Meinung

"Wir haben nicht vor, Texte von einer KI generieren zu lassen"

Sebastian Horn

"KI ist bereits jetzt eine riesige Zeitersparnis für Journalisten", sagt Sebastian Horn. Texte schreiben bei der Zeit aber weiterhin Menschen. (Foto: Marzena Skubatz / Bearbeitung: MvonS)

Sebastian Horn ist Vize-Chef von Zeit Online und seit November zusätzlich Director AI der Zeit Verlagsgruppe. Im Interview sagt er, wie er den Journalismus der Wochenzeitung und ihres Online-Angebots mit Künstlicher Intelligenz besser machen will, wie er selbst davon profitiert – und welche Aufgaben weiterhin Menschen übernehmen werden. Interview: Henning Kornfeld

24.01.2024

„Wir stehen für menschengemachten Journalismus, aber Künstliche Intelligenz wird auch unsere Arbeit maßgeblich beeinflussen“, sagt Sebastian Horn im Interview. Ein Leuchtturmprojekt ist derzeit das Format Fragen Sie Zeit Online, ein Tool, das auf alle seit 1990 erschienenen Artikel von Zeit und Zeit Online zugreift. „Wir haben das Tool so gebaut, dass es sich sehr streng auf unsere Texte bezieht und nicht halluziniert.“

journalist: Herr Horn, mit der Marke Zeit verbindet man einen von Autoren geprägten, meinungsbildenden und recherchegetriebenen Journalismus. Warum braucht ein Medium mit einem solchen Profil eine KI-Strategie?

Sebastian Horn: Wir stehen für menschengemachten Journalismus, aber Künstliche Intelligenz wird auch unsere Tätigkeit maßgeblich beeinflussen. Sie verändert die Art und Weise, wie wir als Journalisten arbeiten, unsere journalistischen Produkte und die Medienlandschaft, in der wir uns bewegen. Darauf müssen wir uns als Verlag einstellen. Ich sehe darin eine große Chance, den Journalismus weiterzuentwickeln, so wie es auch in der Vergangenheit bei neuen Technologien möglich war.

Hatten Sie selbst einen Aha-Moment, in dem Ihnen die Tragweite von KI für den Journalismus klar geworden ist?

Ich hatte mehrere: das von einer KI generierte Bild, auf dem Papst Franziskus eine Daunenjacke von Balenciaga trägt. Oder das Video, in dem der Regisseur Jon Finger mit Hilfe der Software HeyGen verschiedene Sprachen spricht. Durch viele Erlebnisse mit ChatGPT und ähnlichen Tools ist mir klar geworden, dass KI eine große Arbeitserleichterung sein kann. Entscheidend war für mich ein Workshop mit Chefredakteuren europäischer Medien beim Reuters Institute Anfang 2023. Wir waren uns alle einig, dass KI mindestens so weitreichende Auswirkungen haben wird wie die Erfindung des iPhones. Gleich danach habe ich gesagt: Wir müssen uns in der Redaktion und im Verlag dringend noch intensiver mit diesem Thema beschäftigen, und zwar nicht nur im Kleinen, sondern strategisch.

Die Zeit Verlagsgruppe hat für Sie die Funktion des Director AI geschaffen. Ist das vor allem ein symbolischer Schritt, um zu signalisieren, wie ernst Sie das Thema nehmen?

Nein, das ist keine Symbolik, sonst hätte ich den Job nicht angenommen. Wir arbeiten in fast allen Abteilungen an kleineren oder größeren KI-Projekten, bieten Schulungen an und vernetzen uns mit Experten. Ein Leuchtturmprojekt ist Fragen Sie Zeit Onlineeine Frage-Antwort-Anwendung, die auf alle seit 1990 erschienenen Artikel von Zeit und Zeit Online zugreift. Wir sind schon im Sommer 2023 damit in die Testphase gegangen und haben wichtige Erfahrungen gesammelt.

Welche Idee steckt hinter Fragen Sie Zeit Online?

Unsere Leserinnen und Leser besuchen zeit.de, weil sie sich über das Weltgeschehen informieren wollen oder um sich von unerwarteten Themen überraschen zu lassen. Hin und wieder suchen sie aber auch die Antwort auf eine konkrete Frage. Das Tool ist unser Versuch, das auf eine neue Art zu ermöglichen. Wir nutzen dafür den riesigen Wissensschatz unseres Archivs. Das funktioniert mittlerweile schon recht gut. Wir haben das Tool so gebaut, dass es sich streng auf unsere Texte bezieht und nicht halluziniert. So entstehen manchmal beeindruckende Zusammenfassungen eines Themas. Ich hoffe, dass mit KI weitere Features in diese Richtung möglich sein werden.

Was müssen Sie an dem Tool noch verbessern?

Wir feilen noch am Produkt und wollen die Benutzeroberfläche weiterentwickeln. Möglicherweise werden wir die User stärker an die Hand nehmen und ihnen Fragen vorschlagen, die ihnen die KI beantworten kann. Sie muss auch besser darin werden, immer den aktuellen Wissensstand aus unserem Archiv zu holen. Der Programmaufbau ist flexibel. Im Moment verwenden wir mehrere frei verfügbare Sprachmodelle im Zusammenspiel mit der Schnittstelle von OpenAI. Das muss aber nicht so bleiben.

Könnte sich aus dem Format Fragen Sie Zeit Online irgendwann eine ganz neue Form entwickeln, wie Nutzerinnen und Nutzer mit Ihrer Website interagieren? Indem sie zum Beispiel spezifische Fragen zu der aktuellen Nachrichtenlage stellen?

Die große Mehrheit unserer User wird weiterhin auf die Website kommen, um sich dort einen von uns kuratierten Überblick an Nachrichten zu verschaffen oder Neues zu entdecken. Das wollen wir nicht ersetzen. Es gibt aber Situationen, in denen man ein Thema vertiefen oder sich die wichtigsten Ereignisse zusammenfassen lassen will. Hier kann KI helfen, unsere Artikel besser zugänglich zu machen. Das sind Funktionen, die in den vergangenen Jahren im Online-Journalismus schon einmal erdacht wurden, aber wegen des großen menschlichen Aufwands gescheitert sind. Vermutlich wird ein Chat aber nicht das dominante User-Interface auf Nachrichten-Websites sein, weil er für den schnellen Überblick über Nachrichten und Themen eher ungeeignet ist.

Wie wird man News-Websites dann bedienen?

Künstliche Intelligenz wird sich hinter verschiedenen Formen der Interaktion verbergen, die eine Nachrichten-Website in Zukunft anbieten kann. Das können einfache Buttons sein, die einen Artikel oder ein Thema zusammenfassen, oder Eingabefelder, die Nutzern erlauben ihre eigene Frage zu formulieren. Auch die Navigation per Spracheingabe könnte bald noch viel weiter verbreitet sein.

„Wir stehen für menschengemachten Journalismus, aber Künstliche Intelligenz wird auch unsere Arbeit maßgeblich beeinflussen.“

An welchen weiteren KI-Anwendungen arbeiten Sie bei der Zeit?

Wir planen, im ersten Quartal 2024 mit Zusammenfassungen von Artikeln zu experimentieren, und wollen die Qualität der künstlichen Stimmen in unserem Text-to-Speech-Angebot verbessern. Wir überlegen, ob wir eigene Stimmen für uns synthetisieren lassen, statt wie bisher die von Google oder Amazon einzusetzen. Die Möglichkeit, Journalismus komfortabel und in ansprechender Qualität zu hören, während man Fahrrad fährt oder die Wohnung putzt, ist neben KI ein wichtiger Trend in unserer Branche. Wir setzen außerdem bereits punktuell von Midjourney oder Adobe Firefly generierte Bilder ein und überlegen, wie wir generative KI als journalistische Darstellungsform über die Bilder hinaus nutzen können. Bei Zeit Online arbeiten wir außerdem erfolgreich mit Daten. Wir würden sie mit KI gerne noch besser zugänglich machen – indem Leserinnen und Leser dank KI genau die Informationen in den Daten finden, nach denen sie suchen.

Gibt es KI-Anwendungen, von denen Sie die Finger lassen?

Wir haben nicht vor, Texte von einer KI generieren zu lassen. Das haben wir nur sehr vereinzelt gemacht, um zu demonstrieren, wie leistungsfähig ChatGPT ist. Bei unseren Texten wird man weiterhin davon ausgehen können, dass sie von Menschen geschrieben wurden. Das Textgenerieren mittels KI würde den Kern dessen berühren, wofür die Zeit steht – vertrauenswürdiger, tief recherchierter und exzellent erzählter Journalismus. Es ist zwar denkbar, dass auch bei uns eine KI Texte korrigiert oder Überschriften vorschlägt, aber die Recherche und das Schreiben der Artikel bleiben menschliche Aufgaben. Ein Grund dafür ist auch die Sprache: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass von ChatGPT verfasste Artikel-Teaser zwar oft inhaltlich korrekt sind, doch unsere Redakteurinnen und Redakteuren schreiben sie in den meisten Fällen sprachlich brillanter.

Ist es für Sie denkbar, von einer KI geschaffene Charaktere einzusetzen, sei es in einem Podcast oder in einem Video?

Auch unsere Podcasts werden weiterhin von unseren menschlichen Moderatorinnen und Moderatoren gesprochen. Vereinzelt könnte ich mir aber virtuelle Charaktere als ein Werkzeug vorstellen, um beispielsweise eine Geschichte in einem animierten Video zu erzählen. Schon bevor Künstliche Intelligenz eine Rolle gespielt hat, haben wir mit Illustrationen und Videoanimationen gearbeitet. Bei KI-generierten Inhalten darf aber nie eine Verwechslungsgefahr mit realen Bildern oder Menschen entstehen. Entsprechend deutlich kennzeichnen wir solche Inhalte.

In welchem Umfang und zu welchem Zweck nutzen Sie schon von KI-Tools erzeugte Bilder?

Wir setzen solche Bilder in Einzelfällen gezielt als zusätzliche Darstellungsform ein, um abstrakte Themen zu illustrieren. Das funktioniert aber nur in bestimmten Genres. Bei tagesaktuellem Politikjournalismus kann ich mir KI-erzeugte Bilder nicht vorstellen, weil der Eindruck entstehen könnte, wir würden eine Realität erfinden.

Ist es Ihnen gelungen, Arbeitsprozesse mit Hilfe von KI effektiver zu machen?

Als Assistenz im Alltag ist sie bereits jetzt eine riesige Zeitersparnis für Journalisten. Das offensichtlichste Beispiel sind schon seit einiger Zeit Interview-Transkriptionen. Ich selbst nutze KI, um Informationen aus PDFs zu extrahieren und für das Schreiben von E-Mails. In der Redaktion suchen wir derzeit nach Wegen, wie wir KI als Assistenz noch besser in unsere Arbeitsabläufe und Systeme integrieren können.

Haben sich Zeit und Zeit Online im Umgang mit KI Regeln gegeben?

Das haben wir. Sie sehen zum Beispiel vor, dass wir KI-Inhalte immer transparent kennzeichnen, dass rechtliche Fragen vor der Veröffentlichung geklärt sein müssen und dass man bei der Verwendung von KI-Tools mit vertraulichen Daten vorsichtig sein muss.

Zu Ihren Aufgaben gehört es, das ganze Haus mitzunehmen, zum Beispiel durch Schulungen. Wie gehen Sie vor?

Wir haben in der Zeit Verlagsgruppe eine autodidaktische Kultur und bringen uns Sachen gerne selbst bei, sei es durch ganztägige Veranstaltungen, die wir Zeit University nennen, oder durch regelmäßige Impulsvorträge. So haben wir es auch beim Thema KI gemacht. Das ist im September in vierzehntägigen KI-Wochen nach dem Vorbild des Tagesspiegel gemündet. Dabei haben wir täglich ein oder zwei interne Sessions mit Vorträgen für Einsteiger und Fortgeschrittene angeboten. Das setzen wir nun in Form eines monatlichen KI-Updates fort.

„Gut schreiben zu können, wird in unserer Redaktion immer eine wichtige Fähigkeit bleiben.“

Stoßen Sie im Haus beim Thema KI auch auf Ablehnung oder Angst?

Bei uns verspüre ich keinerlei Angst, sondern große Neugier und Interesse oder sogar Bewunderung für das, was mit KI-Tools möglich ist. Es gibt aber den Wunsch nach einem Orientierungsrahmen und Klarheit darüber, wo und wie man diese Tools einsetzen kann und darf. Dazu zählen rechtliche Fragen. Dem kommen wir mit Informationsangeboten und den regelmäßigen Schulungen nach. Ich nehme bei uns auch keine Sorgen wahr, dass KI Jobs gefährden könnte.

Sie wollen KI also nicht einsetzen, um Arbeitsplätze wegzurationalisieren?

Nein, der Gedanke käme uns bei der Zeit nicht. Unser Fokus liegt darauf, wie KI uns die Arbeit erleichtern und unseren Leserinnen neue journalistische Zugänge bieten kann.

Werden sich die Anforderungen an Journalistinnen und Journalisten in den nächsten Jahren grundsätzlich ändern?

Vor einigen Jahren fragten sich viele, ob jeder Journalist programmieren können oder bei Twitter sein müsse. Solche Aussagen sind eine übliche Reaktion auf eine neue große Technologie. Beim Programmieren und Twittern musste man natürlich nicht zwangsläufig dabei sein, aber es hat sich für Journalisten sehr gelohnt, sich mit solchen Techniken oder Plattformen zu beschäftigen und sie zu verstehen. Mit KI ist es ähnlich. ChatGPT kann Journalisten offensichtlich bei der Arbeit helfen: als Inspiration, bei der Ideenfindung oder bei der Verbesserung von Texten. Ich würde jedem empfehlen, sich damit auseinanderzusetzen und sich einige Grundlagen anzueignen.

Gibt es spezifische KI-Qualifikationen, die schon jetzt bei Ihnen oder anderswo gefragt sind?

Ich finde vor allem die Neugierde gegenüber neuen KI-Tools wichtig. Wenn jemand mit ChatGPT einen eigenen Bot gebaut hat, der Ideen für neue Podcast-Folgen ausspuckt, dann ist das ein Indiz dafür, dass sie oder er sich für neue Dinge begeistert und gerne mit neuen technischen Möglichkeiten experimentiert.

Es gibt die These, dass die Fähigkeit, gut schreiben zu können, im Journalismus an Bedeutung verlieren wird. Wie ist das bei Zeit und Zeit Online?

Gut schreiben zu können, wird in unserer Redaktion immer eine wichtige Fähigkeit bleiben. In den vergangenen Jahren sind bei uns allerdings viele neue Jobprofile, Aufgaben und Spezialisierungen entstanden, bei denen Texte nicht im Fokus stehen. Nicht jeder muss eine brillante Reportage schreiben können. Viele unserer Journalistinnen und Journalisten erzählen Geschichten in Form von Fotoessays, Podcasts, Datenvisualisierungen, Instagram-Reels und Videos.

KI-generierte Inhalte dürften klassischen Medien künftig Konkurrenz machen. Werden es Zeit und Zeit Online leichter oder schwerer haben?

Darüber kann ich nur spekulieren. Ich glaube, dass der Wert unseres Journalismus noch wachsen könnte. Wir stehen für Expertentum, für Tiefe und Analyse. Unsere Leserinnen und Leser haben eine enge emotionale Bindung an uns. Dadurch grenzen wir uns von austauschbaren Inhalten ab. KI wird aber vermutlich den Kampf um Aufmerksamkeit im Netz verschärfen. Den erleben wir schon jetzt, etwa bei jungen Menschen auf Social-Media-Plattformen wie TikTok. Es ist denkbar, dass auch KI-Inhalte und Plattformen wie ChatGPT die Aufmerksamkeit der Nutzerinnen und Nutzer auf sich lenken werden, sodass sie weniger Zeit bei uns verbringen.

Sebastian Horn, 39, arbeitet mit einer kurzen Unterbrechung seit 2010 für die Zeit Verlagsgruppe. Er hat dort das junge Online-Angebot ze.tt aufgebaut. Seit 2018 ist er stellvertretender Chefredakteur von Zeit Online und seit November 2023 zusätzlich Director AI. Horn ist auch einer der Hosts des „Optimierungspodcasts“ Geht da noch was?.

Henning Kornfeld arbeitet als Medienjournalist in Heidelberg.

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