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Deutschlands erster Journalismus-Sessel

Ein Sessel für den Dialog. Drei Tage lang haben Astrid Csuraji, Norbert Jeub und ihr Team das Möbelstück durch Euskirchen gerollt. (Foto: Sandra Wahle)

Kann ein Möbelstück einer Redaktion helfen, mit Menschen ins Gespräch zu kommen? Radio Euskirchen und das Innovationslabor tactile.news haben es ausprobiert und einen Journalismus-Sessel mitten in die Stadt gerollt. Ein Praxistest. Alexa, starte #Dialogbox. Text: Martin Tege (tactile.news)

07.11.2022

Ein Studio, drei Büros, Kochzeile. Das ist Radio Euskirchen. Das kleinste Lokalradio von Nordrhein-Westfalen sendet aus einem Wohnviertel, halb ins Rheinland, halb in die Eifel. Zwei Redakteur:innen und eine Handvoll freie Mitarbeiter:innen bestreiten zusammen mit Chefredakteur Norbert Jeub täglich vier Stunden Live-Programm. Halbstündlich informieren sie die Menschen im Landkreis außerdem mit Nachrichten aus der Region.

Vor einem Jahr hat die Redaktion gespürt, wie wichtig ihre Arbeit sein kann: Am 14. Juli 2021 wütete die Flut im Landkreis, 26 Menschen starben. Radio Euskirchen versorgte die Menschen mit lebenswichtigen Informationen, bis das Hochwasser auch die Sendetechnik erwischte. 14 Monate später steht die Redaktion wieder vor den eher normalen Herausforderungen, die den Alltag vieler Lokalradios prägen.

Die Hörgewohnheiten der Menschen verändern sich, das UKW-Radio hat vielerorts ausgedient. "Es gibt heute viele Haushalte, da steht gar kein Radio mehr, sondern eine Alexa", sagt Norbert Jeub. Deshalb gibt es sein Programm auch über den Audio-Assistenten von Amazon zu hören. Wer den Sprachbefehl "Alexa, starte Radio Euskirchen" sagt, bekommt rund um die Uhr Musik und Nachrichten. Aber Jeub und sein Team wollen sich damit nicht zufriedengeben. Könnten sich Radiosender über Smart Assistants nicht nur einen Weg in die Wohnzimmer der Menschen bahnen, sondern auch ihre zentrale Funktion stärken? Also nah bei den Leuten sein, mit ihnen ins Gespräch kommen, informieren und zuhören zugleich?

Wir haben uns zusammen mit der Redaktion von Radio Euskirchen auf die Suche nach einer Antwort gemacht. Wir haben ein Hilfsmittel gebaut, das genau das möglich machen soll: die Dialogbox. Ein Möbelstück, das spricht und zuhört; das Menschen im öffentlichen Raum einlädt, dem Radio nahezukommen und selbst daran teilzuhaben. Drei Tage lang haben wir den Prototypen durch die Straßen des Landkreises Euskirchen gerollt. Der Weg dahin begann auf einer Dachterrasse in Lüneburg.

Juli 2022 im Innovationslabor tactile.news, ein erster Ideen-Sprint: Der Tisch verwandelt sich in Lego-Euskirchen, bevölkert von bunten Figuren. Eine reitet auf einem Puma umher, eine andere hat Kaffee in der Hand und zwei Kinder im Schlepptau. Gelbes, blaues und pinkes Klebeband visualisiert Pfade für erste Ideen: Wo, wie und warum könnten die Menschen dem Radio begegnen? 

"Ein Möbelstück, das spricht und zuhört; das Menschen im öffentlichen Raum einlädt, dem Radio nahe zu kommen und selbst daran teilzuhaben."

Aus kleinen Bausteinen wird schließlich ein Miniatur-Möbel. Die Dialogbox ist geboren – und viele Fragen: Was, wenn ein Sprachassistent wie Alexa daran angebracht wäre? Wie ließen sich die Passanten verlocken, sich zu setzen? Welche Gespräche könnten sich zwischen Box und Mensch entwickeln? 

Ein Kommunikationsapparat

Schon Bertolt Brecht machte vor fast 100 Jahren in seiner Radiotheorie den Vorschlag, das Radio "aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln". Die Dialogbox soll so ein Kommunikationsapparat werden, der die Zuhörer:innen nicht nur hören, sondern auch sprechen lässt. "Die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz und der Sprachassistenten macht Brechts Vision heute möglich", sagt Jakob Vicari, Mitgründer von tactile.news. "Alexa ist längst mehr als eine Technologie für sprachgesteuerte Lichtschalter. Sie ist ein Spitzen-Dialoggerät."

Im Design-Sprint tüftelt das Team an der Idee des sprechenden Möbelstücks. Die Herausforderung: Gespräche mit nahezu unendlichen Pfaden zu erwarten und eine Vielzahl von Reaktionen darauf vorherzusehen. Die Möglichkeiten zu bändigen und die Maschine gleichzeitig so menschlich wie möglich klingen zu lassen, ist der Anspruch. Früh entscheidet das Team, auch eine menschliche Stimme einfließen zu lassen. Der Moderator der Morningshow von Radio Euskirchen, Markus Steinacker, soll zum Gesprächspartner für die Passanten werden.

Nach drei Tagen steht ein Plan, die Umsetzung beschäftigt uns über Wochen: Wir bringen der Künstlichen Intelligenz von Amazons Alexa bei, wie man "ˈmøːblʃtʏk" ausspricht, dazu über 205 Hobbys, 37 Verkehrsmittel, 81 Lieblingsgerichte und manchen rheinischen Ausspruch.

Beim Möbel entscheiden wir uns für ein Angebot von der Stange: Einen Sessel mit Dach und Wänden, der in Büros ein ungestörtes Telefonat erleichtern soll. Mit einem wasserabweisenden Bezug und Rollen wird er outdoortauglich. Wir statten unsere Dialogbox mit einer Batterie und mobilem Internet aus. Und wir geben ihr ein Gehirn: Es steckt in einem kleinen weißen Kasten aus Kunststoff, 26 Zentimeter breit, 20 Zentimeter hoch, angebracht an der Innenseite des Möbelstücks. Hier sitzt die KI von Alexa. Was die Menschen ihr sagen, wird als Audiodatei gespeichert und zugleich als Text in einer Tabelle. So kann die Redaktion schnell und jederzeit darauf zugreifen und entscheiden, was sie mit ins Programm aufnehmen möchte. Unsere Mission hängen wir außen an die Box: "Willkommen im kleinsten Außenstudio Deutschlands." Davor liegt eine Fußmatte, Aufschrift: "Steig mit Euskirchen in die Kiste."

Nach drei Monaten Arbeit steht der erste Praxistest an. Im Stadtteil Euenheim in Euskirchen, Ende September 2022. Wir rollen die Box vor die Cafeteria des Berufsbildungszentrums, nahe der Redaktion. Fahnen des Radiosenders flankieren das Journalismusmöbel, ein Bistrotisch mit Süßigkeiten steht bereit. Die schwarz-weiße Box mit Sprüchen auf knallgelbem Grund wird schnell zum Hingucker. Eine Gruppe Jungs bleibt stehen, es wird gefeixt, reinsetzen will sich keiner. Zwei junge Frauen trauen sich dann doch, eine dritte filmt die Premiere.

Als nächstes nimmt Jochen Kupp Platz, Leiter des Bildungszentrums. "Hi, Jochen, ich hoffe, du sitzt bequem. Ich bin die Dialogbox", begrüßt ihn der Sessel. "Und das ist mein Co-Moderator Markus, genannt Steini."

Die Tester:innen können mit der Box über Familie, Freizeit oder Verkehr sprechen. Sie entscheiden, ob sie nur zu einem oder zu mehreren Themen Fragen beantworten und ihre Meinung sagen wollen. Jochen Kupp will erst mal unverfänglich beginnen, Smalltalk bitte: "Wie startest du am besten in den Tag?", fragt Moderator Markus aus der Box. "Kaffee muss sein", antwortet Kupp. Und welches Thema beschäftigt dich? "Der Wiederaufbau nach der Flut."

"An diesem ersten Alltagstest stellen wir fest: Ist das Möbel erstmal besetzt, läuft es wie am Schnürchen."

Dann präsentiert die Dialogbox eine der aktuellen Fragen der Redaktion. Diese können Radio-Chef Jeub und seine Kolleg:innen beliebig oft verändern, indem sie einfach in eine Tabellenzeile schreiben. Kupp soll bewerten, wie wichtig ein möglicher Neubau des Bildungszentrums für ihn ist. "Auf einer Skala von 1 bis 10", bittet die Box. "365", antwortet Kupp. Die Box: "Ah, es ist dir also sehr wichtig." Kupp lacht und nickt. Jetzt soll er seine Bewertung noch begründen. "Um dem Fachkräftemangel zu begegnen, brauchen wir hier modernste Mittel für die Ausbildung. Sonst wird das nix", sagt Kupp. Die Box zeichnet die Worte auf, vielleicht wird ja ein O-Ton fürs Radio draus.

Bei diesem ersten Alltagstest stellen wir fest: Ist das Möbel erst mal besetzt, läuft es wie am Schnürchen. Die Schüler:innen des Berufsbildungszentrums stehen Schlange. Emre will Anlagenführer werden, er spricht mit der Box über mögliche Fahrradstraßen in Euskirchen. Sana und Jamila drängeln sich nebeneinander auf den Sitz und reden über ihre Freizeit.

Probleme mit dem rheinischen "j"

Die Dialogbox macht ihren Job ganz gut, gerät aber bei manchen Namen noch ins Stolpern. Dann will der Einstieg ins Gespräch nicht recht gelingen. Auf 5.517 Vornamen haben wir die Box vorsorglich trainiert. An Mickey, Junis und Serge scheitert sie. Auch das Rheinische "j" statt "g" macht ihr zu schaffen. "Janz schön hier" wird zu "Tanz schön hier". Wenn sie ihren Gast nicht versteht, bricht die Box den Dialog ab. "Blubb." Das sorgt für Heiterkeit, manchmal auch für Frustration.

Am nächsten Morgen ein zweiter Praxistest im Kreishaus: Hier steht die Box im Wartebereich vor der KFZ-Zulassung und der Ausländerbehörde. Die zähen Minuten könnten sich die Wartenden doch in der Box vertreiben, hoffen wir. Aber die meisten starren lieber auf die Anzeige mit den Wartenummern.

Dann setzt sich Katharina rein, Mitte 30, Tupperdose und Kaffeebecher im Anschlag. Sie berichtet von ihrer Familie und wie stressig Kindererziehung sein kann. Ob sie einen Erziehungstipp hat? "Ein Nein muss sich lohnen." – "Finde ich gut, ist notiert", sagt die Box. "Und ich habe auch einen Tipp für dich: Aus dem Kind kein Arschloch machen, klappt besser, wenn man selbst keines ist." Das hat die Box aus den vorbereiteten Daten vorgelesen. Katharina stutzt erst, dann lacht sie, bis ihr die Tränen laufen. Mit dem maschinellen Humor hat sie nicht gerechnet.

Nachmittags wechseln wir in die Fußgängerzone. Vor 14 Monaten ist hier das Wasser durchgeschossen. An manchen Fassaden ist die Fluthöhe noch als Schmutzstreifen abzulesen. Mit abwaschbarer Sprühkreide sprayen wir "Zur Stimmabgabe #dialogbox" aufs Pflaster. 

Enie braucht keine lange Einladung. Wie viele andere junge Leute ist die 18-Jährige offen für das Gespräch mit einem Sprachassistenten. "Ich find’s witzig, mit einer Maschine zu reden, gerade weil sie mich nicht immer versteht. Da gibt’s auch mal was zu lachen." Welches Thema hätte sie gerne noch besprochen? "Es sollte viel mehr für die Jugend passieren hier. Das hätte ich der Box gerne noch gesagt."

Auch Justin, bald Jana, hat keine Berührungsängste. Auf dem Kissen in der Box steht: "Teile deine Geschichte." Die 18-Jährige beginnt ein Gespräch über Familie. "Was fällt dir als erstes ein, wenn du an deine Familie denkst?", fragt Co-Moderator Markus. Die Antwort: "Meine Kindheit." Für sie als trans Person ist das eine schmerzhafte Geschichte. "Ich spreche darüber lieber mit so einer Maschine als mit Menschen", sagt Justin hinterher. "Da kann ich mich besser öffnen."

"Am nächsten Morgen ein zweiter Praxistest im Kreishaus: Hier steht die Box im Wartebereich vor der KFZ-Zulassung und der Ausländerbehörde. Die zähen Minuten könnten sich die Wartenden doch in der Box vertreiben, hoffen wir. Aber die meisten starren lieber auf die Anzeige mit den Wartenummern." 

Serge ist 70 und der älteste Tester. Er hat Zeit und viel Geduld. Die braucht er auch, denn erst mal versteht die Box seinen Vornamen nicht. "Welche Frage hast du noch an mich?", fragt die Box, als er nach 20 Minuten ans Ende des Gesprächs gelangt. "Ich hätte gern Kontakt zu Leuten, die eine neue Sprache lernen. Ich würde gern noch Italienisch lernen. Am liebsten sogar in einer Gastfamilie in Italien." Schüleraustausch für Senioren? Ein völlig neues Thema für die Redaktion. 

Astrid Csuraji, Co-Gründerin von tactile.news, hat sich die Dialogbox mit ausgedacht und steht nun mit einem Klemmbrett daneben. Sie schreibt technische Fehler und Ideen auf, fragt die Besucher:innen nach ihren Eindrücken. Wie es Serge gefallen hat? "Die Maschine ist schlau, aber ihr fehlt noch die Lockerheit", findet der Belgier.

Am dritten Tag in Bad Münstereifel, 13 Kilometer südlich von Euskirchen: Hier sägen und hämmern Bauarbeiter:innen in der Fußgängerzone. Neben ihnen fließt die Erft. Der Wiederaufbau nach der Flut ist in vollem Gange. "Auf einer Skala von 1 bis 10, wie bewertest du den Wiederaufbau nach der Flut?", fragt die Box. "6", ist die häufigste Antwort an diesem Tag. Chefredakteur Norbert Jeub steht selbst ein paar Stunden neben der Dialogbox und macht sich ein Bild, von der Gemütslage der Menschen und von dem Mut seiner Redaktion. Unterstützt durch das Audio-Innovationsprogramm des Journalismus Lab der Landesanstalt für Medien NRW, war Radio Euskirchen bereit, sich auf ein Experiment einzulassen.  "Wir wollten testen, ob Menschen sich hinsetzen, Zeit nehmen und mit einer Redaktion reden, ganz ohne Reportermikrofon", sagt Astrid Csuraji. Technisch klappt das, so viel ist schnell klar. Aber geht die Idee auch für die Redaktion auf?

"Ja", sagt Norbert Jeub entschieden. "Ich hätte nie gedacht, dass wirklich so viele Menschen mit dem Kasten sprechen." In Summe habe die Dialogbox ein enorm facettenreiches Stimmungsbild aus dem Sendegebiet geliefert. Und viele neue Themen aufgeworfen: "Manche Leute haben mir gesagt, dass sie lieber mit einer Maschine sprechen als in ein Mikrofon. Das eröffnet uns als Radioredaktion Chancen, die noch ganz neu für uns sind."

Mehr als 100 Menschen haben die Dialogbox im Einsatz getestet: Junge und Ältere, Menschen mit und ohne Migrationserfahrung, Städter, Leute vom Land. Manche saßen dabei in der Stille der Kreisverwaltung, andere mitten im Baulärm in der Fußgängerzone. 

Audience Engagement ist ein großes Wort. Es braucht viel Kreativität, um es mit Leben zu füllen. Mit Menschen in den Dialog zu kommen mit Hilfe eines Möbelstücks, das ist eine völlig neue Variante. Noch funktioniert sie nicht stolperfrei, aber einen ersten Stresstest hat sie bestanden. 

Martin Tege ist Projektmanager bei tactile.news

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