„Wir haben eine halbe Sekunde Zeit, die Nutzer zu gewinnen“

Friederike Schiller leitet seit November 2023 das Hochkant-Ressort von Zeit Online. Sie und ihr Team erreichen immer mehr Views auf TikTok. (Foto: Marzena Skubatz für Zeit Online)

Zu oberflächlich, der Algorithmus zu mächtig, von China beeinflusst: TikTok ist in deutschen Redaktionen hochumstritten. Friederike Schiller leitet das Hochkant-Ressort bei Zeit Online. Bei aller Kritik glaubt sie, das Netzwerk biete große Chancen für hochwertigen Journalismus.

Interview: Catalina Schröder

05.03.2025

Ein TikTok-Video zu den Unruhen im Kongo? Themen können noch so wichtig sein – wenn sie keine Reichweite versprechen, wird die Umsetzung schwierig, sagt Friederike Schiller, Leiterin des Hochkant-Ressorts bei Zeit Online. Im journalist-Interview spricht sie über den schwierigen Spagat zwischen Qualität und Performance. Langfristig ließen sich mit TikTok neue Zeit-Leser*innen gewinnen, glaubt sie.

journalist: Frau Schiller, was ist das Hochkant-Ressort?

Friederike Schiller: Einfach gesagt: Wir produzieren Videos im Hochkant-Format, die man klassischerweise mit dem Handy oder Tablet konsumiert. Das Ressort gibt es seit November 2023. Meine ersten Mitarbeiter kamen im Januar 2024 dazu. Momentan verbringen wir 90 Prozent der Zeit damit, Videos für TikTok zu machen. Wir sind aber nicht das Ressort TikTok – das ist mir immer ganz wichtig, zu betonen.

Warum?

Weil wir auch andere Sachen machen. Seit Mai werden die Videos auch in einem eigenen Bereich auf der Startseite von Zeit Online ausgespielt, ich muss TikTok also gar nicht nutzen. Ab und an machen wir auch spezielle Projekte. Vor der US-Wahl habe ich zusammen mit einer Kollegin das Projekt „Humans of America“ umgesetzt. In Mini-Videos haben wir zufällig ausgewählte Menschen porträtiert und sie nach ihren Gedanken zur Wahl gefragt. Das haben wir gar nicht auf TikTok ausgespielt, sondern es ging wirklich darum, die Zielgruppe auf der Homepage anzusprechen. Die Videos hatten eine etwas andere Dramaturgie, die Ansprache der Leute war anders.

Was auffällt: TikTok-Videos sind deutlich schneller.

Auf TikTok haben wir etwa eine halbe Sekunde Zeit, um das Interesse der Userinnen und User zu wecken. Gelingt uns das nicht, swipen sie zum nächsten Video. Und wir müssen uns dort sehr daran orientieren, was gerade angesagt ist. Die Sehgewohnheiten haben sich verändert. 2020 wurde die Plattform in Deutschland groß. Damals hat man häufig Menschen gesehen, die Lehrer-mäßig referiert haben. Herr Anwalt macht das zum Beispiel bis heute.

Das ist der TikToker und Anwalt Tim Hendrik Walter, der juristische Sachverhalte erklärt.

Ja. Aber das macht heute kaum noch jemand. Die meisten Videos werden inzwischen unterwegs gedreht. Im Auto oder auf der Straße. Authentizität ist unfassbar wichtig geworden. Videos dürfen nicht zu poliert wirken. Daran orientieren wir uns.

Wie sprechen Sie die Leute an?

Unsere Zielgruppe ist zwischen 18 und 24 Jahren alt. Wir gehen davon aus, dass die ganz viele Themen noch nie gehört haben. Es gibt nicht den Anspruch, einen riesigen Deep-Dive in ein Thema zu machen. Sagen wir mal, jemand hört zum ersten Mal den Begriff Oligarchie. Dann wollen wir demjenigen kurz und knapp erklären, was das ist. Im besten Fall beschäftigt er sich über andere Kanäle noch mal tiefer damit.
 

„Es ist genauso schön wie herausfordernd: Jedes Video hat das Potenzial, viral zu gehen. Oder sich im TikTok-Universum zu versenden.“
 

Was ist der größte Unterschied zwischen TikTok und anderen sozialen Netzwerken, zum Beispiel Instagram?

Auf Instagram sehen die Leute den Account der Zeit oder der Tagesschau. Dann klicken sie auf folgen, weil sie den Seiten vertrauen. So setzt sich der Feed zusammen.
Unsere Kolleginnen und Kollegen betreiben einen sehr großen, tollen Instagram-Account. Wenn sie ein Video veröffentlichen, gucken die Leute das, weil das ein Zeit-Inhalt ist. Bei TikTok entscheidet dagegen der Algorithmus, wem ein Video ausgespielt wird. Wenn der berechnet, dass eine Person ein Video von uns interessieren könnte, dann
spielt er es aus – unabhängig davon, ob sie uns folgt.

Ist das für Sie ein Vor- oder ein Nachteil?

Beides. So erreichen wir Leute, die die Zeit gar nicht kennen. Darin liegt eine Riesenchance. Für uns als Marke, aber auch ganz generell für den Journalismus: So kriegt man hochwertige Inhalte an die Leute, bei denen Fakten geprüft wurden.

Und der Nachteil?

Unsere Instagram-Kollegen haben immer ein Grundrauschen. Derzeit folgen ihnen rund 1,2 Millionen Menschen. Jeden Post sehen mindestens 300.000 Leute. Das fehlt uns bei TikTok. Wir haben Videos, die sehen 5.000 Leute. Und dann gibt es Videos mit vier Millionen Views. Unserem TikTok-Account folgen mehr als 200.000 Menschen – wir haben unsere Follower im vergangenen Jahr also nahezu verdoppelt. Für die Frage, wie viele Menschen unsere Videos sehen, spielt das aber kaum eine Rolle. Es ist genauso schön wie herausfordernd: Jedes Video hat das Potenzial, viral zu gehen. Oder sich im TikTok-Universum zu versenden.

Zeit-Literaturkritiker Volker Weidermann ist unter dem Hashtag BookTok erfolgreich.

Das ist für mich das beste Beispiel, wie die „alte Zeit“ und die „neue Zeit“ zusammenkommen. Volker bespricht mit großer Ernsthaftigkeit Bücher, die in unserer Zielgruppe gelesen werden. Da geht es ganz viel um New-Romance-Geschichten. Das ist ein wahnsinniger Gegensatz zu dem, was er sonst so macht. Natürlich haben wir uns gefragt: Können wir einen mittelalten weißen Mann für ein TikTok-Format vor die Kamera stellen und ihn über Bücher reden lassen? Und dann haben wir uns gedacht: Warum machen wir nicht genau das zum Gag? Verlage arbeiten jahrelang daran, einen Fuß in die Book-Tok-Community zu bekommen und wir haben das mit diesem Format geschafft. Im Herbst war Volker als Juror beim BookTok-Award der Frankfurter Buchmesse.

Wie wählen Sie sonst Ihre Themen aus?

Videos, die gut funktionieren, behandeln oft Fragen, die wir uns im Team selbst stellen. Nach dem Ampel-Aus und der vorgezogenen Bundestagswahl haben wir uns zum Beispiel gefragt, ob künftige Bundestagswahlen jetzt immer im Winter stattfinden werden. Wenn Politik konkrete Auswirkungen auf Menschen hat, laufen unsere Inhalte dazu oft gut. Oder wir erklären Begriffe. Sperrminorität tauchte zum Beispiel nach der Wahl in Sachsen oft auf. Überall wird er ganz selbstverständlich genutzt und man
selbst hat vielleicht das Gefühl: Hilfe, ich kenne das Wort nicht. Sowas greifen wir auf.

Profitieren Sie von der Nachrichtenlage?

Rund um das Ampel-Aus, die US-Wahl und die Amtseinführung von Trump haben wir ein großes öffentliches Interesse gespürt. Aber manchmal produzieren wir Videos, von denen wir sagen: Die sind handwerklich top und behandeln ein spannendes Thema. Wenn wir Pech haben, funktionieren sie trotzdem nicht.

Woran liegt das?

Ich will keine Verschwörungstheorien entwerfen, aber ich glaube, TikTok drosselt manche Themen. Das merken wir zum Beispiel beim Thema Gaza. Wir haben letztes Jahr schlechte Erfahrungen gemacht mit einem Gaza-Video. Das hat gar nicht funktioniert. Von diesem Tief haben wir uns rund sechs Wochen nicht mehr erholt, obwohl wir an unserer üblichen Posting-Frequenz nichts verändert haben.

Unter journalistischen Gesichtspunkten ist das problematisch.

Wenn man sich als Medium auf eine Plattform begibt, muss man ein bisschen nach den Spielregeln spielen. Das ist ein schwieriger Spagat. Wir wollen mit unseren Videos Reichweite erzielen. Gleichzeitig müssen wir den Qualitätskern der Marke Zeit bewahren, hintergründige Recherchen in hoher Qualität. TikTok steht für das Gegenteil. Diese Widersprüche zu vereinen, gelingt uns manchmal wahnsinnig gut und manchmal gar nicht.

Gibt es innerhalb der Redaktion Diskussionen darüber?

Wir kriegen immer mal Feedback, dass Dinge nicht angemessen waren. Dass Kollegen nicht einverstanden sind mit einer Dramaturgie oder Zuspitzung. Gestern haben wir in unserem Ressort eine emotionale Debatte über die Unruhen im Kongo geführt. Ich weiß ganz genau: Wenn ich da jemanden draufsetze, ist das rechercheintensiv. Mindestens anderthalb Tage Arbeit für ein Video, das am Ende 5.000 Leute sehen. Diese Kosten-Nutzen-Rechnung muss aber sein. Manchmal können wir uns Themen gönnen. Dann sagen wir: Komm, wir haben jetzt so eine gute Performance hingelegt, jetzt machen wir mal ein Thema, das wir super wichtig finden, von dem wir aber wissen, dass es wahrscheinlich nicht gut performen wird.

„Wenn man sich als Medium auf eine Plattform begibt, muss man ein bisschen nach den Spielregeln spielen. Das ist ein schwieriger Spagat.“


Wann hat ein Video aus Ihrer Sicht „gut performt“?

Wir messen den Erfolg an den Gesamt-Views unserer Videos. Ab 100.000 Views sind wir zufrieden. Im Januar hatte unser bestes Video 4,4 Millionen Views.

Worum ging es darin?

Um Kugelbomben. Das klingt krass, aber es hat gut funktioniert. Wir hatten auch schon ein Video mit 11,1 Millionen Views – da ging es um die Championsleague.

Sind Sie zufrieden mit der Performance?

Zuletzt haben wir an unserer Bestmarke gekratzt. Mit 19 Millionen Views in einem einzigen Monat. Das liegt natürlich auch an der Frequenz: Je mehr Videos wir veröffentlichen, desto größer die Chance, dass es gut funktioniert.

Wie viele Videos veröffentlichen Sie pro Woche?

Letztes Jahr waren es zwischen fünf und acht. Zum Beginn dieses Jahres konnte ich die Anzahl meiner Teammitglieder verdoppeln und unser Ziel ist es, zukünftig zwölf Videos pro Woche zu veröffentlichen.

Verdient Die Zeit mit TikTok Geld?

Nein, momentan kostet mein Team nur Geld [lacht]. Im Ernst: Bislang sind die Monetarisierungsmöglichkeiten schlecht. Es gibt nicht einmal die Möglichkeit, einen Link für ein Probeabo in die Kommentare zu posten. Jedenfalls keine Hyperlinks, auf die man einfach klicken kann. Ich bin deshalb froh, dass mein Team als Investition in die Zukunft gesehen wird. Wenn wir jetzt junge Leute erreichen, dann gewinnen wir in zehn, 15 Jahren vielleicht auch zahlende Abonnenten. Ich gehe aber auch davon aus, dass TikTok irgendwann Monetarisierungsmöglichkeiten einführen wird, von denen wir auch Gebrauch machen können. Das kam bei Instagram auch peu à peu.

Wie groß ist Ihr Team jetzt?

Mit mir sind wir zehn Leute. Im Laufe des Jahres werden noch zwei dazukommen. Wir nutzen das, um unsere Arbeitsabläufe zu professionalisieren. Im vergangenen Jahr haben alle alles gemacht: Recherche, Skript, Aufnahme und Schnitt. Das hat gut funktioniert, aber mit mehr Personal können wir die Aufgaben aufteilen. Zum Beispiel habe ich zwei Cutter eingestellt.

Welches Profil haben die Leute in Ihrem Ressort?

Sie sind zwischen Anfang 20 und Mitte 30. Manche kommen von Journalistenschulen, andere haben Erfahrung in Produktionsfirmen gesammelt. Wir brauchen beides. Das funktioniert wirklich toll, weil alle viel voneinander lernen können.

Wie sieht ein typischer Tagesablauf im Hochkant-Ressort aus?

Wir beginnen spätestens um 9.30 Uhr mit der Gesamtkonferenz von Zeit Online. Da berichten alle Ressorts, was sie planen. Dann überlegen wir: Ist für uns etwas dabei? Können wir uns an jemanden dranhängen, der ein spannendes Interview führt? Um zehn sitzen wir dann im Ressort zusammen, planen unsere Themen. Da postet auch jeder, was er gerade auf seiner For You Page bei TikTok sieht. Das ist sozusagen die „private Startseite“ eines TikTok-Users. Der Abgleich ist wertvoll für mich. Ich bin 37 Jahre alt und damit weit von unserer Zielgruppe entfernt. Wenn mehrere Leute dieselben Inhalte auf ihren Pages sehen, können wir Trends gut voraussehen.

Und dann?

Wir verteilen die Themen. Auf den tagesaktuellen Videos ist richtig Druck. Bis mittags muss das Skript stehen, dann geht es durch mehrere Feedbackschleifen. Inhaltlich sichern wir uns bei Kollegen aus der Redaktion ab, denn wir können uns nicht so tief in jedes einzelne Thema einarbeiten. Manche Themen müssen juristisch geprüft oder von der Chefredaktion freigegeben werden. Dann werden die Videos gedreht, geschnitten und nochmal abgenommen. Bei tagesaktuellen Produktionen sind wir froh, wenn
wir sie bis 17, 18 Uhr draußen haben.

„Als ich bei Zeit Online anfing, war die Tagesschau immer das leuchtende Beispiel. Ich finde den Vergleich aber nicht tre‚ffend.“


Gibt es andere TikTok-Kanäle, die Ihnen als Vorbild dienen? Der Kanal der Tagesschau hat 1,6 Millionen Follower und wird oft zitiert.

Als ich bei Zeit Online anfing, war die Tagesschau immer das leuchtende Beispiel. Ich finde den Vergleich aber nicht treffend: Die Tagesschau ist auf TikTok ein News-Kanal – wir nicht. Das heißt: Weder der User noch der TikTok-Algorithmus wissen, was sie von uns zu erwarten haben. Ein weiterer Unterschied ist, dass die Tagesschau ein Bildmedium ist. Die können auf Material zurückgreifen, das in ihrer Redaktion produziert wird. Wir müssen alles selber drehen, aufnehmen oder anderweitig durch Material
bebildern. Die Tagesschau ist ein großes Vorbild, aber wir haben auch andere.

Zum Beispiel?

Wir wollen genauso erfolgreich werden wie die Washington Post. Die haben allein durch die englische Sprache schon ein größeres Publikum. Auch der New Yorker ist ein Vorbild.

Und in der nationalen Berichterstattung?

Da schauen wir zum Beispiel in Richtung funk. Nice to know vom WDR ist ein Kanal, der super funktioniert. Auch RTL und RTL aktuell sind erfolgreich. In Österreich ist Der Standard sehr erfolgreich.

Gibt es andere soziale Netzwerke, die Sie intensiv beobachten?

Interessanterweise ist Snapchat wieder ein Ding geworden. Instagram ist nach wie vor wichtig. Ich wüsste aber keine Plattform, von der ich sagen würde: Die ist TikTok dicht auf den Fersen. Die Art und Weise, Inhalte zu konsumieren – mobil und zwischendurch - wird bleiben. Ob auf einer Plattform oder auf unserer Homepage ist am Ende zweitrangig.


Catalina Schröder ist Wirtschaftsjournalistin in Hamburg.