"Wir müssen alle Neo sein"

Spiegel-Chef Kurbjuweit: "Wir bemühen uns so stark wie nie um junge Nutzerinnen und Nutzer." (Foto: Julia Sang Nguyen)

Spiegel-Chefredakteur Dirk Kurbjuweit spricht im journalist-Interview über schwierige wirtschaftliche Rahmenbedingungen und gute Stimmung in der Redaktion. Er lobt die Arbeit seines Vorgängers und spricht über das wichtigste Verlagsprojekt: "Neo". Interview: Jan Freitag, Foto: Julia Sang Nguyen

30.08.2024

Spiegel.de feiert in diesem Jahr seinen 30. Geburtstag. Die traditionelle Hauptstadt-Party hat Dirk Kurbjuweit allerdings erstmals abgesagt. Nicht aus Kostengründen, sondern weil er findet, „dass ein solches Fest eine Nähe zwischen Politik und Medien suggeriert, die ich für unpassend halte“.

journalist: Herr Kurbjuweit, wie ist die Stimmung hier im Haus an der Hamburger Ericusspitze, so kurz vorm 30. Geburtstag von Spiegel.de?

Dirk Kurbjuweit: Sehr gut, danke der Nachfrage. Wir sind stolz, auf dem Gebiet digitaler Medien Pioniere gewesen zu sein. Auf einer Planungskonferenz haben wir kürzlich mit Kolleginnen und Kollegen der ersten Jahre geredet, und da wurde uns noch einmal bewusst, wie aus einem bescheidenen Anfang etwas Großes wurde. Es war eine wunderbare Entscheidung, frühzeitig in diesen Bereich zu investieren. Wir sehen dem Geburtstag mit großer Freude und bester Stimmung entgegen.

Gilt das auch für die Zukunft insgesamt?

Für mich ist der wichtigste Indikator guter Stimmung, dass ich hier jeden Morgen eine leistungsfreudige, leistungswillige, leistungsstarke Redaktion vorfinde. Viele in der Branche stöhnen über Redaktionskonferenzen, und auch für mich sind es nicht wenige. Aber ich gehe da wirklich gerne hin, weil ich in unseren Diskussionen den Willen erlebe, Leserinnen und Lesern täglich eine Menge zu bieten. Gleichwohl habe ich davon gehört, dass auch bei uns der eine oder die andere mal schlechte Laune hat.

Forschen Sie Leistungsfreude, -willen und -stärke bewusst nach, um bei Bedarf nachzujustieren, falls eins davon abnimmt?

Ich lese, höre und betrachte unsere Produkte zwischendurch den ganzen Tag über, und sollte etwas missraten sein, greife ich ein. Aber grundsätzlich habe ich selten das Gefühl, dieses Haus bräuchte einen Motivator an der Spitze. Unsere Leute sind in der Regel hochmotiviert.

Dennoch haben Sie dieses Jahr zum ersten Mal die große Hauptstadtparty gestrichen …

Aber nicht aus Kosten- oder Stimmungsgründen, sondern weil ich finde, dass ein solches Fest eine Nähe zwischen Politik und Medien suggeriert, die ich für unpassend halte. Das Kapital unserer Branche ist Vertrauen, und die Basis von Vertrauen sind Unabhängigkeit und Distanz zu den Mächtigen, über die wir berichten.

„Natürlich würde ich gern bessere Zahlen abliefern. Aber es gibt kein Sparprogramm, wir haben in die Redaktion investiert.“

Dabei wäre die Streichung auch finanziell nachvollziehbar gewesen. Die Spiegel-Auflage ist seit 2021 um acht Prozent gesunken, der Umsatz im laufenden Quartal gar zweistellig, während sich der Gewinn seit 2021 fast halbiert hat. Selbst Onlinezugriffe sind rückläufig. Liegt das unter Ihren Erwartungen?

Die Erwartungen sind im Vergleich zu früher gedämpft, aber wir befinden uns noch mitten im Jahr und konnten den Rückgang bei den Einzelverkäufen zuletzt deutlich abbremsen. Doch natürlich arbeiten wir in einer schwierigen Zeit. Die Weltlage ist unsicher, die Konjunktur in Deutschland springt nicht an, das spüren auch die Medien. Und natürlich würde ich gern bessere Zahlen abliefern. Aber es gibt kein Sparprogramm, sondern wir haben in diesem Jahr weiter in die Redaktion
investiert.

Zum Beispiel?

Wir haben das Meinungs- und das News-Team zu Ressorts ausgebaut und mit neuen Leuten verstärkt. Wir haben zudem Redakteurinnen und Redakteure im Bereich Nutzwert eingestellt.

Sind für Sie als Spiegel-Chef wirtschaftliche Zahlen der wichtigste Parameter publizistischen Erfolgs oder Meinungsführerschaft, Debattenhoheit, publizistische Relevanz?

Als Chefredakteur liegt mein Augenmerk auf dem Publizistischen und dem Wirtschaftlichen zugleich. Als Journalist freue ich mich besonders darüber, dass wir gesellschaftspolitische Debatten oder Großlagen begleiten oder Missstände enthüllen. Und da stehen wir sehr, sehr gut da.

Stellt die Geschäftsführung Forderungen an die Redaktion, journalistisch alles Denkbare dazu beizutragen, dass sich dies auch in Zahlen ausdrückt?

Nein, solche Sätze habe ich in meiner Zeit in der Chefredaktion nie gehört. Es gibt weder Einflussnahme noch Druck.

Als ich 2022 mit ihrem Vorgänger Steffen Klusmann hier zum Interview saß, wiesen alle Parameter nach oben, jetzt flacht es nach unten ab. Hat sich über die politische Weltlage hinaus auch im Haus strukturell etwas zum Negativen geändert?

Das sehe ich nicht. Steffen Klusmann war Chefredakteur in einer Ausnahmezeit. Während der Pandemie und zu Beginn von Wladimir Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine war das Interesse der Bürgerinnen und Bürger an Nachrichten und Hintergründen besonders groß. Gleichwohl waren die guten Zahlen auch ein Verdienst von Klusmann, der in seiner Zeit vieles richtig gemacht hat.

„Als Chefredakteur liegt mein Augenmerk auf dem Publizistischen und dem Wirtschaftlichen zugleich.“

Was haben Sie mit ihrer Amtsübernahme geändert?

In vielen Bereichen sind wir den Weg weitergegangen, den er eingeschlagen hat. Zum Beispiel setzen wir das Projekt digital first konsequent um. Wir sind da im laufenden Jahr weitergekommen und werden bis Oktober alle Ressorts so umstellen, dass jeder Artikel zuerst für unsere Website produziert wird. Was wir weiterhin vorangetrieben haben, sind die oben genannten Investitionen in den Bereichen Meinung, Nachrichtenkompetenz und Nutzwert. Unser wichtigstes Projekt aber heißt „Neo“, ein hausinternes Programm, das den Blick stärker auf jüngere Zielgruppen fokussieren soll.

Sie müssen Ihr Publikum verjüngen.

Wir bemühen uns so stark wie nie um junge Nutzerinnen und Nutzer und stellen das gesamte Haus auf deren Mediennutzungsverhalten ein. Außerdem haben wir Digital und Print zwar schon vor Jahren fusioniert, strukturell jedoch immer noch ein wenig nebeneinanderher gearbeitet: mit verschiedenen Blattmachern, ohne die optischen Ressorts wirklich mit einzubinden. Deshalb gibt es jetzt das Editorial Desk, das die Inhalte für Heft, Seite, Video, Audio, Social Media gemeinsam steuert, so dass wir mit der Verzahnung weiterkommen. Denn hier und dort spüren wir immer noch unsere unterschiedlichen Migrationshintergründe.

Ach?

Meiner ist altersgemäß Print, in diesem Bereich habe ich über dreißig Jahre gearbeitet, bei anderen ist es online. Aber inzwischen schlägt mein Herz für beides, für Online- und Printjournalismus. Diese Haltung verbreitet sich mehr und mehr in unserem Haus, da sind wir weiter als die meisten Mitbewerber.

Ist es für sie als Mann mit gedrucktem Migrationshintergrund da eine gute oder auch etwas traurige Nachricht, dass die Online-Umsätze 2023 erstmals höher als die des gedruckten Magazins waren?

Dies ist eine sehr gute Nachricht, weil sie anzeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Natürlich glauben wir weiterhin an Print und wollen Woche für Woche das bestmögliche Heft vorlegen. Aber die Zukunft liegt im digitalen Bereich.

„In vielen Bereichen sind wir den Weg weitergegangen, den Steffen Klusmann eingeschlagen hat.“

Im 1. Quartal lagen die Kioskverkäufe erstmals nur im fünfstelligen Bereich. Hat das Titelblatt – einst ein bedeutender Seismograf deutscher Befindlichkeiten – ausgedient?

Nein, unsere Verkäufe und auch unser Image hängen nach wie vor stark vom Titel ab. Auch gedruckt bleibt seine Bedeutung daher wichtig. Wir leiden darunter, dass die Zahl der Fachhändler sinkt. Und viele junge Menschen kommen nicht mehr auf die Idee, Geld für Druckerzeugnisse auszugeben, weil sie in einer digitalen Welt aufgewachsen sind. Dafür gewinnt das Cover neue Relevanz in sozialen Medien, wo es viele Nutzerinnen und Nutzer wahrnehmen wie ein wöchentliches Passbild, das unser Image auch in der digitalen Welt prägt.

Haben gesunkene Print-Absätze und damit einhergehend weniger Papier- und Energieverbrauch messbaren Einfluss auf die Umweltbilanz des Unternehmens?

Das schon. Nachhaltigkeit ist uns in allen Abläufen wichtig. Wir sitzen hier in einem der ersten Green Buildings Hamburgs, das komplett mit Ökostrom versorgt wird. Papier hat von der Herstellung über den Druck bis zur Auslieferung natürlich eine schlechtere Umweltbilanz als das Digitale. Aber auch analog bemühen wir uns, den Fußabdruck klein zu halten – etwa mit einer Recyclingquote von aktuell 59 Prozent. Dennoch wird, sofern die Energiewende gelingt, auch die Umstellung von Print auf Online dazu beitragen.

Geht der Versuch Ihres material- und mobilitätsintensiven Verlags, ressourcen- und klimaschonend, also nachhaltig zu sein, so weit, dass Sie im Zweifel zum Zoom-Call raten, Flüge vermeiden, Homeoffice fördern?

Dass die Leute zuhause arbeiten können und damit Ressourcen sparen, gibt schon unsere relativ großzügige Betriebsvereinbarung vor. Insgesamt halte ich gelegentliche Präsenz im Büro für wichtig und Außenrecherchen für unerlässlich. Wir müssen draußen sein und Menschen dort treffen, wo die Dinge passieren. Da gibt es bei uns keinerlei Beschränkung. Wer zoomen will – meinetwegen. Aber wir verhindern aus Nachhaltigkeitserwägungen keine Dienstreise.

Sie haben den digitalen Nachhaltigkeitsvorteil eben auch daran geknüpft, dass die Energiewende gelingt. Wollen Sie journalistisch dazu beitragen – insbesondere im Hinblick darauf, dass sie mitsamt Klima- und Umweltschutz ins Hintertreffen anderer Themen wie Migration, Rüstung, Wirtschaftskrise geraten ist?

Dass wir vor einigen Jahren einen Klima-Desk gegründet haben, der die Ressorts in Nachhaltigkeitsfragen koordiniert und für Themenzufluss sorgt, zeigt, wie hoch wir das Thema auch journalistisch ansiedeln. Gleichzeitig merken wir an den Zugriffszahlen, dass das Interesse daran abnimmt. Das ist schon deshalb bedauerlich, weil in diesem Sommerurlaub viele Menschen an der Hitze spüren, welche Folgen der Klimawandel bereits hat. Aber auch hier gilt: Ich muss unsere Ressorts thematisch weder motivieren noch bremsen; die wissen von allein, wie sie damit umzugehen haben. Auch wenn dieses Thema gerade ein wenig hinter den anderen Krisen verschwindet, sind und bleiben wir stark damit befasst.

„Wir werden bis Oktober alle Ressorts so umstellen, dass jeder Artikel zuerst für unsere Website produziert wird.“

Wenn der sprichwörtliche Nutzwertjournalismus nicht so weit geht, Themen überzubetonen, die das Publikum gerade weniger interessiert – gibt es darüber hinaus eine Haltung zum Thema, die der Spiegel grundsätzlich transportieren möchte?

Ja. Aber nicht, um die Leute zu belehren, sondern weil wir Kuratoren sind, die dem Publikum ein möglichst attraktives Angebot machen wollen, um sein Interesse zu wecken. Auch wir haben Ideen für eine bessere Welt, aber die verbreiten wir nicht als Dogma, sondern Vorschlag.

Die Frage zielte eher darauf ab, ob der Spiegel das Thema Nachhaltigkeit aus innerer Überzeugung mitunter stärker gewichtet, als es das Publikum erwartet?

Wir verfolgen zwei Ziele: Wir schauen auf unsere Nutzungszahlen und wollen den Leserinnen und Lesern ein Programm anbieten, das sie interessiert, auf das sie zugreifen. Das ist die zahlengetriebene Seite unseres Angebots, die für den wirtschaftlichen Erfolg enorm wichtig ist, weil wir zu einem großen Teil von unseren digitalen Abos leben. Daneben gilt mindestens gleichwertig das publizistische Ziel: Wir wollen einen relevanten, klugen, informativen, unterhaltsamen, aufklärerischen Journalismus anbieten. Wir wollen den Journalismus machen, der uns gefällt, den wir für wichtig halten. Wir veröffentlichen also auch relevante Geschichten, von denen wir wissen, dass sie ein kleineres Publikum interessiert.

Also doch eher Überzeugungsjournalismus als Nutzwertjournalismus?

Da sehe ich gar nicht so einen Gegensatz wie Sie. Ich würde beides unter einem Begriff zusammenfassen: Unser Angebot heißt Lebenskompetenz.

Entspricht das dem Anspruchsdenken jüngerer Zielgruppen, um die sich auch der Spiegel intensiv bemüht?

Wir hatten gestern eine hochinteressante Blatt-, also Heft- und Seitenkritik von fünf jungen Frauen, die im Volontariat oder Praktikum für uns arbeiten. In der Analyse unserer Produkte haben sie zugleich ein Porträt der eigenen Generation und ihrer Ansprüche an Medien geliefert. Eine der Kernbotschaften war diese: Weil man sich dank Google heutzutage weniger merken muss, gäbe es bei jungen Leuten zwar Wissenslücken, die journalistisch gefüllt werden wollen, ohne viel vorauszusetzen. Aber diese Menschen wollen nicht belehrt, sondern auf ihren Lebenswegen unterstützt werden. Das war lehrreich, wird aber bei uns bereits im Neo-Projekt gebündelt und behandelt.

Können Sie Neo kurz definieren?

Das ist ein Arbeitskreis vor allem jüngerer Redakteure und Redakteurinnen, die Konzepte, wie man ein junges Publikum erreichen kann, mit Workshops durchs ganze Haus tragen. So wollen wir lernen, wie junge Menschen Medien nutzen, welche Sprache sie sprechen, wie sie ticken. Wir alle müssen Neo sein, um unsere Zukunft zu sichern. Um unser journalistisches Verhalten zu ändern, reicht es allerdings nicht aus, andere Themen zu machen oder anders zu schreiben.

Sondern?

Wir müssen auch den Kreis der Beteiligten, Zeugen, Experten unserer Geschichten anpassen. So sehr ich einen Politologen wie Herfried Münkler oder einen Soziologen wie Heinz Bude schätze, dürfen wir nicht immer dieselben älteren Fachleute befragen. Unsere fünf Blattkritikerinnen haben uns klar gesagt, dass sich junge Menschen eher mit jungen Menschen identifizieren und daher mehr junge Menschen auf unserer Seite oder in unserem Heft antreffen wollen.

„Nachhaltigkeit ist uns in allen Abläufen wichtig. Wir sitzen hier in einem der ersten Green Buildings Hamburgs.“

Ist die Tatsache, dass der Umsatz vom Gedruckten ins Digitale gekippt ist, eigentlich bereits ein Hinweis auf eine Verjüngung?

Ich hoffe, sehe aber auch die große Herausforderung, junge Menschen zu Abonnements zu bewegen. Wir erreichen sie vor allem auf digitalen Plattformen wie Instagram oder TikTok. Dort sehen sie, was wir im Angebot haben, aber der Schritt von dort bis zum Bezahlen ist noch immer weit. Wer etwas Interessantes von uns im Internet liest, geht nicht automatisch los und kauft sich das Heft oder schließt ein digitales Abo ab, zumal junge Menschen oft stark auf ihr Budget achten müssen. Wir werden uns noch viele Gedanken machen müssen, wie wir unsere Zukunft sichern, aber wir sind auf einem guten Weg. Ich bin optimistisch.

Und was befeuert diesen Optimismus konkret? Anzeigen allein reichen langfristig dafür nicht aus, Sie brauchen zahlungsbereite Kundschaft.

Ich bin optimistisch, weil ich schon einmal pessimistisch war. Vor zehn Jahren wussten wir nicht, wie wir unsere Zukunft sichern können, hatten kein Bezahlmodell für digitale Inhalte und schätzten die Zahlbereitschaft des Publikums als gering ein. Inzwischen haben wir unser Plus-Programm, das sehr gut läuft. Warum sollten wir nicht neue Ideen finden, um unseren Qualitätsjournalismus finanzieren zu können?

Im Lokaljournalismus herrscht eher Pessimismus.

Kollegen von Regionalzeitungen haben mir davon erzählt, auch von den verzweifelten Versuchen, die Zustellung zu sichern, über Drohnen oder indem ältere Menschen auf dem Tablet geschult werden. Nichts davon funktioniert so richtig. Wenn wir der regionalen Presse mit Kooperationen helfen können, sind wir dazu gern bereit.

Welche Rolle spielt dabei eine Technologie, die selbst der Generation Z noch fremd war, nun aber das Leben der Generation Alpha von Beginn an prägt, nämlich KI?

Wir schauen uns die KI genau an, probieren vieles aus und nutzen sie teilweise schon. Aber der Kern unseres Angebotes wird sicherlich weiter von Menschen produziert werden. KI kann guten Journalismus unterstützen, aber es braucht Journalistinnen und Journalisten, um ein herausragendes Stück zu recherchieren, zu schreiben oder zu schneiden.

Wie kann Künstliche intelligenz guten Journalismus unterstützen?

Wenn wir unsere Morgenlage vertonen, kann die KI das schon annähernd so gut wie leibhaftige Sprecher. Und als wir einmal groß über KI berichtet haben, wurde das Titelblatt mit ihrer Hilfe gestaltet. Das haben wir unserer Leserschaft mithilfe von Disclaimern deutlich gemacht und so wollen wir es auch weiterhin halten. Darüber hinaus sind wir aber noch vorsichtig beim Einsatz von künstlicher Intelligenz.

Da klang Ihr KI-Chef Ole Reißmann kürzlich forscher, als er in einem Interview sagt: „Wir experimentieren wild in alle möglichen Richtungen“.

Und damit hat er völlig recht. Am Wort „wild“ gefällt mir, dass die KI auch ein Abenteuer ist. Man weiß noch nicht, was sie alles können wird; noch macht sie ja auch Blödsinn, halluziniert, sorgt für unerwünschte Überraschungen. Wir freuen uns auf dieses Abenteuer.

„Wir merken an den Zugriffszahlen, dass das Interesse an Klimathemen abnimmt.“

Wofür Sie eine Kooperation mit dem Start-up Perplexity eingegangen sind, das dabei hilft, Spiegel-Inhalte mithilfe von KI optimal auszuwerten.

Auch das ist ein Herantasten, um herauszufinden, was wir davon haben können. Und das finde ich spannend, mich fasziniert das.

Und stellen Sie ChatGPT gelegentlich Fragen, wie man sie zuvor Alexa gestellt hatte?

Natürlich will ich wissen, was diese Maschinen können, welche Fortschritte sie machen. Ich finde diese Entwicklung nicht bedrohlich, sondern glaube eher daran, dass sie uns Dinge erleichtern wird.

Das dürften einige in Redaktion oder Dokumentation anders sehen. Beim Erstellen einfacher Servicestücke oder dem Recherchieren und Verifizieren journalistischer Fakten ist KI schon so weit, dass sie mittelfristig Personal ersetzen könnte.

Strukturwandel gibt es immer. Aber für den Moment kann ich sagen, dass es keine Personalplanungen in diese Richtung gibt.

Sie müssen Ole Reißmanns wilde Experimentierfreude also nicht ab und zu bremsen?

Nichts läge mir ferner. Als KI-Abenteurer soll Ole Reißmann sich alles ansehen, frei denken und ständig Vorschläge machen. Wir müssen nicht alles umsetzen, wollen aber alles wissen. Dafür ist er da und enorm wertvoll.

Wäre er in dieser Rolle der nächste Kandidat für einen Posten in der Chefredaktion?

Meine Glaskugel ist beim Blick in die Zukunft zu dieser Frage noch etwas trüb. Sich mit Abenteuern auszukennen ist jedenfalls keine schlechte Voraussetzung für die Spiegel-Chefredaktion.

Wie breit ist die aus Ihrer Sicht im Hinblick darauf aufgestellt, was Geschlechterparität, Migrationshintergründe und körperliche Beeinträchtigungen, also kurz Diversität, betrifft?

Der Frauenanteil in Führungspositionen steht stabil bei gut 40 Prozent. Aber natürlich können wir da noch mehr erreichen. Was mich stark beschäftigt, ist, Journalistinnen und Journalisten mit Migrationshintergrund für das Haus zu finden. Bei einem Seminar an der Kölner Journalistenschule, wo ich selbst ausgebildet wurde, habe ich die Studentinnen und Studenten vor ein paar Monaten nach Migrationshintergründen gefragt. Es hat sich leider nur eine Frau gemeldet, die aus der Ukraine kommt.

Es gibt also nicht nur ein Nachfrage-, sondern auch ein Angebotsproblem?

Ja, das finde ich traurig. Der Leiter der Henri-Nannen-Schule sagte mir daraufhin, bei ihm sei es ähnlich. Seitdem führe ich viele Gespräche, um rauszufinden, woran das liegt, warum sich so wenige Menschen mit dieser Biografie journalistisch ausbilden lassen.

Und?

Ein Grund ist das schlechte Image unseres Berufs in vielen Familien mit Migrationshintergrund. Was ich in Gesprächen für Neubesetzungen öfter gehört habe: Dort ist Journalismus nicht sonderlich angesehen. Eltern sagen eher zu ihren Kindern: Werd lieber Anwalt oder Ärztin. Beides steht für Sicherheit und hohe Reputation. Zudem fehlt manchen das Geld, die journalistische Ausbildung ist nicht billig.

Nicht billig oder schlecht bezahlt?

Besonders Praktika werden oft gar nicht vergütet. Deshalb fördern wir Menschen mit Migrationshintergrund mit Stipendien. Unsere Bereitschaft, solche Journalisten einzustellen, ist hoch. Wir haben das bei unseren Investitionen in neue Stellen jüngst auch getan.

Wie wichtig ist Diversität für das Selbstverständnis, aber auch die Außenwirkung des Spiegel?

Sehr wichtig. Es geht auch hier um Identifikation. Wenn man nur weiße Spiegel-Gesichter auf Instagram sieht, denken Menschen mit anderen Gesichtern womöglich, unser Angebot habe nichts mit ihrem Leben zu tun. Wir sollten in unserem Programm also auch die Gesellschaft einigermaßen repräsentieren. Da haben wir noch einen weiten Weg vor uns, aber glauben Sie mir: Wir werden ihn gehen.

Wie wichtig ist für Ihre Außenwirkung, dass Menschen, die den Spiegel nach außen repräsentieren, einen gewissen Bekanntheitsgrad haben? Die Kolumnen zum Beispiel werden ja fast durchweg von Promis geschrieben.

Prominenz ist in den Medien ein wichtiger Faktor. Deshalb sind wir froh, wenn unsere Redakteurinnen und Redakteure in Talkshows sitzen oder mit eigenen Erzählungen auf Social Media aktiv sind. Prominenz bringt Follower, Follower bringen hoffentlich Abonnenten.

Wo Sie Talkshows erwähnen, in denen kaum eine Kollegin öfter sitzt als ihre Stellvertreterin Melanie Amann – warum führen Sie den Spiegel allein, statt wie im Fall von Barbara Hans und Steffen Klusmann in einer paritätischen Doppelspitze?

Wenn ich mich richtig erinnere, haben sich Doppelspitzen in der Chefredaktion des Spiegel nicht bewährt.

Sie können als alleiniger Chefredakteur also gut arbeiten.

Bestens.

Wie würden Sie sich als Führungskraft da selbst beschreiben?

(überlegt lange) Ich würde sagen: Mein Führungsstil ist freundlich, aber bestimmt. Mir ist wichtig, dass viel debattiert wird, aber wer sich an Debatten beteiligt, hat am Ende auch das Recht auf eine Entscheidung.

Können Sie dabei auch die Ellenbogen ausfahren und gegebenenfalls laut werden, wenn sich Widerstände auftun?

Ich halte aggressives Führungsverhalten für schädlich. Es kommt für mich persönlich nicht infrage, und ich würde es bei anderen nicht tolerieren. Es gibt bessere Wege, sich gegen Widerstände durchzusetzen. Darüber hinaus ist mir journalistisches Ethos wichtig. Im Gespräch mit der Redaktion versuche ich das mit verschiedenen Maßnahmen zu stärken. Ich habe zum Beispiel eine regelmäßige öffentliche Blatt- und Sitekritik durch den Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen auf den Weg gebracht. Er wird unsere Arbeit genau beobachten, und wir werden seine kritischen Texte bei uns veröffentlichen. Es geht um Handwerk und Vertrauen. Besonders letzteres ist unsere wichtigste Währung im Verhältnis zur Leserschaft.

Wirtschaftlich erweisen sich Großlagen als positiv. New York Times oder Washington Post haben es dank der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten durch die Talsohle geschafft. Auch der Spiegel profitiert von Katastrophen aller Art …

Trotzdem wünsche ich mir nicht, dass Donald Trump wiedergewählt wird, denn er ist für die gesamte Welt gefährlich. Punkt.

Die Situation in den USA ist dramatischer als die deutsche. Es gibt ganze Regionen ohne Tageszeitung, die Quoten großer Sender wie CNN stürzen ab. Trotzdem sind klassische Medien auch hierzulande bestandsgefährdet. Können Sie sich etwas in Richtung Sondervermögen zur journalistischen Grundversorgung vorstellen?

Nein! Ich habe einen recht guten Blick auf Österreich, wo der Staat private Medien mitfinanziert, und ich kann sagen, dass das nicht gerade die unabhängige Berichterstattung fördert. Wir müssen uns schon selbst helfen.

Aus der komfortablen Position eines Großstadtmediums mit bundesweiter Verbreitung gegen staatliche Hilfen zu sein, klingt etwas leichter als für Lokalblätter, die ihre Zeitungen nicht mal mehr kostendeckend ausliefern können.

Ich spreche hier für die Spiegel-Redaktion. Andere Medien müssen selbst wissen, wie sie mit diesem Thema umgehen. Für unser wichtigstes Kapital, das Vertrauen in unsere Arbeit, wären staatliche Förderungen aber auf jeden Fall schwierig.

Wie wird es dem Spiegel ohne Förderung in zehn Jahren gehen?

Ich bin da sehr optimistisch. Wir werden mit digital first unsere Ziele erreichen, die Leistungsstärke der Redaktion eher noch ausbauen und damit weiter erfolgreich bleiben.

Mit einer Druckauflage, die mehr ist als ein nettes Coffeetable-Gadget für Nostalgiker?

Warum nicht? Es hat auch auf anderen Gebieten Renaissancen gegeben.

Und werden Sie ein bisschen länger im Amt bleiben als ihre Vorgänger? Wenn man sich einen Bericht in Kress ansieht, stehen Sie kurz vor der Ablösung.

Das würde mich überraschen.

Jan Freitag ist Journalist in Hamburg. Julia Sang Nguyen arbeitet als Fotografin in Hamburg.