Was, wenn uns die Realität nicht mehr reicht?
Mark Zuckerberg mit der „Superbrille“ Orion. Wearables lassen verschwimmen, was real ist und was nicht.(Foto: pa/Reuters/Manuel Orbegozo)
In seinen Texten hat unser Autor Richard Gutjahr schon früh über die Verheißungen, aber auch die Schattenseiten sozialer Medien berichtet. Nun warnt er vor einer neuen Technologie: Smartbrillen.
21.01.2025
In einem Interview für das Technologiemagazin The Verge erzählte der Hollywood-Schauspieler Keanu Reeves jüngst von einem Abendessen bei einem befreundeten Regisseur, das ihn sprachlos machte: Der Gastgeber bat ihn, seinen Kindern die Handlung des Films Matrix zu erklären. Reeves schilderte, wie sein Protagonist Neo, den er im Film verkörperte, in einer virtuellen Simulation lebt, die er für das echte Leben hält – bis er die wahre Realität entdeckt. Die Reaktion der Teenager verblüffte ihn: „Na und? Wen interessiert’s, ob es echt ist?“
Als vor einem Vierteljahrhundert der Science-Fiction-Blockbuster Matrix in die Kinos kam, existierten weder iPhone, noch Facebook oder WhatsApp. Heute ist das Smartphone mit den Händen der meisten Menschen fast schon verwachsen, und es scheint, als wären wir nicht mehr weit entfernt von jener düsteren Zukunftsdystopie der Wachowski-Schwestern. Wir leben in einem Zeitalter digitaler Parallelwelten, alternativer Fakten und gefühlter Wahrheiten, in dem eine Handvoll mächtiger Tech-Oligarchen die Regeln diktieren.
Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen spricht in diesem Zusammenhang von einer paradoxen Gleichzeitigkeit des Verschiedenen (siehe Interview). „Einerseits bekamen viele Menschen, die vorher öffentlich nicht vorkamen, dank Smartphone und Sozialer Medien eine Stimme“, sagt Pörksen, der als Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen forscht. „Andererseits erleben wir eine Vermachtung und Re-Feudalisierung des kommunikativen Raumes, die es so in der Mediengeschichte noch nie gab.“
Das Auge als Einfallstor für die KI
Als wäre aus Fiktion Wirklichkeit geworden (oder aus der Wirklichkeit Fiktion?) überschlagen sich in diesen Tagen die Ereignisse. Tech-Milliardäre wie Elon Musk, Mark Zuckerberg aber auch Amazon-Gründer und Washington-Post-Besitzer Jeff Bezos geben sich in Mar-a-Lago die Klinke in die Hand, um den Ring des nächsten US-Präsidenten zu küssen. Der Kniefall von Zuckerberg vor Trump, sämtliche Faktenchecker auf den Meta-Plattformen abzuschaffen, löste ein mediales Beben aus, das sich vom Silicon Valley im Westen bis zur Ostküste der USA quer über das gesamte Land zog.
Über das Wettrüsten bei der Künstlichen Intelligenz (KI) ist schon viel berichtet worden. Keine Woche, ohne dass einer der großen Player eine neue, noch leistungsfähigere Version seines Services anbietet. Was den KI-Systemen allerdings noch fehlt, ist eine direkte Schnittstelle zwischen ihren Superrechnern und dem menschlichen Betriebssystem, unserem Gehirn. Doch dieser Durchbruch steht kurz bevor, in Form von Wearables, also smarter Kopfhörer oder Brillen.
Das Sinnesorgan mit der schnellsten Verbindung zum Gehirn ist das Auge. Kein Wunder, dass die Tech-Konzerne genau hier andocken wollen. Wer die Welt sprichwörtlich durch unsere Augen sieht, kann seine Produkte noch präziser und individueller auf unsere Wünsche ausrichten. Und auf unsere Ängste.
Die Smartbrille sei die nächste große Computerplattform, verkündete Mark Zuckerberg im Dezember. 2025 werde „ein großes Jahr für Meta-Brillen“, postete der Konzernchef auf Facebook, Instagram und Threads. Ein großes Jahr nicht nur für Meta, wie es scheint: Nach Apple und Meta hat jetzt auch Google kurz vor Weihnachten sein Betriebssystem für Spatial Computing, also räumliche Computer-Anwendungen, vorgestellt.
Die ersten Brillen mit dem Google-Betriebssystem sollen von Samsung gebaut werden. Meta bietet bereits eine erste Ray-Ban-Smartbrille an, die zwar noch über kein integriertes Display verfügt, dafür aber über eine Kamera. Und die ist entscheidend für den nächsten großen Technologiesprung. Denn Smartbrillen und KI bedingen sich gegenseitig.
So präsentierte OpenAI-Chef Sam Altman jüngst eine neue Funktion, mit der ChatGPT über die Smartphone-Kamera die Umgebung eines Nutzers beobachten und in Echtzeit auswerten kann. Eine – wenn nicht sogar die – Killer-Funktion für jede Smartbrille.
So kann die KI dem Nutzer im Alltag wichtige kontextbezogene Tipps und Anwendungen liefern: Wegbeschreibungen etwa oder Simultanübersetzungen im Ausland. Das setzt natürlich voraus, dass die KI, ähnlich wie die fahrerlosen Taxis in den Straßen von San Francisco, die Umgebung des Nutzers ständig im Blick hat und sofort reagieren kann.
Willkommen in der Matrix
Vor einem Jahr flog ich nach New York, um mir dort gleich zum Verkaufsstart eine Apple Vision Pro zu besorgen. Doch meine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Das Headset im Format einer Skibrille, die man sich mit breiten Gurten vor die Augen schnallt, ist definitiv kein Massenprodukt: groß, schwer, vor allem aber teuer (knapp 4.000 Euro). Doch nachdem ich nun seit fast einem Jahr täglich damit arbeite, hat sich mein Blick – sowohl auf das Apple-Gerät als auch auf die Welt – verändert.
Langsam beginne ich zu begreifen, wie Wearables unser Leben, unsere Medienwelt, unsere Wahrnehmung der Realität für immer verändern könnten – und das noch drastischer, als Smartphones und Soziale Medien das bislang vermochten.
Wenn ich in dem Augenblick, während ich diese Zeilen schreibe, auf meine Umgebung blicke, sehe ich durch das Apple-Headset das Hotelzimmer, vor mir den Schreibtisch und meinen Laptop. Was ich zusätzlich sehe, was sonst niemand außer mir im Raum sehen kann, sind Dutzende Notizen, geöffnete Webseiten, Interview-Transkripte sowie meine Spotify-Playlist, die allesamt rund um mich herum frei im Raum schweben. Die Brille kombiniert das, was mein Auge sieht, mit digitalen Elementen, die zusammen zu einer Mixed Reality werden.
Es gibt einen weiteren Grund, weshalb KI-Entwickler ungeduldig auf das Zeitalter der Smartbrille hoffen. Nachdem KI-Unternehmen inzwischen nahezu das gesamte offene Web, inklusive Fotodatenbanken und Videos, ausgelesen haben, gehen ihnen die Trainingsdaten für ihre Modelle aus. Einer der wertvollsten Rohstoffe für jede KI sind organische, personenbezogene Daten – warum also nicht direkt aus den Augen der Nutzer?
Meta hatte im vergangenen Jahr versucht, sich rückwirkend eine Generalerlaubnis zu erschleichen, um sämtliche Nutzerkommentare, -fotos, -videos und -chats auf Facebook, Instagram und WhatsApp posthum zum Training seiner KI benutzen zu dürfen. Sollte man nicht binnen vier Wochen aktiv Widerspruch einlegen, werde das von Meta als Zustimmung gewertet. Ein dreister Versuch, die EU-Datenschutz-Grundverordnung zu unterlaufen, die ein solches Opt-out-Verfahren klar verbietet. Nach ersten Protesten wurde die Aktion laut Meta vorübergehend „pausiert“.
Spätestens wenn Smartbrillen kompakt und erschwinglich genug sind, dass sie unsere Smartphones ablösen, verschmelzen die analoge und die digitale Welt zu einer neuen, veränderten Realität. Und das so fotorealistisch, unmittelbar vor unseren Augen, dass man physisches Sein und virtuellen Schein nur noch schwer auseinanderhalten kann. Willkommen in der Matrix.
Wir kennen den Phantomschmerz
Der krasseste Effekt meines Apple-Headsets hat sich übrigens erst offenbart, als ich es wieder abgenommen habe: Nach etwa einer halben Stunde in der Mixed-Reality-Matrix hat mein Gehirn offenbar in eine neue Wirklichkeit umgeschaltet. Die erweiterte „Realität Plus“ ist für mich zur Norm geworden, die gewöhnliche Umgebung ohne Brille erscheint mir plötzlich als eine „Realität Minus“. Als mir das zum ersten Mal passiert ist, war ich fast enttäuscht, meinen Superblick verloren zu haben. Die Realität? Nicht mehr gut genug.
Am ehesten lässt sich diese Sehnsucht vergleichen mit dem Phantomschmerz, den man empfindet, wenn man sein Smartphone verlegt oder der Akku des Geräts zur Neige geht. Wir werden unruhig, weil wir ohne Smartphone nicht mehr erreichbar, kaum mehr handlungsfähig sind.
„Unser Gehirn ist sehr anpassungsfähig”, erklärt Alena Buyx im Gespräch. „Setzt man die Brille ab, kann die echte Welt flach oder reduziert wirken.“ Buyx ist Medizinethikerin, Professorin und frühere Vorsitzende des Deutschen Ethikrats. Dieser Effekt könne zu Problemen führen, etwa Depersonalisationsstörungen, sagt sie. Vor allem bei Kindern und Jugendlichen, deren Hirnareale für die Verarbeitung visueller Informationen noch nicht vollständig ausgereift sind.
Dabei können simulierte Welten auch positive Effekte haben. „Virtual Reality und zu einem geringeren Anteil auch Augmented Reality werden aktuell bei verschiedenen psychischen Erkrankungen erprobt“, sagt Dr. Niclas Braun, Forschungsgruppenleiter für VR-Therapien am Universitätsklinikum Bonn. Eine Therapiemethode, für die bereits eine gute Wirksamkeit nachgewiesen werden konnte, ist die virtuelle Expositionstherapie. Sie wird unter anderem bei verschiedenen Angststörungen sowie posttraumatischen Belastungsstörungen eingesetzt.
In einem Punkt sind sich Wissenschaft und Wirtschaft einig: Wearables sind mit unseren wichtigsten Sinnesorganen physisch verbunden und damit weitaus wirksamer als separate Geräte wie Laptops oder Telefone. Wenn in Zukunft jeder Mensch seine individuelle Wirklichkeit direkt auf die Netzhaut projiziert bekommt – auf welche Realität können wir uns als Gesellschaft noch einigen? Ich sehe was, was du nicht siehst – und das ist gar nicht da.
Die Realität loslassen
Der weiße Designer-Mantel des Papsts, die Piraten-Augenklappe von Olaf Scholz – was ist KI, was ist echt? Und was, wenn die Übergänge zwischen real und fake immer selbstverständlicher ineinanderfließen? Die neue Generation von Smartphones mixt Realbild und KI-Korrekturen bereits mit Drücken des Auslösers zu Ereignissen, die so nie stattgefunden haben. Als memories reimagined bewirbt Google diese neue Funktion seiner Kameras. Gefühlte Erinnerungen.
Was passiert, wenn die Realität weiter erodiert und am Ende niemand mehr irgendetwas glaubt – nicht einmal die Wahrheit? Wenn die Generationen nach uns solche Fragen für komplett überflüssig halten, weil Tech-Konzerne mit ihren Fakes längst Fakten geschaffen haben?
Echt, erfunden – wen interessiert’s? „Total irre!”, sagt Matrix-Hauptdarsteller Keanu Reeves im Interview über die Gleichgültigkeit der Jugend. „Fast so, als sei die Realität etwas aus einer fernen, vergangenen Welt. Als seien wir ältere Versionen unserer selbst und man möchte uns mitleidig zurufen: Lasst einfach los!“
Richard Gutjahr ist Journalist und Digitalexperte. Als Krisenreporter berichtete er unter anderem über den Arabischen Frühling in Kairo. Heute schreibt er für zahlreiche Zeitungen und Magazine. Aktuell lebt und arbeitet er in San Francisco.
Wenn die echte Welt zu langweilig wird
Was geschieht mit uns, wenn die virtuelle Welt realer wirkt als die echte? Im Interview spricht die Medizinethikerin Alena Buyx über Vorteile und Risiken von Smart-Brillen und die Verantwortung der Tech-Konzerne.
Journalist: Frau Buyx, warum verblasst die echte Welt nach dem Absetzen einer Smart-Brille?
Alena Buyx: Das kennen wir von Videospielen und Sozialen Medien. Onlinesucht ist inzwischen von der WHO als Krankheit anerkannt. Eine Technologie wie die Smart-Brille, die noch immersiver ist, kann diese Effekte verstärken. Man erlebt eine künstliche, sehr echt wirkende Realität. Setzt man die Brille ab, kann die echte Welt flach oder reduziert wirken.
Wie entsteht diese veränderte Wahrnehmung?
Unser Gehirn ist sehr anpassungsfähig. Bei VR-Anwendungen beobachten wir, dass der Dopaminhaushalt stark aktiviert wird, was belohnend wirkt und die virtuelle Erfahrung attraktiv macht. Und die Raumwahrnehmung verändert sich. Das Gehirn gewöhnt sich an die intensiven Reize des virtuellen Raums, die echte Welt ist langsamer, langweiliger. Das kann bis hin zu Abhängigkeitsgefühlen gehen. Studien zeigen, dass bis zu 20 Prozent der Nutzer solche Effekte erleben.
Warum sind gerade junge Menschen besonders anfällig?
Kinder und Jugendliche sind noch in der Entwicklung, was das visuelle System betrifft. Die Hirnareale, die für die Verarbeitung visueller Informationen zuständig sind, sind noch nicht ausgereift. Immersive Technologien können diese Entwicklung beeinflussen. Es besteht das Risiko, dass sich die Wahrnehmung von Realität und Virtualität vermischt oder das visuelle System überlastet. Man hat schon zunehmende Kurzsichtigkeit und andere Augenprobleme beobachtet.
Betrachten Sie Smart-Brillen als eine Gefahr?
Es kommt darauf an. Augmented Reality- und Virtual Reality-Brillen werden bereits didaktisch und therapeutisch erfolgreich eingesetzt. Da gibt’s tolle Anwendungen. Gleichzeitig könnten sie aber auch die Probleme, die wir mit unseren Smartphones haben, verstärken.
Inwiefern?
Bei Smartphones sehen wir schon jetzt, wie sie unsere Konzentration, Aufmerksamkeit, Kommunikation und Fitness beeinträchtigen. Smart-Brillen könnten das verschärfen, weil wir sie ständig vor Augen haben. Das könnte unser Körpergefühl oder unsere sozialen Interaktionen noch stärker verändern.
Was halten Sie von Menschen, die gar nicht mehr zwischen real und fake unterscheiden wollen?
Es gibt philosophischen Theorien, die besagen, dass wir ohnehin in einer Matrix leben – vielleicht sogar zwei Körper haben: Einen in der realen Welt und einen in der virtuellen. Für manche wäre das kein Problem, eher ein Fortschritt. Aber für viele wird es herausfordernd, wenn die Welten verschwimmen. Einige könnten leichter den Bezug zur Realität verlieren.
Welche Verantwortung tragen dabei die Tech-Konzerne?
Eine gewaltige – und die wird zu selten wahrgenommen. Die großen Plattformbetreiber wissen genau, welche Suchtwirkung ihre Produkte haben. Trotzdem stehen Mechanismen, die uns möglichst lange in ihrer Welt gefangen halten, im Vordergrund, aus ökonomischen Gründen. Wenn sich das nicht ändert, sollte die Politik eingreifen – im Interesse unserer mentalen Gesundheit. Das wird ein harter Kampf. Immersive Technologien in Kombination mit KI haben viele Fans, denen die Risiken nicht wichtig sind. Und die Konzerne dahinter sind mächtig.
Was ist Ihr Appell an Journalistinnen und Journalisten?
Lassen Sie sich nicht einlullen. Die Tech-Konzerne glorifizieren ihre Innovationen gerne. Dabei sind das weder Heilsversprechen, noch Horrorvisionen, sondern Werkzeuge. Professionelle Berichterstatter sollten genau hinschauen, aufklären und nicht einfach nur den nächsten Hype mitfeiern.
Prof. Dr. Alena Buyx ist Medizinethikerin und Direktorin des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin an der TU München. Sie ist Autorin mehrerer Bücher, darunter „Das Solidaritätsprinzip“ (2016) und „Leben und Sterben“ (erscheint 2025).
„Ich kann die Politpredigten nicht mehr ertragen“
Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen spricht darüber, weshalb Politik und Bildungssysteme mit der rasanten Entwicklung digitaler Technologien nicht mithalten können.
journalist: Herr Pörksen, was waren bisher die negativsten Effekte, die Smartphone und Social Media auf unsere Gesellschaft hatten?
Bernhard Pörksen: Ich tue mich schwer mit einer Antwort – als bekennender Liebhaber der Ambivalenz und Verteidiger der Grautöne. Wir erleben aktuell die paradoxe Gleichzeitigkeit des Verschiedenen. Einerseits ist da die Öffnung des kommunikativen Raumes. Wunderbar, dass auf einmal so viele Menschen eine Stimme bekommen. Andererseits erleben wir eine Vermachtung und Re-Feudalisierung dieses Raumes, die es so in der Mediengeschichte noch nie gab. Hier regieren Schattenpräsidenten wie Elon Musk, der seine Plattform X längst in eine Waffe verwandelt hat.
Aber zurück zu meiner Frage nach Smartphones und Social Media.
Beides sind Werkzeuge, die ein Doppelgesicht haben. Sie erlauben die Vernetzung der Marginalisierten. Sie konfrontieren einen mit dem Geschenk des Informationsreichtums. Aber sie sind auch Ad-hoc-Instrumente zur Verbreitung von Propaganda und Desinformation in nie gekannter Intensität. Alles gleichzeitig. Am Ende steht hinter dem Werkzeug ein Mensch, mal ein libertärer Staatsfeind mit zu viel Geld und Macht; mal ein von Missbrauch Betroffener, der die entscheidende Minute einer Attacke mit dem Smartphone aufzeichnet, sie einem Weltpublikum zeigt.
Was waren Versäumnisse von Politik oder Medien bei der Regulierung und Aufklärung?
Ich sehe drei Versäumnisse. Erstens im Bereich der Bildung – man denke an den Digitalpakt, der jeder Schule die Aufgabe überträgt, individuelle Medienbildungskonzepte zu liefern. Das zweite Versäumnis sehe ich im Diskurs. Man denke hier an das entsetzlich abstrakte Medienkompetenz-Gerede, das nicht mehr auf der Höhe der Zeit ist. Ich jedenfalls kann diese Pädagogik- und Polit-Predigten in Sachen Medienmündigkeit nicht mehr ertragen. Hier fehlt die wertgebundene, pragmatische Erdung des Diskurses. Das dritte Versäumnis ist die Plattform-Regulierung, eine ungeheuer schwierige Aufgabe. Wie kann man den Kampf gegen Desinformation führen, ohne die Kommunikationsfreiheit zu beschneiden? Die gute Nachricht: Hier macht die EU – im Vergleich zu den USA – große Fortschritte.
Wenn die Maschine bald emphatischer wird als der eigene Partner, welche Folgen hätte das für Mensch-zu-Mensch-Kommunikation und gesellschaftlichen Zusammenhalt?
Ich bin kein guter Prognostiker, aber meine Hypothese lautet: Es gibt eine Übergangsphase des Hypes, der von der Idee lebt, dass der Mensch austauschbar wird. Aber am Ende bleiben Schönheit und Unberechenbarkeit menschlicher Kommunikation entscheidend, so mein Glaubenssatz. Und gleichzeitig gibt es eine merkwürdige Dialektik: Durch die technisch simulierte Empathie werden wir uns nach menschlicher Empathie sehnen.
Was bedeutet das?
Ich habe in den letzten Jahren jeweils in den Sommermonaten intensiv im Silicon Valley die ersten Sozialen Netzwerke erforscht. Die entscheidenden Gesprächspartner der Big Tech-Industrie habe ich nicht vor dem Bildschirm sitzend getroffen, die Smart-Brille im Gesicht, sondern in spirituellen Zentren in Big Sur oder Santa Cruz, auf der Yogamatte, während ihrer Achtsamkeitsübungen, voller Sehnsucht nach Begegnung, echtem Austausch. Man hat die Aufmerksamkeit der Weltgemeinschaft fragmentiert, sucht aber nun den Ausgleich. Das ist grotesk und elitär. Aber ich rechne mit Umschwüngen und der Herausbildung von technologiefernen Gegenwelten.
Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der
Universität Tübingen. Ende Januar erscheint sein neues Buch: „Zuhören. Die Kunst, sich der Welt zu öffnen“ (Hanser Verlag).