Wie frei können Sie berichten, Armin Coerper?

Armin Coerper: "Im größten Land der Erde geht es immer um Krieg und Frieden, Leben oder Sterben." (Foto: ZDF / Thomas Kierok)

Armin Coerper leitet das ZDF-Studio in Moskau. Er ist einer der wenigen deutschen Journalisten, die noch in der russischen Hauptstadt arbeiten. Wie sehr schränken ihn die russischen Restriktionen tatsächlich ein – und was hilft ihm, seinen Job trotzdem auszuüben? Interview: Jan Freitag

22.10.2024

„Im größten Land der Erde geht es immer um Krieg und Frieden, Leben oder Sterben“, sagt Armin Coerper. Im journalist-Interview spricht er über seinen Alltag in Moskau, seinen Umgang mit der ständigen Gefahr und über den engen Zusammenhalt unter westlichen Korrespondenten vor Ort. Trotz allem berichtet er gerne aus Russland – und fragt sich, ob er jemals wieder aus einem friedlichen Land berichten könnte.

journalist: Herr Coerper, was für ein Typ Mensch und Journalist sind Sie – Team Vorsicht oder Team Action, Cortisol oder Adrenalin?

Armin Coerper: Wer lieber am Schreibtisch sitzt und kaum Adrenalin aushält, kann meinen Beruf an diesem Ort nicht machen. Auch, weil man nicht nur sich, sondern auch Freunden und Familie daheim einiges zumutet. Für meine 84-jährige Mutter ist es schwer zu verdauen, wo ich gerade arbeite. Aber auch wenn es komisch klingt: Einer muss es ja machen. Ich finde es essenziell, dass wir von hier berichten, solange es möglich ist.

Das klingt ein bisschen unfreiwillig …

(lacht) Ach, ich will das schon machen. Es gab in meiner Arbeit immer wieder Bezugspunkte zu Russland. Vor meinem Wechsel nach Moskau letztes Jahr war ich lange fürs ZDF in Polen, war auch häufig in der Ukraine und habe zu Beginn des Konflikts 2013 und 2014 live miterlebt, wie die Panzer nach Donezk eingerollt sind. Selbst als ich zwischendurch sieben Jahre in Deutschland bei frontal war, habe ich immer wieder darüber berichtet. Da ich Polnisch spreche, habe ich Zugang zum Russischen, kenne die Region. Biografisch war Moskau irgendwie der nächste logische Schritt.

Bei dem Sie abgesehen von der ungewöhnlichen Umgebung denselben Journalismus machen wie zuvor in Kairo, Tel Aviv, Singapur, New York oder Düsseldorf?

Für mich war es – außer in Kairo – noch nie zuvor so begrenzt, was ich filmen durfte. In Düsseldorf, New York, und selbst in Tel Aviv gab es fast nie Restriktionen. Hier müssen wir uns sehr genau überlegen, was man zeigen sollte und was nicht, welche Konsequenzen das für uns haben kann und vor allem für Menschen, mit denen wir sprechen. Als ausländische Journalisten stehen wir unter wachsendem Druck. Der ist aber nichts verglichen mit dem Druck, den Einheimische empfinden. Es gibt nur wenige, die noch mit uns reden. Und diejenigen, die es tun, sagen hinterher schon mal, sie möchten doch nicht, dass es gesendet wird.

Dann schildern Sie doch bitte den Arbeitstag im Ausnahmezustand: Duschen, Frühstück, Redaktion, Reportage, Feierabend, alles wie woanders auch, nur unter Putin und im Krieg?

Grundsätzlich schon, obwohl es gewisser Umstellungen bedarf. Weil wir ja eine Stunde – im Winter wegen der Zeitumstellung sogar zwei – voraus sind, habe ich vormittags so etwas wie Freizeit. Ich fülle sie mit Sport oder Russischunterricht, von dem ich jetzt gerade gekommen bin. Mein Tag beginnt also in der Regel ruhig. Er steigert sich aber beständig und hört oft chaotisch auf. Auch, weil ich als Korrespondent allein vor Ort bin und mehrere Themen im Blick halte, die am Ende vielleicht nicht in die Sendungen kommen. Bis zur heute-Sendung um 19 Uhr muss ich mich in Erreichbarkeit zum Studio befinden und wohne bewusst so, dass ich von zu Hause innerhalb von zehn Minuten hier bin.

Kommt es vor, dass Sie ganz spontan ins Studio müssen?

Oft sogar. Deshalb überlege ich es mir dreimal, ob ich mein Viertel abends nochmal verlasse, um mit Kumpels ein Bier zu trinken, wenn in Deutschland das heute-journal läuft. Ich bin aktuell der Einzige vom ZDF, der hier mit Visum und Akkreditierung arbeiten darf. Früher waren wir zu dritt.

Werden Sie durch die ständige Verfügbarkeit von der Nachrichtenlage getrieben oder gibt es Möglichkeiten zur freien journalistischen Entfaltung?

Die gibt es. Mein journalistischer Anspruch ist es, gesellschaftliche Entwicklungen mit eigenen Geschichten aufzuarbeiten und dorthin zu fahren, wo sie stattfinden. Gleichzeitig ist mein Ablauf von der Dynamik der Ereignisse geprägt. Ich muss mir gut überlegen, wie ich damit umgehe, wenn irgendwo etwas passiert und ich nicht in Moskau bin. Technisch kann ich mittlerweile auch von St. Petersburg oder Sibirien eine Schalte nach Deutschland einrichten.

Mit einem Ü-Wagen sind Sie nicht mehr unterwegs?

Nein. Wenn das Netz stabil ist, kann man aus Russland über Handynetze live schalten.

Lässt man Sie über alles berichten oder gibt es, wie es Korrespondentinnen aus China melden, ständige Überwachung und Einflussnahme von staatlicher Seite?

Ich weiß zumindest, dass viele Kollegen bei der Arbeit gestört wurden. Auch bei uns wartet manchmal jemand am Drehort, der sich als Vertreter einer Regionalverwaltung vorstellt und der mal schauen wolle, was wir so machen. Aber bislang wurde meine Arbeit noch nicht spürbar behindert. Obwohl ich manchmal unter Beobachtung stehe, habe ich nicht das Gefühl, dauernd kontrolliert zu werden.

Vielleicht, weil sich die russische Regierung kaum noch um ihr Renommee im Westen schert, solange die eigene Bevölkerung ihr Narrativ glaubt?

Das würde ich so nicht sagen. Es gibt zunehmenden Druck auf die freie Berichterstattung. Dafür werden immer wieder Gesetze erlassen. Etwa gegen die Diskreditierung der Streitkräfte oder des Präsidenten. Obwohl selbst der Kreml und Wladimir Putin mittlerweile unverblümt vom Krieg sprechen, soll man offiziell „Spezialoperation“ sagen.

Tun Sie das?

Nein, ich sage Krieg. Wie alle anderen auch. Auf diese oder andere unliebsame Formulierungen bin ich noch nicht angesprochen worden. Trotzdem sollte man vorsichtig sein, wie man bestimmte Dinge formuliert. Etwa zu laufenden Kriegshandlungen auf ukrainischem Territorium. Allerdings berichte ich darüber kaum. Eigentlich gehört die Ukraine schon zu meinem Berichterstattungsgebiet, aber das ZDF hat genügend Reporter vor Ort. Die können besser beurteilen, was dort passiert. Und ich würde nicht als einzelne Person von beiden Seiten über den Krieg berichten wollen. Es ist gut, wenn das unterschiedliche Menschen tun.

„Ich wollte gerne nach Russland, und das Interesse an einem Land und seinen Menschen hört nicht plötzlich auf, weil es dort schwierig ist.“

Wobei Sie einmal eine sehr eindrückliche, aber auch umstrittene Reportage aus dem zerstörten Mariupol gemacht haben.

Das stimmt, aber das war bereits nach den aktiven Kampfhandlungen. Momentan sind meine Themen vor allem die russische Gesellschaft und Regierung.

Auch die sorgt für eine Grundanspannung, die Journalisten wie mir fremd ist. Wie kommen Sie damit zurecht?

In dem ich viel mehr Sport als üblich mache (lacht).

Haben Sie immer eine gepackte Tasche im Flur, falls es mal schnell gehen muss?

Nein, ich glaube, das ist ein Mythos. Wenn nötig, packe ich schnell ein paar Sachen ein. Das habe ich immer so gemacht.

Gibt es darüber hinaus Angebote oder Anleitung der Heimatredaktion, psychisch oder physisch mit dem Druck umzugehen?

Natürlich. Seit dem Tsunami im Indischen Ozean 2004 ist das Auffangnetz für Korrespondenten in Krisen- und Kriegsregionen besonders beim ZDF sehr engmaschig. Das betrifft die Vorbereitung und Nachbetreuung durch ausgewiesene Trauma-Experten. Ich habe das bisher nicht in Anspruch genommen.

Hat sich die Anspannung seit dem Gefangenenaustausch Anfang August erhöht, als Putin westliche Journalistinnen und Journalisten ziehen ließ und damit die Gefahr verdeutlichte, sie gegebenenfalls als Faustpfand zu nutzen?

Dass diese Gefahr für uns besteht, wissen wir alle spätestens seit der Festnahme von Evan Gershkovich Anfang 2023.

Ein US-amerikanischer Reporter, der fürs Wall Street Journal aus Russland berichtet hatte und als erster westlicher Journalist seit dem Kalten Krieg wegen Spionage verhaftet wurde.

Genau. Seine Eltern stammen zwar aus der Sowjetunion, er hat aber als amerikanischer Staatsbürger keinen russischen Pass. Er ist also kein Doppelstaatler wie so viele andere Verurteilte, Alsu Kurmasheva und Wladimir Kara-Mursa zum Beispiel. Obwohl ich bei Gershkovichs Verhaftung noch gar nicht im Land war, ist seine Geschichte für mich der Elefant in jedem Raum. Von daher ist der Gefangenenaustausch nur ein weiterer Mosaikstein unserer Gefährdungslage. Und die hatte natürlich Einfluss auf meinen Entschluss, herzukommen.

Trotzdem sind Sie hier …

Natürlich denkt man darüber nach und wägt ab. Es wäre naiv, das nicht zu tun. Aber wie gesagt: Ich wollte gerne nach Russland, und das Interesse an einem Land und seinen Menschen hört nicht plötzlich auf, weil es dort schwierig ist.

Wie nehmen Sie die Stimmung unter denen wahr, die geblieben sind?

Na ja, die Gespräche sind immer problemzentriert, das liegt in der Natur der Sache. Wir sind alle unsicher und tauschen uns darüber viel auf Messengerdiensten aus. Mein Handy piept den ganzen Tag vor lauter Fragen, was einen da und dort erwartet. Ohne sich Tipps zu holen, fährt niemand mehr irgendwo hin.

Gefahrenlagen abzuklopfen ist demnach Teil der ganz gewöhnlichen Recherche?

Genau. Anders als in weniger komplizierten Ländern herrscht unter Journalisten deshalb viel mehr Support als Konkurrenz.

Gilt das auch für die deutsche Konkurrenz, Ina Ruck von der ARD zum Beispiel?

Absolut. Der Austausch ist auch mit Kolleginnen und Kollegen von RTL, dem Radioangebot der ARD oder der Presse sehr eng – bis hin zu Überlegungen, gemeinsam irgendwo hinzufahren oder es gemeinsam zu lassen.

Trifft man sich auch mal zum Abendessen?

Sofern es die Zeit zulässt.

Sie sind jetzt ein Jahr vor Ort. Gibt es eine Faustregel, wie lange Auslandseinsätze besonders in Krisen- und Kriegsgebieten normalerweise dauern?

Ich weiß nicht, ob man es Faustregeln nennen sollte, aber die Verträge werden meist nach dem 3+2-Prinzip abgeschlossen. Also drei Jahre plus die unausgesprochene Option auf zwei weitere. Dass ich sechseinhalb Jahre in Polen war, ist eher die Ausnahme. Manche bleiben zwar länger, aber irgendwann sollte Schluss sein.

Warum?

Weil andere, vielleicht jüngere Korrespondenten neue Blickwinkel mitbringen. So seltsam es klingt: Man berichtet für Deutschland; da sollte man sich eine deutsche Perspektive bewahren, die aber mit zunehmender Zeit vor Ort aus dem Blick geraten kann. Dazu kommt, dass in Ländern wie Russland der Arbeitgeber noch etwas genauer auf das körperliche oder geistige Wohlbefinden achtet.

Aber man hat doch erst nach drei bis fünf Jahren ein Netzwerk geknüpft, die Sprache erlernt, Routine erworben. Da klingt der dauernde Wechsel nach Sisyphos-Arbeit.

Stimmt. Als mein Vertrag in Warschau nach drei Jahren auslief, wollte ich deshalb noch bleiben. Quasi, um die Früchte meiner Arbeit an Sprache und Netzwerken zu ernten. Ich dachte mir: Ich bin taubstumm gekommen, jetzt hab ich’s drauf – da gehe ich doch nicht gleich wieder (lacht).

Könnten Sie nach dieser Extremerfahrung in zwei bis vier Jahren in krisenfesteren Gegenden wie Schweden oder der Schweiz arbeiten?

Die Frage habe ich mir schon bei Kollegen gestellt, die weggezogen sind. An Krisen gewöhnt man sich zwar nie ganz. Was allerdings zu einer gewissen Gewöhnung führt, ist die extrem hohe Schlagzahl an Berichten, Eindrücken, weltpolitischer Bedeutung, wie das gerade in Russland der Fall ist. Wenn ich in der Schweiz, Schweden, selbst New York oder London wäre, würde ich daher womöglich weiter gebannt auf den Kreml starren und mich fragen, was ich bloß so weit weg von dort mache. Im größten Land der Erde geht es immer um Krieg und Frieden, Leben oder Sterben. Das einfach abzustreifen, dürfte nicht so einfach werden.

Sie wollen also noch nicht über das Ende Ihrer Zeit in Russland nachdenken?

Überhaupt nicht, nein! Aktuell stelle ich mir nicht mal die Frage, ob ich nach drei Jahren verlängern werde. Ich bin jetzt hier, dann sehen wir weiter.

Und wenn man Ihre 84-jährige Mutter nach der Verlängerung fragt?

Würde sie sicher versuchen, von ihrem Vetorecht Gebrauch zu machen.

Hat Sie denn eins?

Leider nein.

Armin Coerper, 52, kommt aus Saarbrücken und hat Literatur- und Theaterwissenschaften studiert. Noch während des Studiums arbeitete er als freier Mitarbeiter für das ZDF, wo er später auch volontierte und als Reporter arbeitete – erst für die Hauptstadtredaktion, dann als Vertretung zahlreicher Korrespondenten weltweit, unter anderem in Tel Aviv, Kairo und Singapur. Nachdem er sechs Jahre lang für das ZDF-Format frontal aus Berlin berichtete, leitet er nun seit September 2023 das ZDF-Auslandsbüro in Moskau.

Jan Freitag arbeitet als freier Journalist in Hamburg.