit genommen hat. Dadurch, dass wir uns schon gut kannten seit meiner Zeit als Korrespondent und wir in der letzten Regierung ja auch einiges miteinander zu tun hatten, war das sehr kollegial, offen und vertrauensvoll.

Was war denn üblich?

Nun, als ich seinerzeit am allerersten Tag mit dem frisch vereidigten Bundesminister der Finanzen ins Ministerium kam, wurde mir ein freies Zimmer zugeteilt. Jemand, den ich nicht kannte, legte mir kurze Zeit später einen Stapel Akten auf den Tisch. Ich fragte: "Was mache ich damit?" Er: "Verfügen!" Ich: "An wen?" Er: "Ans Haus". Das war’s.

Immerhin wussten Sie, was "verfügen" heißt.

Immerhin. Beim Wechsel ins Bundespresseamt war das einfacher, weil ich wusste, was auf mich zukommt. Als früherer Korrespondent, Ex-Vorstand der Bundespressekonferenz, Leiter der Hamburger Landesvertretung und zuletzt als Sprecher des Finanzministeriums hatte ich auch immer wieder mit dem Bundespresseamt zu tun.

"Wer im Krieg einfache Lösungen verspricht, wird seiner Verantwortung nicht gerecht."

Wenn Sie Ihren Start als Hauptstadtjournalist mit dem jetzigen als deren Informationsversorger vergleichen – wären Sie lieber damals, als Regierungen noch Krisen bewältigt haben, Sprecher geworden, oder ist es heute, wo Krisen Regierungen überwältigen, besser?

Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Natürlich ist die gegenwärtige Situation mit dem schrecklichen Krieg in der Ukraine eine außergewöhnliche Herausforderung, die uns alle sehr besorgt. Aber auch früher mangelte es nicht an Megathemen: 2008 die Finanzkrise, 2011 Fukushima, 2015 Flüchtlingssituation, seit 2020 die Pandemie.

Zwischendurch Klimawandel in beschleunigter Dauerschleife.

Wie gesagt, jede Regierung hat ihre Herausforderungen.

Das Besondere an den genannten Megathemen ist allerdings, dass sie sich einst nacheinander ereignet haben, während sie sich heute parallel auftürmen und nicht mehr den Eindruck erwecken, noch beherrschbar zu sein. Drohen Regierungssprecher da bei aller Spannung nicht eher an Krisen zu scheitern, deren Lösbarkeit sie eigentlich vermitteln sollen?

Ich bin nicht sicher, ob die damals Beteiligten das Gefühl hatten, alles ginge schön geordnet nacheinander vonstatten. Die Aufgabe des Regierungssprechers ist es, das Handeln der Regierung zu erklären und zu vermitteln, was sie tut. Natürlich stellt der erste Angriffskrieg in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs eine Zäsur da. Ich bin aber überzeugt, dass die Bundesregierung in dieser schweren Krise das Richtige tut und richtig handelt.

Das sollten Sie auch, als deren Sprecher.

Unsere Aufgabe ist es zu erklären, wie die Regierung handelt und welche Politik sie verfolgt.

Gabe es in den vier Monaten Momente, wo das aus Ihrer Sicht mal geklappt hat?

Natürlich, immer wieder. In der Corona-Pandemie waren wir vor Weihnachten in einer sehr heiklen Phase, die Delta-Welle war noch nicht abgeebbt und Omikron tauchte auf. Es gab Rufe nach einem abermaligen Lockdown, die Sorge davor, dass unser Gesundheitssystem zusammenbrechen könnte und die kritische Infrastruktur. Die neue Bundesregierung hat daraufhin strikte Maßnahmen erlassen wie Maskenpflicht, 3G, 2G, aber keinen Lockdown verfügt – und gleichzeitig eine Impfkampagne aufgesetzt. Innerhalb von sechs Wochen haben sich 30 Millionen Bürgerinnen und Bürger ein drittes Mal impfen lassen, das hatte uns vorher niemand zugetraut. Das war ein wichtiger Schritt, damit wir einigermaßen durch diesen Winter gekommen sind. Aber: There’s no glory in prevention! Solche Erfolge sind kurzlebig. Die Pandemie ist nirgends in der Welt wirklich überwunden. Umso wichtiger ist es, das Erreichte ins Verhältnis zum Möglichen zu setzen.

Wie sieht Ihre Bilanz mit Blick auf den Krieg in der Ukraine aus? Die Bundesregierung steht gerade unter gehörigem Druck.

Einmal vorweg: Dieser Krieg ist furchtbar und das Leid ist unermesslich – für uns alle ist das doch alles kaum zu ertragen. Emotional verstehe ich daher den Wunsch, es möge den einen Knopf geben, den man nur schnell drücken müsse, und der Horror wäre vorüber. Anfangs schien es, man müsse nur Nordstream 2 aufgeben, und alles werde gut. Nächster Knopf: Sanktionen gegen Moskau erlassen. Dritter Knopf: Russland vom internationalen Zahlungsverkehr abkoppeln. Als nächstes: Auch Deutschland müsse Waffen liefern. Dann: Immer stärkere und tiefgreifende Sanktionen. Und jetzt also die Frage nach der Lieferung schwerer Waffen. All diese Schritte ist Deutschland nach gründlicher Abwägung, in enger Abstimmung mit unseren internationalen Verbündeten diesseits und jenseits des Atlantiks gegangen – und doch konnte und kann es einigen nicht schnell genug gehen.

Bislang sehr offensichtlich nicht nur ein politisches, sondern auch ein kommunikatives Desaster!

Nein. Im Krieg gibt es keine einfachen Lösungen – und wer einfache Lösungen verspricht, wird seiner Verantwortung nicht gerecht. Und wie gesagt: Abschaltknöpfe gibt es nicht.

"Der Bundeskanzler ist öffentlichen Druck gewohnt und lässt sich nicht kirre machen."

Klingt die Knopf-Metapher nicht ein bisschen fatalistisch nach dem Sprecher einer Regierung, deren Schritte grundsätzlich ein Stück zu kurz sind für die Realität?

Falsch. Nach dem Sprecher einer Regierung, die ihre Entscheidungen wohl abwägt und von klaren Prinzipien leiten lässt: Erstens: Deutschland will der Ukraine so gut es irgend geht im Kampf gegen den Aggressor Putin helfen. Zweitens: Die Nato und Deutschland wollen eine direkte Konfrontation mit der Atommacht Russland vermeiden, die in eine unvorstellbare Katastrophe weit über die Ukraine hinaus führen würde. Und drittens prescht Deutschland nirgends voran, sondern bewegt sich immer in enger Abstimmung mit seinen Verbündeten. Im Bewusstsein, dass sich die Lage ständig verändert und wir auch darauf reagieren müssen. Deshalb können nicht alle Forderungen, die an Deutschland gerichtet werden, sofort erfüllt werden. Das sind oft schwierige Abwägungsentscheidungen, aber so funktioniert verantwortungsvolle Politik.  

Ist die Kritik an der aktuellen Politik also vor allem ein kommunikatives Problem der akzeptanzfördernden Vermittlung dieser Sachentscheidungen?

Im Augenblick dominieren die Stimmen in der Öffentlichkeit, die mit Blick auf den furchtbaren Krieg ein Vorpreschen Deutschlands verlangen. Die Bundesregierung folgt der oben beschriebenen abwägenden Linie in enger Absprache mit unseren Verbündeten. Und der Bundeskanzler ist ein sehr erfahrener Politiker, der öffentlichen Druck gewohnt ist und sich nicht kirre machen lässt. Dafür ist er gewählt worden. Als Regierungssprecher ist es meine Aufgabe, diese Position deutlich zu machen und zu erklären, auch wenn manche eine andere Politik wollen.

Aber macht das den Regierungssprecher nicht zum Regierungskrisensprecher?

Tja, das gehört zur Stellenbeschreibung. Fragen Sie mal meine Vorgänger, wie oft sie das Gefühl hatten, Zuspruch fürs Handeln ihrer Regierungen zu kriegen. Alles eine Frage der Erwartungshaltung. Nur wer nichts tut, macht auch nichts falsch – und selbst das kann ein Fehler sein. Wenn ich von journalistischer Seite Lob bekäme, würde ich vermutlich einiges falsch machen. Was aber nicht heißt, dass ich meine Arbeit dann am besten mache, wenn es viel Kritik gibt.

Olaf Scholz hat in Bezug auf den russischen Angriffskrieg den Begriff der politischen Zeitenwende verwendet. Gibt es auch eine Zeitenwende der politischen Kommunikation, die damit einhergeht?

Die politische Zeitenwende muss kommunikativ begleitet werden. Allerdings befinden wir uns, wie Sie es anfangs ausgedrückt haben, vom ersten Tag an im Krisenbewältigungsmodus, insofern gibt es dafür kein vorgefertigtes Kommunikationskonzept. Mit meinen Stellvertretern habe ich aber vereinbart, dass wir noch transparenter, erklärender und umfassender kommunizieren wollen.

Von welcher Seite aus gesehen?

Regierungsseitig wollen wir nicht nur senden. Deshalb geht der Bundeskanzler anders als seine Vorgängerin häufiger in Formate wie Heute Journal, Bericht aus Berlin, RTL Aktuell oder in Talkshows wie Maybrit Illner und Anne Will, um sich befragen und hinterfragen zu lassen. Das gilt mindestens so stark für Regierungsmitglieder wie Robert Habeck, Christian Lindner, Annalena Baerbock oder Nancy Faeser – alle erläutern öffentlich, wofür diese Regierung steht.  

"Grundsätzlich ist immer die Kommunikation schuld." (lacht)

Gibt es eine Art Handwerkskasten, der Ihnen zur Hand gegeben wurde, um Stresssituation zu meistern?

Schön wär’s, aber da hat wohl jeder und jede eigene Strategien.

Werden bewegte Zeiten grundlegend anders kommuniziert als ruhigere?

(überlegt lange) Da hat jede Sprecherin, jeder Sprecher vermutlich individuelle Herangehensweisen, aber ich versuche zusammen mit den beiden stellvertretenden Regierungssprechern in der Bundespressekonferenz …

… wo Sie nur zu Gast sind …

… dort versuchen wir jede Frage, ob über ruhigere oder bewegendere Themen, mit der angemessenen Klarheit zu beantworten. Das mag nicht immer gelingen, aber wir streben es an. Manchmal geht es auch gar nicht darum, nichts sagen zu wollen, sondern nichts sagen zu können. Ich sage manchmal ketzerisch: Der Bundeskanzler folgt mitunter dem Ricola-Prinzip der Kommunikation.

"Zu versuchen, aus dem Kanzler kommunikativ einen Barack Obama zu machen, ginge definitiv nach hinten los."

Sie meinen das Schweizer Kräuterbonbon?

Genau. Deren Slogan lautete: "Wer hat’s erfunden? Die Schweizer." Während viele Politiker oft und gerne vollmundig ankündigen, was sie vorhaben, bereitet Scholz erst abseits der Öffentlichkeit seine Entscheidungen gründlich vor und verweist im Anschluss öffentlich auf das, was geschafft worden ist.  

Aber wird ihm nicht genau das gerade massiv zum Nachteil ausgelegt?

Das mag vorkommen, aber insgesamt ist er mit diesem Prinzip in den letzten Jahren doch recht erfolgreich gewesen – unlängst hat er eine Bundestagswahl gewonnen. Aber natürlich ist das kein Rezept für jede Lebenslage. Manchmal ist es nötig, konkrete Zielvorgaben zu verkünden, damit die nötige politische Dynamik entsteht. Im vorigen November kündigte Scholz an, bis Ende Dezember 30 Millionen Impfungen durchgeführt haben zu wollen. Daran gab es viel Kritik, weil es angeblich nicht zu schaffen wäre. Noch vor Heiligabend allerdings war das Ziel erfüllt. Ein toller Erfolg. Daraufhin hat der Kanzler die Parole ausgegeben, die nächsten 30 Millionen bis Ende Januar erreichen zu wollen – was bekanntlich nicht ganz hingehauen hat.

Und das Bundespresseamt in Schockstarre versetzt hat?

Ach nein, dafür sind die meisten der 500 Frauen und Männer hier im Haus zu erfahren und bleiben selbst dann gelassen, wenn der neue Regierungssprecher mal etwas frei von der Leber weg redet. Jetzt aber die Preisfrage: Hätte der Kanzler das Ziel lieber nicht formulieren sollen, weil es die Gefahr gab, dass es nicht erreicht wird? Oder müssen Führungskräfte ab und an Zielmarken setzen – und sei es nur, um sich ihnen anzunähern? Der Bundeskanzler neigt relativ selten dazu, da fällt es umso mehr auf, wenn er es doch mal tut.

Genau deshalb wird ihm vorgeworfen, er bleibt im Ungefähren.

(nickt)

Sei zu zögerlich.

(nickt)

Eiert bisweilen rum.

Naja …

Ist das ein Problem von Olaf Scholz oder seinem Kommunikationsteam?

Grundsätzlich ist immer die Kommunikation schuld. (lacht) Manchmal habe ich den Eindruck, dass der Anspruch, wie politische Kommunikation angeblich zu funktionieren habe, selten dem Praxistest standhält. Jedenfalls wenn ich mich im Land umblicke oder in den Vorgänger-Regierungen. Jeder und jede hat einen eigenen Stil und bleibt diesem Stil einigermaßen treu. Die wenigsten folgen den vielen klugen Ratschlägen, die sie Tag für Tag in den Zeitungen lesen. Alles andere würden die Bürgerinnen und Bürger auch als unauthentisch empfinden.  

Was bedeutet das für die aktuelle Debatte über den Ukraine-Krieg?  

Trotz aller Emotionen muss die Regierung einen kühlen Kopf bewahren und stets das große Ganze im Blick behalten. Alle, wirklich alle wollen diesen Krieg schnellstmöglich beendet sehen.

Aber?

Unsere Möglichkeiten, das aus eigener Kraft zu bewirken, sind begrenzt. Da wären wir wieder beim ersehnten Knopf, den es nicht gibt. Beispiel: Ein sofortiger Energie-Boykott, um Putin in die Knie zu zwingen. Man könne doch einen warmen Pulli anziehen und die Heizung herunterdrehen oder das Auto öfter stehenlassen, wird argumentiert. Dass es dabei um ganze Industriezweige geht mit Abertausenden von Arbeitsplätzen, die von einem solchen Boykott massiv betroffen wären, gilt oft als lästiges Detail. So etwas muss verantwortungsvolles Regierungshandeln aber berücksichtigen. Das ist, wie der Wirtschaftsminister sagt, reine Physik. Ein Chemiepark, der 30 Prozent weniger Gas zur Verfügung hat, produziert nicht 70 Prozent, sondern null.

"Wenn ich ständig etwas anderes denken würde als der, für den ich arbeite, sollte ich mir einen anderen Job suchen."

Ein gern gewähltes Beispiel: die Glasherstellung.

Wenn da der Kessel einmal auskühlt, können Sie ihn wegschmeißen. Und wenn der Spiegel, die Zeit oder auch der journalist innerhalb weniger Wochen nicht mehr erscheinen kann wegen Papiermangels, ist womöglich ganz Schluss, weil Sie nichts mehr verdienen. All dies gilt es zu bedenken und Entscheidungen zu treffen, die durchzuhalten sind.

Und Ihr Job als Regierungssprecher ist es also, sich dabei schützend vor den Kanzler zu stellen und die Kommunikation so zu gestalten, dass von solchen Entscheidungen nichts an seinem Amt hängen bleibt?

Nein, mein Job ist es, in Gesprächen, Interviews und Pressekonferenzen die Politik und die Komplexität zu erläutern. Transparenz herzustellen! Die zweite Hauptaufgabe besteht darin, zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung innerhalb der Berliner Polit-Blase zu moderieren, in der es häufig ein bisschen aufgeregter zugeht als außerhalb. Ich habe in meinem Politologie-Studium ausgiebig qualitative und quantitative Sozialforschung betrieben. Es kommt schon darauf an, wie ich eine Frage formuliere: Wenn ich frage, ob Deutschland die Ukraine mit schweren Waffen unterstützen sollte, um weitere russische Kriegsverbrechen zu verhindern, werden 90 Prozent zustimmen. Wenn ich frage, ob man für die Lieferung schwerer Waffen einen Dritten Weltkrieg riskieren sollte, sieht das ganz anders aus.

Womit was bewiesen wäre?

Dass es nicht nur um Meinungsbilder geht, sondern auch um Machbarkeiten. Erfahrene Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitiker bringen ein Gefühl dafür mit, beides zu berücksichtigen. Meine Aufgabe ist es, diese Zusammenhänge darzustellen.

Wir befinden uns allerdings nicht nur im Krieg Russlands gegen die Ukraine, sondern auch im Krieg rechter Populisten gegen Demokratie und Pressefreiheit oder im Krieg der Menschheit gegen den eigenen Planeten – sind Kriege nicht Zeiten der Geheimhaltung statt der Transparenz?

Gerade in diesen Tagen sollten wir den Begriff Krieg nicht zu inflationär verwenden. Aber den beschriebenen Spagat müssen wir in der Tat aushalten. Es braucht Geheimhaltung, insbesondere im Bereich von militärischer Sicherheit. Andererseits ist das Informationsbedürfnis verständlicherweise riesig – und es wird gerne unterstellt, dass Fakten aus niederträchtigen Motiven verheimlicht würden, am Ende also, dass die Wahrheit bewusst verheimlicht werden solle.

Wobei Sie nicht dafür da sind, Wahrheiten zu kommunizieren, sondern Regierungshandeln. 

Ein demokratisch legitimiertes Handeln auf Grundlage des Grundgesetzes. Aber für jeden Regierungssprecher, jede Regierungssprecherin gilt: Du darfst nicht lügen.  

Aber ungeliebte Wahrheiten wie jene, dass der Klimawandel nur aufzuhalten ist, wenn wir unseren Wohlstand materiell massiv einschränken, müssen Sie verschweigen?

Das ist, glaube ich, auch eine Frage des sprachlichen Geschmacks, der im Blick behalten muss, dass die einen Tacheles hören wollen, während andere irgendwann komplett abblocken, wenn die Aussichten fortwährend als katastrophal dargestellt werden. Der Wirtschaftsminister spricht von "Zumutungen", der Bundeskanzler formuliert lösungsorientierter, dass er dafür sorgen möchte, dass wir mit der Situation "gut zurechtkommen".

Christian Lindners Sprachgeschmack wiederum ginge in Richtung "dornige Chancen". Was ist Ihrer als Sprecher?

Mein Geschmack spielt da keine große Rolle. Wenn man wie ich seit 2015 für den gleichen Chef tätig ist, nähern sich die Geschmäcker sowieso ein bisschen an. Manchmal ertappe ich mich dabei, privat Dinge zu sagen, die von ihm stammen könnten; ich weiß nicht, ob es ihm umgekehrt auch mal so geht. Wenn ich ständig etwas anderes denken würde als der, für den ich arbeite, sollte ich mir einen anderen Job suchen. Kennen Sie The West Wing?

Eine Politserie der späten Neunzigerjahre, die vor allem im Weißen Haus spielt?

Genau. Meine Lieblingsfigur ist US-Präsident Josiah Bartlet. An einer Stelle überlegt sein Team, wie der Präsident medial zu platzieren sei. Ob er nicht so sein müsse oder dies anders tun solle. Und dabei fällt ein für mich entscheidender Satz der politischen Kommunikation: "Let Bartlet be Bartlet." Man kann und soll Menschen in politischer Verantwortung kommunikativ nicht neu erfinden, sondern abbilden – davon bin ich fest überzeugt.

"Zwischen alter und neuer Regierung hat es einen reibungslosen und vertrauensvollen Übergang gegeben."

Geht es um Authentizität oder Glaubwürdigkeit, wenn Sie Scholz Scholz sein lassen?

Beides – wenn eins von beiden fehlt, spüren die Bürgerinnen und Bürger das sehr genau. Deshalb wägt er seine Worte und Taten so genau. Wenn man versuchen würde, aus dem Kanzler kommunikativ einen Barack Obama zu machen, ginge das definitiv nach hinten los.

Sind Sie trotz Ihrer Aufgabe, sich schützend und erklärend vor die Bundesregierung zu stellen, auch jener Bote, der wie einst in der Antike stellvertretend für die Botschaften gegrillt wird?

Wer würde in diesem Szenario jetzt wen bestrafen?

Die Öffentlichkeit den Überbringer schlechter oder unerwünschter Informationen, also Sie.

Diese Frage kommt in meinem Fall vielleicht etwas früh. Außerhalb der Berliner Szene hat bislang doch kaum jemand eine Wahrnehmung von mir. Das war bei meinem Vorgänger vielleicht etwas anders, weil er als ZDF-Moderator schon vor Amtsantritt sehr bekannt war. Wenn Sie eine Umfrage machen, wer Uwe-Karsten Heye, Béla Anda oder Ulrich Wilhelm waren …

Drei Ihrer Vorgänger.

… wüssten das vermutlich die wenigsten. Regierungssprecher sind nicht gewählte Repräsentanten, sondern das Sprachrohr ihrer Chefinnen und Chefs.

Kriegen Sie im Zeitalter der kommunikativen Verrohung trotzdem Teile der digitalen Shitstorms ab, die der Regierung gelten?

Ein bisschen. Ich nehme das, was auf Plattformen wie Twitter so abläuft, aber auch nicht allzu ernst.  

Sie haben als Chef des Bundespresseamtes auch eine Schutzfunktion für Ihre 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wie sorgen Sie dort für kommunikative Hygiene?

Ich setze mich für einen offenen Kommunikationsstil im Haus ein. Das Potenzial der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist groß und Probleme gilt es offen anzusprechen. Ich denke auch, dass ich recht zugänglich bin. Und wie gesagt: Die meisten Kolleginnen und Kollegen hier sind lange dabei, krisenerprobt und können einiges ab. Die Kanzlermappe, also den täglichen Pressespiegel über die Regierungspolitik, kann ich an manchen Tagen nur den Hartgesotteneren empfehlen. (lacht) Da wird uns ja nur im Ausnahmefall mal die eigene Grandiosität bescheinigt. Ansonsten heißt es gerade bei Leuten, die hauptberuflich kommunizieren: Kommuniziert auch untereinander.

Und wie ist es, wenn Hatespeech und anderes Geschwurbel nicht anonym im Internet auf Sie und Ihre Leute einprasselt, sondern in Gestalt des Querdenker-Journalisten Boris Reitschuster Auge in Auge bei der Bundespressekonferenz?

Das ist Ihre Einordnung. Grundsätzlich bin ich mir darüber bewusst, dass es manchen weniger um Informationen geht als um ihr journalistisches Erlösmodell.  

Gibt es noch andere Journalistinnen und Journalisten mit Erlösmodell statt Informationsbedarf?

Die Regierungs-PK empfinde ich meist als ziemlich sachorientiert. Es mag ein paar Orchideen-Themen geben, die einzelne mehr interessieren als den Rest. Die Frage nach einem generellen Tempolimit fällt regelmäßig, obwohl sich jeder und jede die Antwort im Grunde längst selber geben kann.

Nicht mit den Deutschen!

Natürlich ist es völlig legitim, die Vertreterinnen des Verkehrs- oder Wirtschaftsministeriums mit dieser Frage ein wenig zu zwiebeln, aber am Ende bleibt es doch mehr Unterhaltungs- als Informationsbedürfnis. Das gilt es sportlich zu nehmen.

"Jemand wie Steffen Seibert wäre doch, mit etwas Abstand zur Regierungszeit Merkel, ein Gewinn für jede Talkshow."

Wie sportlich sollte das publizistische Berlin da Leute wie Reitschuster nehmen, dem es ersichtlich um Polemik statt Politik geht. Anders gefragt: Hätten Sie ihn als Vorstandsmitglied der BPK 2015 auch ausgeschlossen?

Als Regierungssprecher habe ich schon gelernt, auf hypothetische Fragen nicht zu antworten. Ich kenne auch die Details des Falls nicht. Die Berufsbezeichnung Journalist ist nicht geschützt in Deutschland, deshalb war die Abgrenzung für die BPK schon früher nicht immer einfach. Zu meiner Zeit lautete die Definition der Bundespressekonferenz, glaube ich, in etwa: Jeder, der in Berlin hauptberuflich für ein deutsches Medium schreibt und davon leben kann, kann Mitglied werden.

Gerade für Freelancer schwierig, in wirtschaftlich komplizierter Zeit.

Eben. Die Printkrise brachte es mit sich, dass gestandene Journalistinnen und Journalisten noch nebenbei einen Brot-und-Butter-Job annehmen mussten. Die BPK ist eine wirklich spannende und weltweit einmalige Einrichtung, die es seit 1949 gibt. Damals fragten sich die Bonner Korrespondenten, wie sie am besten an Informationen gelangen können. Und was macht der Deutsche, wenn er nicht weiter weiß?

Er gründet einen Verein?

Und in diesem Fall einen, für den die Bonner Hauptstadtjournalisten anfangs noch alle paar Wochen Ministeriumsvertreter eingeladen haben. Später bürgerten sich die Regierungspressekonferenzen dreimal die Woche ein. Und der Clou ist, dass die Journalistinnen und Journalisten die Moderation übernehmen und die Fragen aufrufen – damit ist sichergestellt, dass jeder und jede Fragen stellen kann. Auf Regierungsseite erfordert das einen erheblichen Aufwand, weil natürlich alle Ressorts und die Regierungssprecher sich auf mögliche Themen vorbereiten müssen. Das bedeutet an drei Tagen der Woche manchmal mehrere Stunden intensiver Vorbereitung für die jeweiligen Ressorts – ohne dass sie wissen, ob sie am Ende überhaupt was gefragt werden.  

Arbeiten im Bundespresseamt eigentlich überwiegend frühere Kollegen wie Sie, oder was ist das gängige Berufsprofil?

Nein, es gibt bei uns die verschiedensten Berufsprofile. Da ist schließlich auch reichlich Quellenstudium dabei, klassische Verwaltungsaufgaben, viel Organisation, Medienbetreuung, Reisevorbereitung, all so was. Dass mit mir, Christiane Hoffmann und Wolfgang Büchner …

Beide vom Spiegel übrigens.

… drei Journalisten an der Spitze stehen, heißt nicht, dass es im Bundespresseamt nur so von früheren Journalistinnen und Journalisten wimmelt.

Qualifiziert unser Beruf denn grundlegend dazu, für andere zu sprechen?

Es hilft jedenfalls ungemein, wenn man weiß, was die journalistische Seite braucht.

Ist Ihnen der Weg zurück in den Journalismus als Pressesprecher verschlossen?

Ob ich mir das persönlich vorstellen könnte, weiß ich jetzt gar nicht. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es der Branche schwer zu vermitteln wäre. Als ich den Journalismus vor acht Jahren in Richtung Kommunikation verlassen habe, sagte ich selbstironisch: Ich wechsle von der hellen auf die dunkle Seite der Macht. So ist das Gefühl.

Nur Ihres?

Ganz allgemein in der Branche, denke ich. Anfangs wurde ich öfter gefragt, wie man sein Berufsethos so verraten könne. Ich sehe es anders: Wenn man seine Aufgabe gut macht, leistet man auf beiden Seiten einen wichtigen Beitrag für unser Gemeinwesen. Im Übrigen wäre ich heute, mit den Erfahrungen und Kenntnissen, die ich als Sprecher gesammelt habe, ein besserer Journalist als früher. Jemand wie Steffen Seibert wäre doch, mit etwas Abstand zur Regierungszeit Merkel, ein Gewinn für jede Talkshow. Trotzdem ist das bei uns schwer vorstellbar – insofern: Es gibt wohl keinen Weg zurück.

Und was machen Sie da, wenn die Ampelkoalition irgendwann mal abgewählt wird?

Urlaub.

Jan Freitag ist freier Journalist in Hamburg. Marzena Skubatz arbeitet als Fotografin in Berlin.  

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