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"Das Kleine im Großen"
René Hofmann (Jahrgang 1974) und Ulrike Heidenreich (Jahrgang 1964) verantworten das Regionale bei der Süddeutschen. (Foto: Sebastian Arlt)
Sie sind Ressortleiter bei der Süddeutschen Zeitung, der größten und wichtigsten überregionalen Tageszeitung in Deutschland. Ulrike Heidenreich und René Hofmann sind bei der SZ aber nicht für das Große, sondern für das Lokale und Regionale verantwortlich. Sind sie damit die Vorreiter oder die Außenseiter in der Redaktion? Interview: Jan Freitag, Fotos: Sebastian Arlt
01.03.2023
„Wir erwirtschaften auch noch durch gedruckte Werbung Erlöse“, sagt Ulrike Heidenreich und betont im Interview, dass es bei der Süddeutschen Zeitung keineswegs so sei, dass der Mantel das Lokale querfinanzieren müsse. Vom Personal her ist das Lokale und Regionale sogar das größte Ressort der SZ.
journalist: Frau Heidenreich, Herr Hofmann – Sie leiten die Gemeinschaftsredaktion München, Region, Bayern der Süddeutschen Zeitung in einer Epoche voll globaler Krisen von Krieg übers Klima bis Inflation. Welche Auswirkungen haben die auf die Berichterstattung im Weltdorf München und Umgebung?
Ulrike Heidenreich: Wie früher eigentlich: Das Kleine ist im Großen zu finden. Erst dieses Herunterbrechen vom Globalen, Nationalen aufs Regionale macht Lokaljournalismus interessant.
Und wird durch digitale, überall verfügbare Informationen in Echtzeit noch interessanter?
René Hofmann: Dadurch können fast alle Weltlagen im Lokalen Thema werden. Bestes Beispiel ist das Erdbeben in der Türkei und Syrien. Fliegen auch bayerische Helfer und Helferinnen dorthin? Wie geht die türkische und syrische Community bei uns damit um? Was ist am Münchner Flughafen los? Wie beim Krieg in der Ukraine hat so eine Katastrophe sehr direkte Auswirkungen auf unser Einzugsgebiet.
Heidenreich: Mir fiele jetzt auch keine einzige gesellschaftliche, politische Großwetterlage mehr ohne Einfluss auf uns hier ein.
Hofmann: Bei der man sich zurücklehnen könnte und denken, lass das mal andere verhandeln.
Hat sich nur die Quantität heruntergebrochener Großwetterlagen verändert oder auch ihre Qualität, also die Art, sie lokal zu thematisieren?
Heidenreich: Inhaltlich hat sich in jedem Fall verändert, dass auch lokale Themen ferner Regionen überregional relevant werden, die man jetzt direkter ansprechen kann. Kürzlich zum Beispiel wurde ja über ein Dorf in Mecklenburg-Vorpommern, in dem auf 500 Einwohner 400 Geflüchtete kommen, berichtet. Da habe ich mich an eine Geschichte aus meiner Zeit als Bayern-Reporterin vor gut zehn Jahren aus der Nähe von Deggendorf erinnert, wo das Verhältnis noch deutlicher war. Es waren 900 Einwohner in dem Dorf und über 1.000 Geflüchtete.
Und haben Sie es für eine aktuelle Berichterstattung aufgegriffen?
Heidenreich: Die Geflüchteten sind inzwischen alle fortgezogen. Aber schon damals konnte man daran alle Probleme aufzeigen, die sich im politischen und sozialen Miteinander ergeben, von der praktischen Versorgungslage bis zur inneren Haltung. Das hat eine Wucht, mit der man menschlich, aber auch publizistisch viel in Bewegung setzen kann.
Hofmann: Ein anderes Beispiel, Geschichten abseits vom großen Radar weiterzuerzählen, ist unsere Kolumne „Typisch deutsch“, wo ein Kollege 2015 zunächst geflohene Journalisten darum gebeten hat, ihren Blick auf uns in der SZ darzustellen.
Heidenreich: Damals waren es vor allem syrische und nigerianische Kollegen, jetzt ist es auch eine ukrainische Kollegin, die eine ähnliche Kolumne hat.
Hofmann: Und das funktioniert schon deshalb wunderbar, weil es nicht nur Einblicke in deren Lebenswelten gewährt, sondern auch solche zurück auf uns, wie diese ehemaligen Neuankömmlinge Phänomene vom Oktoberfest bis zum Gassigehen wahrnehmen.
Heidenreich: Wenn der syrische Kollege eine Stilkritik über den Verzehr von Schweinebraten mit Knödeln schreibt, ist das ja nicht nur informativ und unterhaltsam, sondern manchmal auch auf lustige Art entlarvend.
Hofmann: Das hilft besonders in den Landkreisen sehr dabei, zu zeigen, dass diese Menschen nicht nur gekommen, sondern geblieben sind.
Und wie findet das die lokale Kundschaft ländlicher Verbreitungsgebiete, die womöglich in ihrer Welt ein bisschen verkapselter und damit konservativer ist?
Hofmann: Weil SZ-Leserinnen und -Leser generell eine gewisse Offenheit mitbringen, ist die Resonanz grundsätzlich positiv, aber klar gibt es auch – nennen wir es mal: Verwunderung.
Heidenreich: Die meisten unserer lokalen Leserinnen und Leser verstehen das ironische Augenzwinkern solcher Geschichten schon. Sie wissen ja, warum sie die SZ abonniert haben und was sie mit ihr bekommen.
Und verspüren Sie beim Rest eine Art Erziehungsauftrag, ihm die Weite der Welt jenseits von Ober- und Niederbayern zu erklären?
Heidenreich: Erziehungsauftrag, oh je. Wer will als Erwachsener schon erzogen werden …
Hofmann: Damit muss man sehr aufpassen. Wir haben während der Pandemie gemerkt, wie fein die Antennen vieler Leserinnen und Leser sind, sobald wir versuchen, sie in irgendeine Richtung zu informieren, die als gewünscht empfunden werden könnte.
Heidenreich: Wir bilden nicht, wir bilden ab.
"Übrigens finanziert sich die SZ seit gut einem Jahr vollständig über die Einnahmen aus dem Verkauf in Print und Online, also durch den Vertrieb und nicht durch Anzeigen. Das gab es noch nie." Ulrike Heidenreich
Auch, um es sich mit seiner zahlenden Kundschaft in Zeiten sinkender Abo-Erlöse und Kiosk-Verkäufe nicht zu verscherzen?
Heidenreich: Nicht, was die inhaltliche Berichterstattung betrifft. Wo wir auf sie zugehen, ist allenfalls die Art, wie wir mit unseren Leserinnen und Lesern in Dialog treten. Das betrifft aber nicht nur uns, sondern das ganze Haus. Ich war vorher in der Politik-Redaktion, René lange Sportreporter – seither sind wir hier wie dort verantwortungsbewusster beim Austausch mit unserem Publikum geworden.
Was sich worin zeigt?
Heidenreich: Dass wir oder die Social-Media-Abteilung Zuschriften oder Kommentare noch gewissenhafter und intensiver beantworten als früher.
Hofmann: Und dabei erklären, warum wir diesen oder jenen Zugang so und nicht anders gewählt haben. Da geht es nicht um Inhaltskorrektur, sondern um Transparenz. Aber das wichtigste bleibt die kritische Auseinandersetzung mit der Sache an sich, also den Berichtsgegenständen. Deshalb ist das Feedback der Leserinnen und Leser auch eher positiv als negativ. Mit affirmativem Journalismus gewinnen Sie im Lokalen heutzutage nix.
Aber mit anteilnehmendem, interaktivem Journalismus. Geht der bei Ihnen auch Richtung Twitter-Charts oder Leserinnen-Kolumnen, um die Kundschaft redaktionell einzubinden?
Heidenreich: Wir arbeiten natürlich mit Dashboards, erkennen, wenn Geschichten von sehr großem Interesse sind, und legen dann vielleicht noch ein paar Geschichten und Longreads zu dem Thema nach. Aber am Produktionsprozess beteiligen wir die Leute nicht. Schließlich haben wir die gleichen journalistischen Grundsätze und Qualitätsanforderungen wie das gesamte Haus.
Zugleich wünschen sich die Menschen vom Lokaljournalismus Nähe und Geborgenheit. Fällt das einer überregionalen Zeitung wie der Süddeutschen, deren Fokus anders als bei Regionalblättern weit über den Tellerrand der Landkreise hinausgeht, schwerer?
Heidenreich: Wir machen da idealerweise gar keinen Unterschied zwischen SZ im Lokalen, Regionalen, Nationalen und Globalen. Alle Standbeine sind absolut gleichwertig und das Lokale und Regionale ist schon allein deshalb nicht weniger bedeutend, weil es vom Personal her das größte Ressort bei der SZ ist. Diese Gleichwertigkeit findet sich auch im Redaktionsstatut, dem Wertepapier des Redaktionsausschusses, dem publizistischen Kompass der Chefredaktion wieder. Die journalistischen Qualitätsansprüche sind – auch im Digitalen – identisch.
Erhebt die Süddeutsche, ob ihre Leser:innen sie eher wegen oder trotz der Lokalberichterstattung kaufen?
Heidenreich: Natürlich [blättert in Papieren]. Laut Marktforschungen ist der MRB-Teil, also die Ressorts München, Region, Bayern, die wir leiten, neben dem Politik-Teil der beliebteste der SZ. Als einzige überregionale Zeitung in Deutschland mit relevanter Regionalberichterstattung haben wir da ein echtes Alleinstellungsmerkmal.
Hofmann: Das allerdings auch Herausforderungen mit sich bringt, denn wir haben gleich von drei Seiten Konkurrenz: Auf Bundesebene von FAZ, taz und Welt, aber auch den Wochenmagazinen Stern, Spiegel, Die Zeit. Auf Landesebene vor allem vom Bayerischen Rundfunk, der als einziges Medium Bayerns ein – wenngleich deutlich – größeres Korrespondentennetz unterhält als wir. Und im Kernverbreitungsgebiet vor allem vom Münchner Merkur, der im ländlichen Raum stark ist, und den Boulevardzeitungen Abendzeitung, tz und Bild. In der digitalen Welt ist es umso sportlicher, aber auch spannend, unserem Versprechen, mit lokalem Herz in die Welt hinauszublicken, jeden Tag aufs Neue gerecht zu werden.
Und nach welcher Hierarchie-, womöglich gar Kommandostruktur agieren die verschiedenen Landes-, Lokal- und Regionalredaktionen da?
Heidenreich: Wir haben das gesamte Groß-Ressort in den vergangenen zwei Jahren komplett umstrukturiert, inklusive unserer neun Lokalredaktionen, um es angesichts von Etatkürzungen, Personalabbau und den Herausforderungen beim digitalen Wandel neu aufzustellen. Unsere Redakteurinnen und Redakteure müssen ja inzwischen Aufgaben stemmen, die noch vor wenigen Jahren gar nicht erfunden waren. Die digitale Aufbereitung ist zusätzliche Arbeit. Andererseits müssen sie sich nun weniger an der Konkurrenz wie etwa dem Münchner Merkur messen, der auf Kreisebene einfach breiter aufgestellt ist.
Mit welcher Folge?
Heidenreich: Dass wir nicht mehr auf jeder Gemeinderatssitzung präsent sein und die Sperrung jeder Sackgasse redaktionell begleiten müssen. Unsere Arbeit ist da eher themen- als ereignisorientiert.
Hofmann: Die Struktur ist dreigeteilt: Die Bayern-Redaktion hat den Freistaat und die Landespolitik im Blick, die München-Redaktion kümmert sich um das Geschehen in der Stadt, und in der Region um diese herum sind wir in den Landkreisen Dachau, Fürstenfeldbruck, Ebersberg, Starnberg, Bad Tölz-Wolfratshausen und Freising plus Erding mit Redaktionen präsent. Hab ich jetzt eine vergessen?
Heidenreich: Bloß nicht!
Hofmann: Ja, den Landkreis München, natürlich. Alle Landkreisredaktionen sind trotz verschieden hoher Auflagen eigenständige Einheiten unterm MRB-Dach, also nicht in einen Pool organisiert. Wer draußen ist, hat das eigene Berichtsgebiet besser im Blick als wir. Im digitalen Zeitalter ist es jedoch wichtig, dass Storys, die in Haar im Landkreis München spielen, so gedacht werden, dass sie theoretisch auch in Hamburg Interesse finden. Mein Lieblingsbeispiel ist da immer der Baumarkt-Kater aus Starnberg.
Alkohol oder Tier?
Hofmann: Ein Katzenmännchen, das sich jeden Tag im Baumarkt rumtreibt und abends wieder heimgeht. Früher hätte die Geschichte nur Leute in Starnberg erreicht, jetzt hatte sie inzwischen mehr als eine Million Zugriffe auf unserer Homepage. Das mag eine kuriose Schmonzette sein, aber ähnlich wie die erste bayerische Gemeinde mit gegenderten Ortsschildern sorgt sie überregional für Interesse. Wir können zwar nicht mehr alles 360 Grad covern, müssen uns aber auf das konzentrieren, was Interesse findet. Und dafür geben wir den Kolleginnen und Kollegen vor Ort alle Freiheit, die sie brauchen.
Also auch die, bei Interesse doch jede Gemeinderatssitzung oder Sackgassensperrung zu besuchen?
Hofmann: Da geben wir keine Richtlinien vor. Dafür sind die Landkreise viel zu unterschiedlich und die Kolleginnen und Kollegen vor Ort erfahren genug, um das selbst abzuwägen. Sie müssen sich aber darüber im Klaren sein, dass man sich mit begrenzter Kapazität bei der Entscheidung für ein Thema im Zweifel gegen ein anderes entscheidet.
Heidenreich: Wobei die automatische Präsenzpflicht schon deshalb nicht mehr nötig ist, weil wir die Print-Umfänge bei unserer Strukturreform reduziert haben. Das aus der Printlogik entstandene Konstrukt stand dem digitalen Wandel eher im Weg, als dass es ihn beförderte. Es brachte unsere Leute bei der Arbeitsbelastung an den Anschlag und entsprach nicht ihrem eigenen Anspruch. Durch starre Seiten-Vorgaben war die Redaktion gezwungen, Platz zu füllen, anstatt nach journalistischer Relevanz Inhalte auszuwählen. Durch diesen Zwang stand da mitunter nicht immer wirklich relevanter Stoff.
Hofmann: Na ja, nennen wir es mal „nicht so spannender“.
Heidenreich: Wir haben vor unserer Reform eine Lesewertstudie gestartet und herausgefunden, dass solche Meldungen manchmal, nun ja, äußerst niedrige Einschaltquoten haben. Für diese Resonanz nicht mehr ungeachtet journalistischer Relevanz Platz füllen zu müssen, ist für die Leute vor Ort eine Riesenentlastung.
Und wie viel Personal wurde dafür nun abgebaut?
Heidenreich: Das lässt sich nicht genau beziffern. Der Personalabbau betraf zum Beispiel Assistentinnen, die Tag für Tag Serviceseiten gefüllt haben – also ein Angebot, das sich im digitalen Zeitalter ebenfalls überholt hat. Für alle, die so etwas dennoch gern auf Papier möchten, bieten wir es halt nur noch ein-, zweimal die Woche an.
Hofmann: Der personelle Abbau im Lokalen war anteilig zum Gesamthaus.
Heidenreich: Digital haben wir sogar Personal aufgebaut, weil die Nachfrage und Notwendigkeit massiv gewachsen ist.
Unterliegt Ihr Lokalteil eigentlich geringerem Selbstfinanzierungs-, also Rentabilitätsdruck als Konkurrenzblätter ohne derart lukrativen Mantel im Rücken?
Heidenreich: Die Frage klingt jetzt, als müsse uns der Mantel querfinanzieren. Wir erwirtschaften Erlöse dank unserer hohen Auflage im Kernverbreitungsbereich sogar auch noch durch gedruckte Werbung. Da kommt einiges rein. Übrigens finanziert sich die SZ seit gut einem Jahr vollständig über die Einnahmen aus dem Verkauf in Print und Online, also durch den Vertrieb und nicht durch Anzeigen. Das gab es noch nie.
Hofmann: In einer prosperierenden Region wie München drängen außerdem gerade zur Weihnachtszeit erfreulich viele Unternehmen ins Werbegeschäft. Manchmal wird es dann mühsam, um die alle auf den Printseiten herum zu layouten.
Bringen solche Luxusprobleme auch mit sich, dass Ihre Lokalausgaben nicht den einen großen Werbepartner vieler Landkreise haben, über den sie besser nicht allzu kritisch berichten, weil sein Verlust Riesenlöcher in den Etat reißen würde?
Hofmann: Natürlich gibt es große und wichtige Anzeigenkunden, aber um die kümmert sich die Anzeigenabteilung. Für unser Standing im Haus ist es sicher gut, dass das, was wir journalistisch bieten, auch einen ökonomischen Wert hat.
Heidenreich: Das ist die eine Seite. Um immer auf Augenhöhe zu sein, haben und fördern wir als Ressortleitung auch den redaktionsübergreifenden Personal-Austausch. Viele aus der Lokalredaktion wechseln in Mantel-Ressorts, umgekehrt geschieht dies auch, zuletzt zum Beispiel aus der Politik in den Bayern-Teil.
Das klingt jetzt, mit Verlaub, ein bisschen zu harmonisch für eine Qualitätszeitung, in dem einige Ressorts bundesweit höchstes Ansehen genießen, die – wie zuletzt im Falle Nico Fried oder Frederik Obermaier – entsprechend Personal an Konkurrenten verloren haben.
Hofmann und Heidenreich: Bundesweites Ansehen genießt übrigens auch der MRB-Teil, denn wir bestücken täglich eine Seite auch für die Fernausgabe in Print. Und auf der Homepage stehen unsere Texte sowieso.
Gibt es hier wirklich keine Form von Mantel-Dünkel, die wahrnehmbarere, preiswürdigere, weltbedeutendere Arbeit zu leisten als das tägliche Brot im Lokalen?
Heidenreich: Um sich vom Gegenteil zu überzeugen, müssten Sie mal morgens an der Konferenz aller Ressorts teilnehmen; da herrscht gegenseitige Wertschätzung, also auch für die kreative und gut recherchierte Arbeit der Lokalredaktionen.
Hofmann: Und als Sportredakteur, der freiwillig ins Lokale geht, bin ich doch das beste Beispiel, dass dieser Dünkel nicht existiert. Wir beide haben vorher die Wochenendausgabe im Mantel koordiniert.
Heidenreich: Ich habe zu viele Stationen in verschiedenen Medienhäusern in verschiedenen Städten hinter mir, um Vorbehalte zu haben. Umso mehr achten wir drauf, den Stempel des Seppltums lokaler Geschichten gar nicht erst zuzulassen. Außerdem versuchen wir – da sind wir als Lokalredaktion sogar echte Vorreiter – möglichst viele Frauen aus der Teilzeitfalle zu holen.
Hofmann: Dennoch darf man diesen Wechsel ins Lokale durchaus als Signal verstehen, dass das Pendel in beide Richtungen und wieder zurückschwingen darf. Aber das kann man nicht verordnen, sondern nur fördern – etwa, indem wir uns eine Kollegin mit der Seite Drei auf einer doppelten Stelle teilen. Die Idee kam übrigens von der Chefredaktion und beugt Stockwerksdenken vor.
Also Großkopferte, die sich für was Besseres halten?
Heidenreich: Die Silberrücken am Konferenztisch sind definitiv seltener geworden in den letzten 15, 20 Jahren, und das ist auch gut so.
Hofmann: Ein Prozess, den das Zusammenwachsen der Print- und Onlineredaktion beschleunigt hat. Das war ein echter – ohne dass es sozialistisch klingen soll – Gleichmacher.
"Im Lokalen wurde zuletzt jedenfalls deutlich mehr ausprobiert als im Überregionalen, da geht die Evolution weiter." René Hofmann
Dennoch ist das Arbeiten im Lokalen mit einer hohen Taktung wie in der Politik doch ein anderes als, sagen wir: im Feuilleton oder Wissen …
Hofmann: Ich bin 2000 von der Journalistenschule als Sportredakteur zur Süddeutschen Zeitung gekommen, und einmal im Jahr gab es die Redaktionsvollversammlung, wo immer die Klage geführt wurde, dass die Arbeitsbelastung im Lokalen so hoch sei. Das hab ich mir ungefähr zehn Jahre lang angehört und meinte dann, im Sport ist die Arbeitsbelastung fast jeden Tag oft bis tief in den Abend genauso hoch.
Zuzüglich Wochenenden.
Hofmann: Jede Redaktion hat halt ihre Herausforderungen. Denken Sie an die Ministerpräsidenten-Konferenzen der Corona-Krise, wo das Politikressort bis spätnachts am Platz war. Weil wir jedoch gemerkt haben, dass diese Arbeitsbedingungen unsere eifrigsten Leute ausbrennen, haben wir in den letzten zwei Jahren gezielt darauf hingewirkt, sie – etwa durch Teilzeitmodelle und Freizeitausgleich – beherrschbar zu machen.
Mithilfe der ominösen Work-Life-Balance?
Hofmann: Ja, denn im Wettbewerb um die besten Köpfe müssen wir ihre Arbeit konkurrenzfähig organisieren. Dazu gehört allerdings auch, dass unsere Autorinnen und Autoren sich für ihre Geschichten die Zeit nehmen, die sie brauchen; nur dann sorgen sie auch im Digitalen für Zuspruch. Seit der thematische Vollversorgungsanspruch im Lokalen Geschichte ist, garantieren wir lieber, große Geschichten groß, wichtige Geschichten schnell und schöne Geschichten schön zu erzählen. Die Leute erwarten von uns gutes Storytelling.
Alle Leute oder nur jüngere, während ältere noch etwas mehr am chronistenpflichtigen Lokaljournalismus früherer Jahre hängen?
Hofmann: Wenn wir, was unser Ziel ist, neue Leserschichten erschließen wollen, müssen wir diesen Weg gehen. Mit der Stadt hat sich ja auch ihr Umland radikal gewandelt. Weil Jahr für Jahr Zehntausende Menschen nach München ziehen, nimmt die durchschnittliche Verwurzelung ab. Dass jemand 30, 40, 50 Jahre in Feldkirchen wohnt, kommt inzwischen seltener vor, und dieser Fluktuation müssen wir gerecht werden.
Heidenreich: Weil sich die Lebens- und Arbeitswelten gewandelt haben, bilden wir sie seit langem schon urbaner ab, wozu auch gehört, das, was wir können, digital und analog gleichwertig zu verbreiten. Dafür wollen wir im Regionalbereich auch eine Investigativabteilung aufbauen, denn damit können wir dank unseres Ansehens ebenso punkten wie zum Beispiel in den Bereichen Gastronomie und Kulturberichterstattung.
Hofmann: Viele der Münchnerinnen und Münchner sind nicht mehr hier geboren, weniger als die Hälfte ist inzwischen in keiner kirchlichen Konfession mehr organisiert. Auf so was muss man journalistisch eingehen.
Wie sehr sind Sie beide denn in München verwurzelt?
Heidenreich: Ich bin in Bayern geboren, habe 1985 bei der Neuen Passauer Presse volontiert und arbeite seit 1996 bei der SZ, bin zwischendurch aber von Italien über Norddeutschland bis Ost-Berlin gut rumgekommen und spreche nicht mal Dialekt, wie Sie hören. Nach meiner Zeit im Politikressort und als Wochenendkoordinatorin wollte ich daher eigentlich auch gar nicht mehr unbedingt zurück ins Lokale, fühle mich hier jetzt aber sehr wohl.
Hofmann: Als Schüler habe ich bereits im Sublokalen der Würzburger Main-Post gearbeitet und kam 1995 an die Journalistenschule nach München, bin hier klassisch hängengeblieben, dann aber durch Themen wie Formel 1 oder Olympische Spiele ebenfalls viel rumgekommen.
Wie wichtig ist es aus Ihrer Sicht als Regional-Chefs, dass Ihre Autorinnen und Autoren im eigenen Arbeitsumfeld verwurzelt sind?
Heidenreich: Man sollte die Leute schon kennen und auch ein bisschen mögen; das gilt ja in gewisser Weise auch umgekehrt. In München sind René und ich vermutlich bekannter als die Mantel-Chefredaktion und müssen uns entsprechend öfter mal sehen lassen. Deshalb war ich gestern auf der Gedächtnisveranstaltung mit Frank-Walter Steinmeier für die Weiße Rose und René beim Jahresempfang der Grünen.
Könnte ein hervorragender Journalist aus Berlin oder Saarbrücken ohne Vorkenntnisse und Wurzeln über und aus Erding berichten?
Heidenreich: Klar, sofern er die Leute verstehen will und es auch kann. Buchstäblich! Denn obwohl ich selbst aus Bayern komme, war ich schon mal in Außenredaktionen und habe den harten Dialekt der Leute dort kaum verstanden (lacht).
Hofmann: Auch deshalb schickt die SZ all ihre Volontäre zum Lackmustest in die Landkreise, da gibt es dann beiderseits wundervolle Erfahrungen zu machen. Am Ende hängt es zwar immer vom Einzelnen ab, aber der Schlüssel zum gegenseitigen Verständnis ist Commitment mit der Region, den Menschen, ihren Themen.
Und wer sind dabei als Lokalteil Ihre Hauptkonkurrenten – kleine Kreiszeitungen, größere Regionalblätter, die Bild?
Heidenreich: Wir beobachten alles. Wenn wir zur Arbeit kommen, hat der MRB-Desk schon die erste Auswertung bayerischer Medien erstellt – aber nicht nur, um zu wissen, was die Konkurrenz macht, sondern um nachfolgende Berichterstattungen oder eventuell Kampagnen zu erspüren.
Hofmann: Wobei zur Konkurrenz nicht nur klassische Medien, sondern auch digitale zählen wie muenchen.de oder Instagram-Accounts, die besonders im Servicebereich interessante Sachen machen. Weil die wirtschaftliche Ausrichtung bei der Geschäftsführung liegt, sind wir dabei aber stets inhaltlich getrieben, also aus journalistischer Neugier. Unser Selbstbewusstsein ist groß genug, um zu sagen, dann setzen wir halt eigene Geschichten statt andere weiterzuspinnen. Schon weil es nicht viele Querleser gibt, die bei Bedarf eben eine andere Zeitung aus den stummen Verkäufern ziehen.
In denen Sie aber auch gar nicht immer liegen, oder? Am Bahnhof Berg am Laim jedenfalls gab es kein SZ-Fach …
Hofmann: Ausverkauft! (lacht) Wie immer!
Heidenreich: Wir überlegen noch, wie wir damit umgehen, dass die Zeit der so genannten stummen Verkäufer zu Ende geht. Auch die Zeit der Abendverkäufer, die abends durch die Bars und Restaurants gingen und denen Charles Schumann gleich mal fünf Exemplare abgekauft hat, ist vorbei. Denn das hat sich leider alles nicht mehr rentiert.
Hofmann: Die Herausforderung unserer Marke an diesem Ort besteht deshalb darin, sie trotz Digitalisierung sichtbar im Ortsbild zu halten. Früher funktionierte das über Leser mit Zeitung in der Tram oder Studierenden-Abos. Heute werden wir zwar von mehr Menschen als früher gelesen, aber auf dem Smartphone bleibt es halt unauffällig.
"Mit affirmativem Journalismus gewinnen Sie im Lokalen heutzutage nix." René Hofmann
Und wie lautet der Ausweg?
Hofmann: Fahrgastfernsehen zum Beispiel in der Trambahn, in Bussen oder der S-Bahn, wo die Süddeutsche Zeitung – wie auch der BR – Nachrichten präsentiert. Oder auch Kulturveranstaltungen, mit denen wir uns im Gespräch halten.
Trauern Sie der Zeit sichtbarer Zeitungen und Abendverkäufer nach?
Heidenreich: Ach, wer wie ich mit Print groß geworden ist, hat da doch ständig nostalgische Gefühle.
Hofmann: Aber wenn du abends spät auf einem Termin warst und morgens früh siehst, wie viele Menschen den Text gelesen haben, oder wenn bei Instagram zu deiner Glosse über Wiesen-Plakate die Herzchen nur so aufploppen – das sind neue Freuden, die den Verlust der alten mindestens kompensieren.
Aber auch die Gefahr des Clickbaitings mit sich bringen, also Resonanz um der Resonanz willen…
Heidenreich: Das ist wie überall Teil einer permanenten Diskussion im Haus. Unser Grundsatz lautet da: Wir orientieren uns an Zahlen, machen uns aber nicht zu ihren Sklaven.
Hofmann: Wir alle hier, mich eingeschlossen, freuen uns doch, wenn unsere Inhalte goutiert werden. Aber wir alle haben auch einen inneren Kompass, Qualität von Quantität zu unterscheiden. Wichtig ist, dass das Bedeutsame auf jedem SZ-Kanal ausgespielt wird, wofür wir uns – auch wenn Ihnen das vielleicht wieder zu schön klingt, um wahr zu sein – dann entsprechend gemeinsam verantwortlich fühlen.
Und wofür fühlen sich alle hier in, sagen wir: zehn Jahren gemeinsam verantwortlich – die letzte große regionale Tageszeitung im Konkurrenzkampf mit ein paar Redaktionsgemeinschaften und Social Media?
Heidenreich: Untersuchungen in dieser Richtung führen regelmäßig zum Ergebnis, dass große Häuser wie die Süddeutsche bleiben, kleinere eher nicht. Aber um zu wissen, woran wir sind, wollen wir nun gemeinsam mit der Chefredaktion eine Perspektive für München, Region, Bayern 2030 erarbeiten. Denn am Ende ist alles davon abhängig. Auch, wohin jetzt schon Personal und Etats verschoben werden.
Hofmann: Im Lokalen wurde zuletzt jedenfalls deutlich mehr ausprobiert als im Überregionalen, da geht die Evolution weiter. Aber im Moment steht unsere Zeitung sehr solide auf ihren zwei Standbeinen.
Und bleiben Sie mittelfristig beim lokalen Standbein?
Heidenreich: Bislang habe ich im Berufsleben in regelmäßigen Abständen mein Themengebiet und die Ressorts gewechselt und empfehle das auch anderen, weil es einem selbst und dem jeweiligen Medium guttut. Weil mein Job hier als Ressortleiterin aber mit unglaublich viel Personal verbunden ist, etwa einem Viertel der SZ-Belegschaft, und man alle gut kennen muss, um eine sinnvolle Personalpolitik mit entsprechendem journalistischen Output zu leisten, könnte es für mich hier aber auch ein bisschen länger dauern.
Hofmann: Als ich hier angefangen habe, hatte ich das Lokale kaum auf dem Schirm. Aber in den vier Jahren habe ich darin und davon so viel gelernt, dass ich die ganze Welt tagtäglich im Kleinen spannend genug finde, um damit weiterzumachen. Der Rennfahrer Gerhard Berger meinte mal, in der Formel 1 erlebe man in fünf Jahren so viel wie andere im Leben. Dieses Gefühl habe ich hier manchmal auch.
Jan Freitag ist freier Journalist in Hamburg. Sebastian Arlt arbeitet als Fotograf in München.