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Deep Journalism - Eine Chance für die Qualitätsmedien
Sebastian Turner: "Die Medien kämpfen mit einem Kompetenz-Paradox." (Foto: Table.Media/Tim Gabel)
Medien brauchen Domänenkompetenz, schreibt Sebastian Turner in unserer Serie „Mein Blick auf den Journalismus“. Turner sagt: Darin liegt für den Journalismus eine große ökonomische Chance. Wir veröffentlichen hier exklusiv einen Vorabdruck aus Turners neuem Buch (Deep Journalism). Text: Sebastian Turner
15.05.2023
Es gibt Hoffnung für die Qualitätsmedien: Die Abwärtsspirale aus sinkenden Einnahmen und schrumpfenden Redaktionen ist nicht unabänderlich. Ein neuer Ansatz schafft jetzt die Schubumkehr. Mit ausgebauten Redaktionen und Deep Journalism lässt sich der wirtschaftliche Erfolg steigern. Der Schlüssel dazu ist die Domänenkompetenz. Wer sie entwickelt, kann bei Publikum und Einnahmen gewinnen. Dabei entsteht ein neues Mediensegment: die Domänen-Leitmedien.
Die Medien kämpfen mit einem Kompetenz-Paradox. Noch nie war das Bildungsniveau von Journalisten höher. Doch zugleich nimmt in den Redaktionen seit zwei Jahrzehnten ab, was die Wissenschaft als domänenspezifische Kompetenz bezeichnet: Die tiefe, gründliche Kenntnis von Zusammenhängen und Entwicklungen in umfassenden Fachgebieten, die über Jahre gepflegt wird und auch dann bereitsteht, wenn sich ein Thema nicht oben auf der Tagesordnung befindet. Nur mit dieser Domänenkompetenz können die Medien ihre Rolle für Gesellschaft und Demokratie wahrnehmen – als unabhängiges Frühwarnsystem, bevor Entscheidungen getroffen und Entwicklungen weit fortgeschritten sind.
Die Tragweite zeigt aktuell Russlands Überfall auf die Ukraine: Es gab eine breite öffentliche Diskussion über die Pipeline Nord Stream 2. Was aber kaum oder gar nicht in der Öffentlichkeit verhandelt wurde: Wichtige deutsche Energieverteilernetze und Gasspeicher wurden in den letzten Jahren an Russland verkauft, und sie leerten sich, je mehr russische Truppen die Ukraine umzingelten. Dass es so kam, ist die Verantwortung von Politik und Wirtschaft. Dass dies nicht rechtzeitig breit diskutiert wurde, zeigt die mangelnde Domänenkompetenz der Medien.
Wer verstehen will, warum die Domänenkompetenz in den Redaktionen so gelitten hat, muss den Zwiespalt kennen, in den diese die Digitalisierung geführt hat. Die digitale Revolution stellte die Medien vor eine schicksalhafte Frage: Sollen sie ihre Einnahmen lieber von den Lesern holen oder von der Werbung? Viele haben sich für die Werbung entschieden und damit erst ihre Inhalte und dann ihr Publikum gravierend verändert.
Werbung als zentrale Einnahmequelle hat ihre Ursprünge schon vor einem halben Jahrhundert. In den 1970er Jahren begann die Blüte werbefinanzierter Qualitätsmedien. Sie überzeugten mit der Leseranalyse Entscheidungsträger (LAE) die Werbetreibenden davon, dass es nicht nur die breite Masse als Zielgruppe für Kaffeepulver und Waschmittel gibt. Mit Anzeigen in den Leitmedien konnten sie den „Entscheidern“ alles anbieten, was teuer und anspruchsvoll war, von der Bürotechnik bis zum Luxusparfüm. Die Zeitungen und Zeitschriften druckten immer mehr Anzeigen, und um die immer zahlreicheren Seiten zu füllen, bauten sie ihre Redaktionen aus. Je dicker die Hefte, desto breiter gefächert das Wissen der Redaktionen.
Drei Jahrzehnte – bis zur Jahrtausendwende – führte das werbezentrierte Modell zu besserer redaktioneller Qualität. Werbeeinahmen und redaktionelle Leistung drehten sich in einer Aufwärtsspirale. Das Betriebssystem der Qualitätsmedien funktionierte. Wer in redaktionelle Qualität investierte, verbesserte sein wirtschaftliches Ergebnis – auch wenn er nur nach den Werbeeinnahmen schielte und aus dem Blick verlor, was die „Entscheider“ als Medienpublikum ausmacht. Das verstärkte noch die Bezeichnung, die die Verlage dieser Gruppe anhefteten. Die Marketingdefinition „Entscheider“ betont die berufliche Position, aber verstellt, worum es dieser Gruppe bei der Lektüre besonders geht. Es ist das Publikum mit besonders großer Sachkenntnis, dessen Berufserfolg von „better informed decisions“ abhängt, bei ihm verbindet sich höchste Aufmerksamkeit mit ausgeprägter Domänenkompetenz. Man könnte es von den Opinionleadern und den Influencern, die sich durch Ichstärke und Multiplikationsfreude auszeichnen, abgrenzen als Competence-Leader oder Competencer. Sie können in ihren Themenfeldern journalistische Qualität besonders gut beurteilen.
Mit der Digitalisierung kam das Dilemma. Die boomende Digitalwerbung folgt anderen Spielregeln als die Printwerbung. Es muss nicht zuerst ein kompetenter Entscheider als zahlender Leser gewonnen werden, damit dann Anzeigen beachtet werden können. Das Publikum für die digitale Werbung kommt – oft nur für Sekunden – über Suchmaschinen und soziale Medien.
Deren Algorithmen folgen einer anderen Logik. Sie machen uns nicht entscheidungskompetent, sie reizen unsere Gefühle und bestätigen unsere Vorurteile, sie leben von der Zuspitzung und nicht von der Differenzierung. Durch immer feinere Messung der immer falscheren Signale prägte sich der Journalismus neu aus – hin zur Zuspitzung und Emotion, weg vom einordnenden, zusammenhängenden Wissen. Besonders viele Klicks bekommen die journalistischen Formate, die polarisieren. Das ist denkbar ungeeignet als Wissensbasis für umsichtige Entscheidungen. Dafür findet sich aber ein flüchtiges Millionenpublikum, das oft nur für Sekunden vorbeischaut. Dessen Werbeklicks bringen nur noch einen Bruchteil der früheren Umsätze der Printwerbung – aber immerhin etwas Geld in die Kasse. Denn die Einnahmen aus gedruckten Anzeigen brachen dramatisch ein. So sahen sich die Verlagsleute gezwungen, den kleineren Digitalwerbeumsätzen nachzujagen. So schrumpften mit den Anzeigeneinnahmen auch viele Redaktionen. Das alte Betriebssystem der Qualitätsmedien kam an sein Ende.
Besonders lehrreich ist die Berg- und Talfahrt von Gruner + Jahr. Der Verlag profitierte wie kaum ein anderer vom Anschwellen der gedruckten Entscheiderwerbung. Capital, Impulse, Börse Online, die kurzlebige Financial Times Deutschland und sogar der Stern fischten mit der Leseranalyse Entscheidungsträger gewaltige Anzeigenumsätze. Inzwischen sind die meisten Medienmarken aufgegeben, der Rest dient zur Massenvermarktung als Sendeplatzlabel bei RTL.
Das Abwandern der Domänenkompetenz
Bei vielen Medien vollzieht sich die Abwendung von den „Competence Leaders“ dagegen schleichend. Die Printredaktionen wurden Jahr für Jahr reduziert und sollten zugleich die Onlineausgaben von früh bis spät befüllen. Bei nahezu allen Medien müssen weniger Köpfe mehr Output produzieren. Die Fachleute füttern jetzt themenübergreifend im Schichtdienst das klickende Publikum, frühere Bildungsexperten schreiben über Verteidigung und Chinakundige über Sport, wo immer sie die Nachrichtenlage hintreibt, und es fehlt die Zeit, im angestammten Fachgebiet in die Tiefe zu gehen und auf dem Laufenden zu bleiben. Agenturmaterial, PR-Zulieferungen, die sich auch hinter dem Etikett Content Marketing verbergen, und Übernahmen aus den sozialen Medien breiten sich aus. Der britische Journalist Nick Davies gab der verdünnten redaktionellen Qualität den Namen Churnalism, er beschrieb schon 2008 den „Churn“, das Abwandern der Domänenkompetenz.
Der Kompetenzverlust zeigt sich auch bei den eingesparten Auslandskorrespondenten. In Moskau begrüßte der deutsche Botschafter um die Jahrtausendwende 90 Korrespondenten. Selbst vor den Kriegs-Gleichschaltungsgesetzen Putins waren davon kaum mehr als 20 übrig. Die Aufgaben übernehmen häufig flexible Auslandsteams in den Heimatredaktionen.
Auch der Personalhunger der Pressestellen schmälert die Domänenkompetenz der Redaktionen. Unternehmen und Verbände betreiben eigene Newsrooms und locken ihre Fachbeobachter aus den Redaktionen mit mehr Geld und weniger Wochenendarbeit. Der Chef eines großen Verbands wunderte sich darüber, dass er in den Redaktionen kaum noch auf Kenner seiner eigenen Branche stieß. Erst als es zu spät war, dämmerte ihm, dass er für seinen Verbandsnewsroom selbst den Markt leergekauft hatte. Ein Eigentor: In den Redaktionen findet seine Branche dürftiger statt, dafür sind jetzt die Ausgaben des Verbands für PR besonders hoch.
„Das alte Betriebssystem der Qualitätsmedien kam an sein Ende. Wer nach altem Stil werbeorientiert das wirtschaftliche Ergebnis verbessern will, stutzt notgedrungen die redaktionelle Qualität.“
Wie handeln gut ausgebildete, kritische Journalisten, die aber Domänenkompetenz nicht mehr ausprägen können, wenn sie dem Stoffdruck der Interessengruppen begegnen? Natürlich folgen sie nicht unkritisch der Meinungslinie eines Verbands. Sie verschaffen sich einen Überblick. Wenn sie ihren Standpunkt innerhalb dieses Meinungskorridors zwischen den dominanten Polen der organisierten Interessengegensätze formulieren, handeln sie nicht unkritisch und zugleich gehen sie nicht das Risiko ein, sich mit einer abseitigen Meinung zu blamieren. Mangels eigener Domänenkompetenz sind sie zugleich im engen Spektrum des Meinungskorridors der Interessengruppen gefangen. Das geht solange gut, wie die Interessengruppen ein Interesse haben, die relevantesten Argumente ins Schaufenster zu stellen. Bilden sie ein Meinungskartell, das wichtige Aspekte ausblendet, ist der domänen-inkompetente Journalist schnell ein Kartellbruder, ob er will oder nicht.
Thema Rohstoffabhängigkeit kam nicht vor
Ein anschauliches Beispiel liefert wieder Deutschlands verfahrene Lage angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine. Die Regierung propagierte wechselseitige wirtschaftliche Abhängigkeit mit Russland, die Opposition sprach sich vehement gegen Frackinggas aus. Die Wirtschaft trat für das günstige Pipelinegas aus Russland ein, und die NGOs lagen auf Linie der Opposition – kein Flüssiggas. Es gab im konventionellen Interessenorchester einfach keine prominente Stimme, die Deutschlands gefährliche Rohstoffabhängigkeit von einem Führerstaat problematisierte oder gar LNG-Terminals forderte. Nicht einmal die hochbezahlten Risikoerspürer in den Kapitalsammelstellen erkannten die existenzbedrohende Abhängigkeit der Unternehmen, in die sie investieren. Im Meinungskorridor der Interessengruppen kam das Thema Rohstoffabhängigkeit nicht vor, und der meinungsbildende Journalismus hat es nicht gemerkt, weil er sich nicht kompetent genug fühlte, den Meinungskorridor unbegleitet zu verlassen. In nahezu allen Nachbarländern führte die öffentliche Debatte zum Aufbau von Flüssiggas-Häfen. Nicht einmal das kam im deutschen Meinungskorridor an.
„Welchen Mehrwert, welche Nutzenversprechen können die Qualitätsmedien geben – losgelöst von ihrer Herkunft aus der papierverarbeitenden Industrie?“
Ein anderes Beispiel für einen irreführenden Meinungskorridor begegnet einem in der Kultur- und Kreativwirtschaft, zu der die Medien selbst gehören. Es gibt einen offiziellen Jahresbericht der Bundesregierung, der die Entwicklung dieses Sektors dokumentiert. Bei jährlichen Gipfeltreffen wird der Bericht vorgestellt, und die Medien berichten darüber. Als Sprecher auf dem Forum Kultur- und Kreativwirtschaft der Bundesregierung im Jahr 2019 stieß ich im öffentlich zugänglichen Bericht auf einen merkwürdigen Widerspruch. Der wirtschaftliche Branchentrend war über alle Teilbranchen hinweg positiv, obwohl man im Laufe des Jahres kaum positive Nachrichten von einzelnen Unternehmen hören konnte. Es stellte sich bei der Lektüre heraus, dass in der Erhebung eine Verzerrung angelegt war, die den tatsächlichen Branchentrend in das Gegenteil verkehrte.
Absurder Branchentrend
Die Kreativwirtschaft hatte in Wahrheit ein schlechtes Jahr. Für die Teilbranche der Spieleentwickler bestand aber keine eigene Auswertung. Um die Gamer dennoch in der Kreativwirtschaft mitzählen zu können, wurden die Zahlen der gesamten Softwarebranche einbezogen. Die Softwarebranche ist allerdings so groß und erfolgreich, dass sie alle negativen Trends der Kreativbranche mühelos überstrahlt. Die Absurdität wird deutlich, wenn man weiß, dass allein das größte deutsche Softwareunternehmen SAP größer ist als der gesamte Kunstmarkt, die gesamten darstellenden Künste, die gesamte Musikwirtschaft und die gesamte Filmwirtschaft – zusammen!
Das Ergebnis ist ein in die Irre führender Meinungskorridor, in dem sich Verwaltungsunsinn, Verbandsoberflächlichkeit und Funktionärseitelkeit begegnen. Dass die Medien sich sogar in ihrer eigenen Domäne über Jahre in diesem irreführenden Meinungskorridor aufgehalten haben, spricht für sich.
„Durch immer feinere Messung der immer falscheren Signale prägte sich der Journalismus neu aus – hin zur Zuspitzung und Emotion, weg vom einordnenden, zusammenhängenden Wissen.“
Man ahnt, wie die kompetentesten Leser auf das Ausdünnen der Medien reagieren. Sie wenden sich ab. Die Auflagen fallen mit wenigen Ausnahmen. Um ihren Informationsbedarf zu füllen, nehmen die Entscheider heute dafür ganz andere Summen in die Hand: Beratungsunternehmen, Medienauswerter und deutlich ausgebaute interne Informationsabteilungen kosten deutlich mehr Geld, als je für Abonnements ausgegeben wurde. Großunternehmen zahlen für die Medienbeobachtung gerne eine Million Euro und mehr im Jahr. Davon landen bei den Verlagen, ohne deren Inhalte die Medienbeobachtung nichts zu melden hätte, aber nicht einmal ein Zehntel, was nicht zwingend für die Verhandlungsgüte der Verlage spricht.
Das Geld für besonders kompetente Information ist also gar nicht weg, es fließt sogar üppig – nur nicht mehr in die Redaktionen.
Das aber ist nicht unabänderlich, wie Beispiele aus den USA, Dänemark und inzwischen auch aus Deutschland zeigen. Während sich in den USA die Zahl der Zeitungsredakteure in den letzten Jahren halbierte und ganze Regionen als News Deserts ohne seriösen, unabhängigen Journalismus auskommen müssen, gibt es einen Jobboom bei den Verticals. Diese hochspezialisierten Publikationen leben von einer Domänenkompetenz, die alles übertrifft, was bisher angeboten wurde. Sie sind die neuen Domänen-Leitmedien. Einer der Vorreiter, Politico aus Washington, wurde 2021 von Axel Springer übernommen. Nach Branchenberichten zahlte der deutsche Verlag für dieses eine junge US-Unternehmen mit hoher Domänenkompetenz soviel, wie er zuvor für den Verkauf von einem ganzen Stapel Traditionsmarken mit Hörzu, Hamburger Abendblatt und Berliner Morgenpost zusammen erlöst hat. Das erstaunlichste Beispiel erscheint in Dänemark. Aus dem Regionalblatt Jyllands-Posten entwickelte sich der Vertical-Verlag Watch Medier. Seine führende Publikation widmet sich der Containerschifffahrt und beschäftigt allein für dieses Thema elf Redakteure.
Ausbau durch Verticals
In Deutschland hat der Tagesspiegel seine Redaktion durch Verticals um gut ein Drittel von 150 auf über 200 Redakteure massiv ausgebaut, und der Digitalpublisher Table.Media (dessen Herausgeber ich bin) beschäftigt als größtes deutsches Start-up für Qualitätsjournalismus inzwischen mehr als 100 Mitarbeiter, um Themen wie Bundespolitik, China, Europa, Afrika, Sicherheit, Klima, Nachhaltigkeit, Bildung und Forschung zu vertiefen. Allein für die Publikationen Europe.Table und China.Table sind jeweils zwölf Journalisten tätig.
Allen Vertical-Angeboten ist gemein, dass sie nicht mit Emotionen um die Erregbaren aus den sozialen Medien buhlen, sondern mit umfassender Kompetenz um die entscheidenden Köpfe. Werbeeinnahmen spielen nur eine untergeordnete Rolle. Sie nehmen hohe Preise für die Abonnements – 1.000 und mehr Euro im Jahr – und vermitteln ihren Kunden dafür auch den entsprechenden Mehrwert.
Den relevanten, alleinstellenden Mehrwert präzise zu bestimmen und dann zu liefern – diese Methode kann den Qualitätsmedien ganz neue Perspektiven aufzeigen. Damit vermeiden sie, im Strukturwandel die Unique Selling Proposition (USP) zu vergessen. Das unterläuft Unternehmen in allen Branchen, immer nach dem abschreckenden Vorbild Kodak. Das Foto-Unternehmen dachte, es verkauft Chemieprodukte und nicht Erinnerungen und wurde deshalb von Apple und Samsung abgelöst, die dieses Versprechen dank Digitalisierung mit Smartphones besser erfüllen.
Welchen Mehrwert, welche Nutzenversprechen können die Qualitätsmedien geben – losgelöst von ihrer Herkunft aus der papierverarbeitenden Industrie? Der Handwerkskasten der Markenführung bietet dazu ein hilfreiches Werkzeug: Ein Positionierungskreuz mit vier Dimensionen schafft eine erste Grundordnung.
Auf der waagrechten Achse lässt sich die Kompetenz abbilden: der Inhalt. Der eine Inhalte-Pol, General Interest, markiert die breite, umfassende Vermittlung von Wissen: Nahezu jedes Themeninteresse wird überblickend bedient. Der entgegengesetzte Inhalte-Pol ist die Konzentration auf eine Domäne, die Domänenkompetenz.
Die vertikale Achse beschreibt die journalistische Herangehensweise: die Form. Hier steht am einen Ende die maximale Differenzierung der pointierten Zuspitzung am anderen Ende gegenüber. Diese Positionierungsmatrix entlang Inhalt und Form teilt die Welt der Leitmedien in vier Hauptfelder mit entsprechenden vier Grundnutzen auf: Die General-Interest-Anbieter gliedern sich in die Differenzierer und die Zuspitzer. Typische Medien, die General Interest und Differenzierung vereinen, sind die überregionalen Tageszeitungen wie FAZ, SZ oder New York Times mit ihrem umfassenden 360-Grad-Angebot. Ihr Nutzenversprechen ist die fundierte Erweiterung des Horizonts. Am anderen Ende der Skala findet sich die Zuspitzung wie bei meinungsstarken Wochenmagazinen. Dieser journalistische Zugang wird auch Thesenjournalismus genannt. Jeder Beitrag konzentriert sich auf eine These und spitzt so für das Publikum die komplexeste Stoffmenge auf eine Schlussfolgerung zu. Ihre Rolle ist in den Worten von Gabor Steingart, der den Spiegel-Spirit in die Newsletterwelt geschippert hat, der „Contrarian“. Das kann man mit der alemannischen Narrenfigur des „Widerwurz“ übersetzen. Er stellt sich grundsätzlich gegen die herrschende Meinung. Gerne auch dann, wenn sie zutrifft. Der Markenkern des Contrarian ist herausfordernde Inspiration.
Auf der Seite der Domänenkompetenz findet sich das ganze Spektrum der Fachinformationen. Im Feld der Differenzierer sind die Entscheiderbriefings wie von Politico, Tagesspiegel-Background und Table.Media verortet. Ihr USP ist das Wissen für bessere Entscheidungen, sie liefern einen kontinuierlichen Wettbewerbsvorteil. Daher auch ihr Erfolg bei den Entscheidern. Mit ihrem Deep Journalism bilden sie inzwischen eine neue Medienkategorie: die Domänen-Leitmedien.
Die Zuspitzung unter den Domänenkompetenten leisten hochkompetente publizistische Einzelkämpfer, die die moderne Form des Kolumnisten einnehmen. Man kann dieses Segment deshalb auch als Kolumnenjournalismus bezeichnen. Diese Veröffentlichungen arbeiten pointiert neue Trends und Meinungen heraus und bereichern den Diskurs mit dem Mehrwert „Thought Leadership“. Sie verdienen ihr Geld an Hochschulen oder Thinktanks oder, wie der angesehene Wissenschaftsblogger Jan Martin Wiarda, durch Moderation. Sie betreiben die Publizistik vor allem zur Profilpflege. Wiarda veröffentlicht die monatlichen Einnahmen seines Blogs. Der gestandene Journalist erreicht nur ausnahmsweise das Tarifgehalt eines Volontärs im ersten Ausbildungsjahr. Den überwiegenden Anteil seines Lebensunterhalts erzielt er mit Moderationsaufträgen der Wissenschaftseinrichtungen, über die er in seinem Blog schreibt. Ein Spannungsverhältnis, das er unumwunden einräumt.
Mit diesem publizistischen Koordinatensystem lassen sich Marktlücken entdecken und erfolgreich ansprechen. Der Berliner Tagesspiegel identifizierte auf diesem Weg 2014 die Politikentscheider als Lesergruppe. Man mag sich wundern, dass diese Gruppe auch über zwei Jahrzehnte nach dem Hauptstadt-Umzugsbeschluss noch nicht entdeckt war. 2014 war der Tagesspiegel hinter BZ, Berliner Zeitung und Berliner Morgenpost die viertgrößte Zeitung der Hauptstadt mit marktüblich erodierender Auflage. Systematisch baute der Tagesspiegel die redaktionelle Domänenkompetenz seither in wichtigen Politikfeldern aus. Dutzende hochqualifizierte Journalisten wurden hinzugewonnen – über 50 nennt die Website heute allein für die Verticals. Es wurden neue Produkte in diesen Domänen gestartet: hochpreisige Informationen im Wochen- und Tagesintervall, dazu Fachveranstaltungen. In der Zeitung erscheint davon das allgemein Interessante. Die Abopreise der Zeitung wurden jedes Jahr deutlich erhöht und dennoch stieg die verkaufte Auflage. Der Marktanteil nimmt seit 30 Quartalen kontinuierlich zu. Zugleich kommen Erlöse aus den angesprochenen Domänen in die Kasse, die Zeitung meldet auch „finanziell einen Riesenerfolg“. Inzwischen ist der Tagesspiegel von Position vier auf Platz eins als größte Hauptstadtzeitung vorgerückt.
„Das Geld für besonders kompetente Information ist also gar nicht weg, es fließt sogar üppig – nur nicht mehr in die Redaktionen.“
Die Strategie von Politico, Jyllands-Posten, Tagesspiegel und Table.Media wird von Fachleuten als Vertikalisierung und Rebundling bezeichnet. Die Angebote, der Preis und die Tiefe der Berichterstattung werden je nach Thema und Leserschaft neu gebündelt und bepreist, frei von den Zwängen der Drucktechnik und der Logik der Werbemärkte.
In den USA hat der Trend schon zu einer erstaunlichen Verschiebung der publizistischen Kontinentalplatten geführt. Die Medien rücken von den Bevölkerungszentren zu den Nachrichtenzentren. Während im Druckzeitalter die Nähe der Druckmaschine zu den Lesern dazu führte, dass die großen Medienhäuser in den Ballungsräumen wie Los Angeles, Chicago und New York entstanden, haben sich die erfolgreichen vertikalen Neugründungen an den Nachrichtenzentren herausgebildet. An der Wallstreet folgte dem digitalen Frühaufsteher Bloomberg in den letzten Jahren Business Insider. Noch erstaunlicher ist die Entwicklung in Washington, das mit 700.000 Einwohnern kleiner als ein New Yorker Stadtteil ist. In der amerikanischen Hauptstadt bilden Politico, Axios, Roll Call, Punchbowl News und The Hill inzwischen ein eigenes Ökosystem der Deep-Journalism-Medien.
Was in den USA schon eine stabile neue Säule im Mediensektor ist, bildet sich in Deutschland erst heraus. Es ist eine erfreuliche Nachricht für die Qualitätsmedien. Mit Deep Journalism gibt es wieder ein Betriebssystem, das mehr Qualität auch wirtschaftlich belohnt.
Exklusiv für journalist-Leser
Im Juni erscheint das Buch Deep Journalism – Domänenkompetenz als redaktioneller Erfolgsfaktor, das Turner zusammen mit Stephan Russ-Mohl im Herbert-von-Halem-Verlag herausgibt. Am 5. Juni um 18 Uhr findet die Vorstellung des Buchs Deep Journalism im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) statt. Neben den beiden Autoren auf dem Podium: Wolfgang Schmidt, Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramts, und WZB-Präsidentin Jutta Allmendinger. journalist-Leser können persönlich oder per Livestream dabei sein. Hier können Sie sich anmelden.
Sebastian Turner ist Gründer und Herausgeber des Digitalpublishers Table.Media, Berlin. Turner war Vorstandsvorsitzender der Werbeagentur Scholz & Friends, Aufsichtsrat bei Dieter von Holtzbrinck sowie Herausgeber und Mitinhaber des Tagesspiegels.
Bisher erschienen:
Teil 1: Daniel Drepper, Chefredakteur von BuzzFeed Deutschland
Teil 2: Carline Mohr, Social-Media-Expertin
Teil 3: Georg Mascolo, Leiter des WDR/NDR/SZ-Rechercheverbunds
Teil 4: Hannah Suppa, Chefredakteurin Märkische Allgemeine
Teil 5: Florian Harms, Chefredakteur von t-online.de
Teil 6: Georg Löwisch, taz-Chefredakteur
Teil 7: Stephan Weichert, Medienwissenschaftler
Teil 8: Julia Bönisch, Chefredakteurin von sz.de
Teil 9: Ellen Ehni, WDR-Chefredakteurin
Teil 10: Barbara Hans, Spiegel-Chefredakteurin
Teil 11: Sascha Borowski, Digitalleiter Augsburger Allgemeine
Teil 12: Richard Gutjahr, freier Journalist, Start-up-Gründer und -Berater
Teil 13: Benjamin Piel, Chefredakteur Mindener Tageblatt
Teil 14: Josef Zens, Deutsches GeoForschungsZentrum
Teil 15: Christian Lindner, Berater "für Medien und öffentliches Wirken"
Teil 16: Nicole Diekmann, ZDF-Hauptstadtjournalistin
Teil 17: Carsten Fiedler, Chefredakteur Kölner Stadt-Anzeiger
Teil 18: Stella Männer, freie Journalistin
Teil 19: Ingrid Brodnig, Journalistin und Buchautorin
Teil 20: Sophie Burkhardt, Funk-Programmgeschäftsführerin
Teil 21: Ronja von Wurmb-Seibel, Autorin, Filmemacherin, Journalistin
Teil 22: Tanja Krämer, Wissenschaftsjournalistin
Teil 23: Marianna Deinyan, freie Journalistin und Radiomoderatorin
Teil 24: Alexandra Borchardt, Journalistin und Dozentin
Teil 25: Stephan Anpalagan, Diplom-Theologe, Journalist, Unternehmensberater
Teil 26: Jamila (KI) und Jakob Vicari (Journalist)
Teil 27: Peter Turi: Verleger und Clubchef
Teil 28: Verena Lammert, Erfinderin von @maedelsabende
Teil 29: Anna Paarmann, Digital-Koordinatorin bei der Landeszeitung für die Lüneburger Heide
Teil 30: Wolfgang Blau, Reuters Institute for the Study of Journalism der Universitäte Oxford
Teil 31: Stephan Anpalagan, Diplom-Theologe, Journalist, Unternehmensberater
Teil 32: Simone Jost-Westendorf, Leiterin Journalismus Lab/Landesanstalt für Medien NRW
Teil 33: Sebastian Dalkowski, freier Journalist in Mönchengladbach
Teil 34: Justus von Daniels und Olaya Argüeso, Correctiv-Chefredaktion
Teil 35: Benjamin Piel, Mindener Tageblatt
Teil 36: Joachim Braun, Ostfriesen-Zeitung
Teil 37: Ellen Heinrichs, Bonn Institute
Teil 38: Stephan Weichert, Vocer
Teil 39: Io Görz, Chefredakteur*in InFranken.de
Teil 40: Daniel Drepper, Leiter der Recherchekooperation von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung
Teil 41: Björn Staschen, Programmdirektion NDR, Bereich Technologie und Transformation
Teil 42: Malte Herwig, Journalist, Buchautor, Podcast-Host
Teil 43: Sebastian Turner, Herausgeber Table.Media
Teil 44: Alexander von Streit, Vocer Institut für Digitale Resilienz
Teil 45: Ellen Heinrichs, Bonn Institute
Teil 46: Patrick Breitenbach, Blogger, Podcaster, Unternehmensberater
Teil 47: Caroline Lindekamp, Project Lead "noFake" beim Recherchezentrum Correctiv
Teil 48: Henriette Löwisch, Leiterin Deutsche Journalistenschule
Teil 49: Sebastian Esser, Medienmacher und Gründer
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