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"Was ist das für eine Unternehmenskultur?"
"In Deutschland wurde über viele #MeToo-Vorwürfe noch gar nicht berichtet", sagt Juliane Löffler. (Foto: Paulina Hildesheim)
Juliane Löffler (35) ist jene Journalistin des Ippen-Investigativ-Teams, die mit ihren Recherchen zu Springer und Julian Reichelt maßgeblich dazu beigetragen hat, dass die Verfehlungen des ehemaligen Bild-Chefs an die Öffentlichkeit gekommen sind.
Interview: Jan Freitag, Fotos: Paulina Hildesheim
01.12.2021
Seit Mitte Oktober laufen die Mail-Fächer von Juliane Löffler über. Und das, obwohl ihre eigentliche Recherche zu Julian Reichelt gar nicht wie geplant in den Ippen-Medien veröffentlicht wurde. Die Ergebnisse haben trotzdem ihren Weg an die Öffentlichkeit gefunden. Der journalist hat Juliane Löffler exklusiv zum Gespräch getroffen.
journalist: Frau Löffler, Sie haben Mediengeschichte geschrieben und mit Ihren Recherchen keinen Geringeren als den Bild-Chef gestürzt. Wie schauen Sie heute auf das, was Mitte Oktober passiert ist?
Juliane Löffler: Vielen Dank, aber das war kein Alleingang. Es gab viele mutige Quellen, ohne welche diese Recherche nie möglich gewesen wäre, unser Team von Ippen Investigativ hat mitgearbeitet und unterstützt, und die Kolleg:innen vom Spiegel hatten selber Rechercheergebnisse und haben uns wahnsinnig schnell den Platz und sehr umfangreich Unterstützung zur Verfügung gestellt. Die Tage um die Veröffentlichung herum waren ein wilder Ritt für alle Beteiligten, und es wird noch etwas dauern, bis ich da mit Abstand drauf schauen kann. Es fühlt sich aber auch nicht so an, als wäre jetzt alles vorbei – in meinem Postfach ist noch gar keine Ruhe eingekehrt, auch weil sich neue Quellen aus ganz verschiedenen Bereichen melden.
Geht der Chefredakteurswechsel bei Bild aus Ihrer Wahrnehmung mit echten Veränderungen bei Springer einher?
Der Fokus der öffentlichen Debatte nach der Veröffentlichung lag sehr stark auf den betroffenen Frauen. Was bisher wenig gefragt wurde: Welche Personen haben bei Springer dieses System von Machtmissbrauch wissentlich übersehen, es zugelassen oder sogar unterstützt? Was ist es für eine Unternehmenskultur, in der derartige Missstände über Jahre möglich sind? Welche Rolle spielt Angst, welche Rolle Sexismus, welche Rolle spielen andere mächtige Männer in dem Unternehmen? Wie ernsthaft und nachhaltig Springer das aufarbeiten und verändern will, wird das Unternehmen selbst entscheiden.
Hatten Sie nach der Veröffentlichung Kontakt mit Ihren Informanten? Wie geht es den Betroffenen?
Ein Kontakt mit Quellen geht immer über die Veröffentlichung hinaus, aber natürlich reduziert er sich dann stark, und das muss auch so sein, damit Kapazitäten für neue Recherchen frei werden. Die Reaktionen der Quellen waren unterschiedlich, aber viele haben mir signalisiert, dass sie sehr erleichtert waren, dass das Fehlverhalten Reichelts nun Konsequenzen hatte. Eine Nachricht hat mich besonders gefreut. Eine Quelle schrieb mir: "Ich denke, jetzt kann Ruhe einkehren in alle Herzen, und dafür danke."
Haben sich jetzt noch neue Informanten gemeldet?
Es melden sich derzeit sehr viele Menschen aus ganz unterschiedlichen Bereichen. Die Woche nach der Veröffentlichung haben mich so viele Nachrichten erreicht, das fand ich regelrecht schockierend. Da wurde mir noch einmal ganz klar: Missbrauch – nicht immer, aber meist gegen Frauen – ist in der Medienbranche, aber auch in so vielen anderen Branchen so weit verbreitet, davon haben wir nur ansatzweise eine Vorstellung. Ich glaube, dass wir mit den großen und wichtigen #MeToo-Recherchen noch immer am Anfang stehen, einen tiefen Abgrund jahrzehntelanger Missstände aufzuklären. Presse spielt in diesem Prozess eine wichtige Rolle, aber sicher nicht die einzige.
Wird durch investigativen Journalismus wie diesen das Renommee der Medien als Vierte Gewalt hierzulande gestärkt, weil er die Selbstheilungs- und Enthüllungskräfte belegt, oder geschwächt, weil das System Reichelt ebenfalls Teil der Medien ist?
Im Fall von Reichelt hatte ich einen Job zu tun, nämlich Missstände an die Öffentlichkeit zu bringen, und dabei kann ich keine Rücksicht darauf nehmen, ob es der Branche hilft oder ihr schadet. Aber: Wenn wir uns als Branche eigene Schwächen und Fehler eingestehen, dann stärkt das unsere Arbeit doch, weil das die Grundlage dafür ist, sie besser zu machen. Das öffentlich zu diskutieren, kann schmerzhaft sein, aber erhöht auch den Druck, etwas zu verändern. Das trifft übrigens nicht nur auf Missbrauch, Sexismus oder Gewalt zu, sondern auch auf unsere Arbeitsbedingungen oder darauf, wie wir uns für unsere Leserschaft positionieren, also zum Beispiel, wie transparent wir unsere Arbeitsmethoden machen.
Bezeichnen Sie sich eigentlich selbst als investigative Journalistin?
Ich habe zumindest in den vergangenen drei Jahren investigativ gearbeitet.
Aber sollte das nicht der Anspruch aller sein, die Journalismus betreiben?
Natürlich sollte "Investigation" im Sinne von "aufspüren", "untersuchen", "überprüfen" idealerweise Teil jeder journalistischen Arbeit sein. In der Investigation geht es aber darum, etwas Neues aufzudecken, was Behörden oder Unternehmen selbst nicht aufdecken können, wollen oder verschleiern. Es geht darum, Hürden zu überwinden und manchmal auch sehr lange an Themen dranzubleiben. Meine Rolle ist es, diese Informationen an die Öffentlichkeit zu bringen und weniger, sie zu bewerten oder zu kommentieren.
Ist dieser Aufdeckungsanspruch am Ende damit auch politisch statt nur journalistisch?
Mit der Frage, was recherchieren, was veröffentlichen wir, nimmt man natürlich Themensetzungen vor. Sie bewirkt also schon deshalb gesellschaftlich etwas, weil sie sich daran orientiert oder auch auslotet, welche Art der Berichterstattung vom gesellschaftlichen Diskurs gedeckt ist. Was wir zum Beispiel über Julian Reichelt publiziert haben, wäre ein paar Jahre vor der #MeToo-Debatte vielleicht so nicht möglich gewesen.
Hat investigativer Journalismus demnach auch mit informationeller Nachfrage zu tun?
Zumindest insofern, als diese Nachfrage juristische, gesellschaftliche, politische Widerstände gegen oder für eine Berichterstattung prägt. Welches Risiko zum Beispiel Quellen eingehen, namentlich in einer öffentlichen Debatte aufzutauchen und im Anschluss womöglich diffamiert zu werden oder welche rechtlichen Folgen sich für sie und uns daraus ergeben.
"Welche Personen haben bei Springer dieses System wissentlich übersehen, es zugelassen oder sogar unterstützt?"
Dass nach #MeToo-Veröffentlichungen noch heute debattiert wird, ob Betroffene selber schuld seien, macht es noch schwieriger; da werden teils ganz grundsätzliche Mechanismen von Machtmissbrauch gar nicht verstanden. Die Grenzen des Sag- und Machbaren immer wieder aufs Neue auszuloten, ist nicht nur, aber auch Aufgabe des investigativen Journalismus.
Ist das Thema #MeToo, also sexualisierte Gewalt und die Machtstrukturen dahinter, erst durch den Fall Harvey Weinstein zu Ihrem Arbeitsschwerpunkt geworden?
Ich hatte schon vorher viel zu Frauenrechtsthemen gearbeitet, allerdings beim Freitag, wo ich nicht in der Rolle war, investigativ zu arbeiten, weil das Medium ein anderes ist. Vom ersten Verdacht gegen Julian Reichelt an habe ich mehr als ein Jahr an dieser Geschichte gearbeitet, davon die vergangenen drei Monate fast ausschließlich. Diese Freiheit unabhängig vom aktuellen Produktionsdruck findet man in wenigen Redaktionen.
Vom Kosten-Nutzen-Denken vieler Medien in Zeiten des Sparzwangs ganz zu schweigen.
Ganz genau, Journalismus muss eben auch bezahlt werden. In die Position, dass man mir die Freiheit zu so langen Recherchen auch im Bereich von #MeToo finanziert, bin ich erst durch Buzzfeed News und Ippen Investigativ gekommen.
Und war Ihr Interesse daran auch biografisch, also weiblich geprägt oder rein journalistischer Natur?
Journalistisch bin ich von einem Gerechtigkeitsdenken getrieben, ich möchte Menschen, die Ungerechtigkeit erleben, eine Stimme geben. Aber natürlich bin ich als Frau oder später Studentin der Kulturwissenschaften auch biografisch vom Thema Gleichberechtigung geprägt. Als Journalistin ist es meine Aufgabe, unabhängig zu sein, aber natürlich ist man immer auch in der eigenen sozialen Rolle geprägt. Deshalb finde ich es so wichtig, dass Medienhäuser diverser werden. Wer einmal grundsätzliche Ungerechtigkeiten erkannt hat, wie etwa die gesellschaftliche Schlechterstellung von Frauen, kann das nicht mehr ungesehen machen. Wenn man durch diese Tür geht, kommt man nicht mehr zurück. Das ist Antrieb und Auftrag zugleich.
Wie gelingt es Ihnen bei Recherchen zum Thema #MeToo, die gebotene Nüchternheit nicht von der persönlichen Betroffenheit beeinträchtigen zu lassen?
Indem ich mich generell gut von meiner Arbeit abgrenzen kann, das ist auch Übung. Aber auf diesem Feld ist es in der Tat oft eine extrem große Herausforderung, sich seiner eigenen Rolle bewusst zu werden. Man baut zu den Quellen ein großes Vertrauen und oft eine große Nähe auf, das wirkt dann in beide Richtungen. Es ist immer eine große Verantwortung und auch Herausforderung, diesem Vertrauen gerecht zu werden und gleichzeitig die eigene Rolle als Journalistin zu bewahren. Und manchmal klaffen das Bedürfnis an Aufklärung der Öffentlichkeit und das, was Journalismus tatsächlich leisten kann, auseinander – dann hat man etwa sehr viele Informationen, kann aber nur einen kleinen Teil davon veröffentlichen.
Waren Sie schon mal am Punkt, eine Recherche abzubrechen, weil sie Ihnen zu belastend oder emotional nah war?
Nee.
Weil Neugierde und Ehrgeiz gesiegt haben?
Eher die Einschätzung meiner Kapazitäten. Als ich kürzlich Hinweise auf einen Fall von Kindesmissbrauch bekommen hatte, galt mein Heidenrespekt davor nicht der emotionalen Belastung, sondern dem zu erwartenden Rechercheaufwand, der allein schon deshalb Monate dauern dürfte, weil ich mich juristisch in ein völlig neues Feld einarbeiten muss. Wenn ich nicht ausreichend Zeit und Wissen für eine Recherche habe, versuche ich, sie an Kolleg*innen zu vermitteln, die tiefer im Stoff stecken und dem Anspruch, mit der Recherche wirklich etwas zu bewegen, näherkommen.
"Missbrauch – nicht immer, aber meist gegen Frauen – ist in der Medienbranche, aber auch in so vielen anderen Branchen so weit verbreitet, davon haben wir nur ansatzweise eine Vorstellung."
Hat Ihre Enttarnung von Julian Reichelts System sexualisierter Machtausübung wirklich etwas bewegt, ist #MeToo seither weitergekommen?
Natürlich wollen alle Journalist*innen, dass ihre Recherchen gesellschaftspolitische Folgen haben oder mindestens Diskurse anstoßen. Die allerdings bestehen ja immer auch darin, uns Kampagnenjournalismus vorzuwerfen oder Schuldfragen dahingehend umzudrehen, Betroffene seien für den Machtmissbrauch der Täter mitverantwortlich. Das sorgt, wie ich finde, bei den Quellen nachvollziehbarerweise für Irritationen und führt womöglich dazu, andere abzuschrecken. Dass solche Debatten alle Haltungen zum Thema abbilden, ist Teil der Demokratie, darf aber nie zur Relativierung objektiver Missstände führen und übergriffiges Verhalten zur Privatsache erklären. In diesem Fall haben unserer Recherchen weitere Betroffene ermutigt, sich an uns und andere zu wenden. Daran sehe ich, dass vieles auch dank Recherchen heutzutage sagbarer ist und auf offenere Ohren stößt.
„Der Mut der Quellen, zu sprechen, ist das wichtigste an der Verdachtsberichterstattung. Ihnen gilt mein größter Dank.“
Über die mediale Öffentlichkeit in Deutschland wird gesagt, sie kümmere sich mehr ums System sexualisierter Gewalt als um dessen Opfer – ist das Einzelschicksal aus Ihrer Sicht berichtenswerter oder die Strukturen dahinter?
Tiefgreifende Recherche würdigt den Einzelfall, um das System dahinter zu verstehen. Besonders im Fall von #MeToo ist es jedoch wichtig, die Namen der Täter zu nennen, also auch all jene im Springer-System, das Julian Reichelt über Jahre getragen hat. Das Amerikanische hat dafür die Formulierung holding power to account, damit sich Menschen in Machtpositionen aktiv mit ihrem Fehlverhalten auseinandersetzen. Das geht nur, wenn man konkrete Namen nennt.
Verstärkt es den Veränderungsprozess, wenn auch die Namen der Opfer genannt werden?
Vielleicht, aber das verhindert abgesehen vom Quellenschutz schon die Sorge der Betroffenen vor rechtlichen, beruflichen, sozialen Konsequenzen, von Verleumdungsklagen über Hasskommentare bis hin zur stigmatisierenden Opferrolle. Wir Journalist*innen firmieren da als Schutzwälle anonymer Quellen, die Auseinandersetzung gegebenenfalls an ihrer Stelle juristisch und kommunikativ auszutragen.
Sind dem Springer-Konzern die Namen der Opfer von Julian Reichelt bekannt?
Einige sind im Konzern bekannt, andere nicht. Wobei Springer auf die Vorwürfe laut eigener Aussage teilweise nicht reagiert hat, weil sie anonym waren – was schon deshalb seltsam ist, als die Betroffenen nicht heimlich Zettel in Briefkästen gesteckt haben, sondern offiziell mit der Agentur Freshfields gesprochen, also jener Kanzlei, die Springer zur Aufklärung der Vorwürfe gegen Julian Reichelt beauftragt hatte. Dass Mathias Döpfner noch immer von "Hintermännern" spricht, die angeblich das Vorgehen organisierten, ist erstaunlich. Meine Quellen haben sich entschieden, mit der Presse zu sprechen, weil sie selbst wollten, dass die Missstände aufgeklärt werden.
Gibt es im investigativen Journalismus eine Art Jagdtrieb, Täter zur Strecke zu bringen?
Jagdtrieb?
Den Ehrgeiz, Prominente wie Julian Reichelt, der als Kollege ja auch berufsethische Regeln bricht, unschädlich zu machen und als Trophäe in die Vitrine zu stellen?
Davon abgesehen, dass mir weder das Wort "Jagdtrieb" noch "Trophäe" hier gefällt, ist meine Herangehensweise anders. Erst nach der Frage zum Missstand geht es um die handelnde Person, deren Bekanntheitsgrad oder das öffentliche Interesse daran. Als sich meine #MeToo-Recherchen noch auf weniger prominente Personen bezogen haben, war mein Handwerk exakt das gleiche. Klar freue ich mich über das öffentliche Interesse, das die Reichelt-Recherche erzeugt, würde mir aber wünschen, dass es auch bei weniger prominenten Fällen entsteht.
Zum Beispiel?
Mein Kollege Thomas Vorreyer und ich haben mal zu einem Berliner HIV-Arzt recherchiert, der schwule Patienten mutmaßlich sexuell missbraucht hat. Obwohl die Folgen für seine Opfer kaum weniger gravierend waren als bei Bild, mussten wir kämpfen, überhaupt Öffentlichkeit herzustellen. Trotzdem stelle ich mir stets die Frage, inwieweit unsere Recherche systemisches Versagen offenlegt, und da ist die Erzählung hinter Julian Reichelt ungleich größer als der Fall selbst. Wie ist Macht in Unternehmen generell verteilt? Erlaubt und fördert sie Sexismus und Missbrauch? Und wie kann man als Konsequenz Betroffene vor toxischen Unternehmenskulturen schützen?
Dieser Unternehmenskultur bei der Bild-Zeitung war Ippen Investigativ ja schon vor dem Compliance-Verfahren gegen Julian Reichelt auf der Spur.
Genau.
Kamen die ersten Hinweise seinerzeit aus der Redaktion oder von außen?
Zu den Quellen kann ich nichts sagen, aber einige wollten zunächst das Compliance-Verfahren abwarten, in der Hoffnung, Springer würde wie versprochen ernsthafte Konsequenzen aus den Vorwürfen ziehen. Als in der Pressemitteilung dann aber unter anderem stand, es habe keine strafrechtlich relevanten Handlungen gegeben und Reichelt werde auf seinen Posten zurückkehren, war die Enttäuschung und der Frust groß, auch über diese Art der Begründung. Danach entschieden einige, den Weg über die Öffentlichkeit zu gehen und mit uns zu reden. Was mir sehr wichtig ist zu sagen: Der Mut der Quellen, zu sprechen, ist das wichtigste an der Verdachtsberichterstattung, und ihnen gilt mein größter Dank.
An welchem Punkt von Verdachtsberichterstattungen konfrontieren investigative Journalist*innen die Objekte mit ihrem Kenntnisstand – gibt es da ungeschriebene Regeln?
Da gibt es sogar sehr feste Regeln, die gar nicht mal so ungeschrieben sind. Eine der wichtigsten lautet, dass auch Beschuldigte ein Anrecht auf Fairness im Sinne des Presserechts haben. Und dazu gehört zwingend, sie irgendwann mit dem Stand der Vorwürfe zu konfrontieren – und zwar so, dass sie genügend Zeit haben, darauf adäquat zu reagieren.
„Wir Journalist*innen firmieren da als Schutzwälle anonymer Quellen, die Auseinandersetzung gegebenenfalls an ihrer Stelle juristisch und kommunikativ auszutragen.“
Also nicht 60 Minuten vor Abdruck, wie Bild einst Christian Drosten ließ, um sich zum Vorwurf angeblich grob falscher Covid-Studien zu äußern.
Nein. (lacht) Wie viel früher, hängt vom Umfang des Materials ab, dessen Inhalten oder davon, wie weit die Vorwürfe zurückreichen. Die Zeit für eine Stellungnahme kann von Stunden bis Wochen reichen. Bei einer medienunerfahrenen Privatperson kann die Frist länger sein als etwa bei Tageszeitungen oder Konzernen mit professionellen Rechts- und Öffentlichkeitsabteilungen, aber in jedem Fall muss die Konfrontation in enger Kooperation mit unserer Rechtsabteilung frühzeitig genug erfolgen, um presserechtlich auf der sicheren Seite zu sein.
Was muss, was soll, was darf in diese Konfrontation genau rein, ohne den kompletten Kenntnisstand preiszugeben?
Es ist wichtig, alle Recherche-Informationen ausführlich zu schildern. Das kann vom recherchierten Verdacht bis zum konkreten Beleg grundsätzlich alles sein, wozu man sich Erhellendes erwartet, damit Beschuldigte die Gelegenheit bekommen, dazu Stellung zu nehmen. Allerdings hat sich da die Praxis eingeschliffen, dass auf Konfrontationen mit Anwaltsschreiben geantwortet wird. So kommt man eher nicht an Informationen, die sich etwa aus einem direkten Gespräch ergeben könnten.
Sondern erzeugt eher Panik beim Beschuldigten.
Ach, die erzeugt man in der Regel sowieso. Denn natürlich muss ich zeigen, was ich recherchiert habe. Das bedeutet manchmal, auch im Bereich von #MeToo, dass Betroffene ein Stück weit identifizierbar werden, damit die Beschuldigten sich überhaupt zu den Vorwürfen äußern können – auch das muss man natürlich mit den Quellen vorher genau absprechen. Ich jedenfalls neige dazu, möglichst umfassend zu konfrontieren.
Fühlen Sie sich als erfahrenere Journalistin von Anwaltsantworten manchmal noch abgeschreckt?
Ich kenne das ja auch erst seit wenigen Jahren. So ein Anwaltsschreiben macht mir weniger Angst oder Sorgen. Aber ich habe mal eine Recherche veröffentlicht, die den zentralen Standards der Verdachtsberichterstattung genügt hatte, und die Veröffentlichung wurde trotzdem gerichtlich untersagt. Das Gericht warf uns damals vor, mit zu viel Detailtiefe über den Fall berichtet zu haben – ein merkwürdiges Urteil, gegen das wir zwar erfolgreich in Berufung gegangen sind; aber es hat eine Schere in meinem Kopf geöffnet, wie viel, besser: wie wenig Informationen über gut recherchierte Sachverhalte erlaubt sind. Um sowas vor Gericht durchzukämpfen, braucht man nicht nur viel Zeit, sondern auch Medienunternehmen im Hintergrund, die das so lange finanzieren.
Eine andere, vergleichsweise neue Form von Druck lastet in Zeiten enthemmter Diskurse durch soziale Medien auf Journalistinnen wie Ihnen, die sich mit Themen und Haltung stark exponieren. Spüren Sie das stärker als früher?
Bisher nicht, aber natürlich treffe ich mittlerweile Sicherheitsvorkehrungen, um es auch künftig zu vermeiden. Vor der Veröffentlichung der Recherchen zu Julian Reichelt habe ich etwa meinen Instagram-Account deaktiviert. Der neue ist jetzt rein beruflich. Außerdem kann man als Journalist*in versuchen, wenn man sich mit potenziell mächtigen Gegnern anlegt, eine Auskunftssperre für das Melderegister zu bekommen. Hasspost kriege ich wie alle anderen in diesem Beruf zwar auch mal, aber physisch bedroht wurde ich noch nicht. Den größten Druck erlebe ich demnach juristisch.
Gegen Sie persönlich?
Auch. Ein Anwalt hat mich mal schriftlich wie mündlich wissen lassen, wenn ich weiter so zu seinem Mandanten recherchiere, würde er sich mal umhören, was man so alles gegen mich herausfinden könne. Ich habe dann weiter recherchiert, aber der Versuch mich einzuschüchtern war unverkennbar.
Beugen Sie dem dadurch vor, dass Sie sich der unbedingten Rückendeckung Ihrer Auftraggeber versichern?
Juristisch gibt es keine explizite Vereinbarung über etwaigen Rechtsbeistand durch meine Arbeitgeber, aber ich versuche früh im Rechercheprozess zu klären, wie weit im Zweifel verteidigt wird – wenn man bis vor den BGH geht, ist man ja schnell im sechsstelligen Kostenbereich.
Wie haben Sie sich angesichts dieses Vertrauensvorschusses gefühlt, als Dirk Ippen die Recherche über Julian Reichelt mit dem Argument ablehnte, angeblich nicht negativ über Mitbewerber reden zu wollen?
Extrem enttäuscht. Zumal wir uns Springer gegenüber ja dadurch exponiert, also vulnerabel gemacht hatten, dass die Konfrontationsfragen bereits raus waren, und damit waren in Teilen auch die Betroffenen erkennbar.
Sind Sie und Ihr Team im Reinen mit Ihrem Arbeitgeber?
Inzwischen hat sich Dirk Ippen entschuldigt, und das erkenne ich auch an. Für die Quellen war die Nachricht natürlich auch hart. Eine Person war am Telefon sehr verzweifelt und hat gesagt: Wie kann es sein, dass man uns jetzt schon wieder nicht zuhört? Umso klarer war, dass eine Lösung her musste, die Rechercheergebnisse so gut und schnell es geht zu veröffentlichen.
Und diese Lösung war der Spiegel.
Diese Lösung war der Spiegel.
Auch die New York Times?
Ben Smith war früher Chefredakteur von Buzzfeed News in den USA und unser Vorgesetzter; daher kennen wir uns und haben bei einem gemeinsamen Essen in Berlin schon diesen Sommer gemerkt, dass uns das gleiche Thema interessiert – wobei sein Interesse Springer im Allgemeinen galt und meines Julian Reichelt im Besonderen. Wir haben also ausgemacht, unsere Veröffentlichungstermine zu koordinieren.
Ist es schmeichelhaft oder schmerzhaft, wenn die legendäre NYT dann eigene Recherchen vorwegnimmt?
Ich war froh, dass die Informationen an die Öffentlichkeit kamen. Dennoch wäre es toll gewesen, parallel zu veröffentlichen. Ben Smith ist einer der besten Medienjournalisten in den USA, und natürlich hat er wie geplant veröffentlicht, so war er dann eben der erste mit der Geschichte.
Dieses Kompliment hat er Ihnen in einem Zeit-Interview auf Deutschland bezogen zurückgegeben.
Ja, das war sehr freundlich von ihm.
Herrscht in den USA eine grundlegend andere Kultur der Verdachtsberichterstattung?
Ich kenne die presse- und persönlichkeitsrechtlichen Regeln der USA nicht so genau, aber es ist dort definitiv gebräuchlicher, mit Klarnamen zu arbeiten – was auch für Betroffene gilt, die sich häufiger selbst kenntlich machen als hier, wo das Persönlichkeitsrecht stärker gewichtet wird, wenn es um die Abwägung geht, was presserechtlich zulässig ist. In Deutschland entscheidet man vielleicht eher, Rechercheergebnisse, welche die Privat- oder Intimsphäre betreffen, nicht zu veröffentlichen. Das haben wir auch bei der Recherche zu Reichelt genau abgewogen und uns in einigen Aspekten dagegen entschieden.
Ach.
Auch fürs Privatleben eines Bild-Chefs müssen die presserechtlichen Standards gelten und geschaut werden: Wie schwer sind die Vorwürfe, wie groß das öffentliche Interesse, wo wiegt die Privatsphäre schwerer? In den USA werden #MeToo-Debatten auch anders geführt, weil die rechtlichen oder arbeitsrechtlichen Grundlagen andere sind. Während die Initiative von Springer, dass Mitarbeiter*innen künftig interne Liebesbeziehungen offenlegen sollen, auch vom DJV kritisiert wird, weil rechtlich Liebesbeziehungen Privatsache sind, haben in den USA mehrere Konzernchefs wegen hausinterner Liebesbeziehungen ihre Jobs verloren. In Deutschland dagegen wurde über viele #MeToo-Vorwürfe verschiedener Branchen noch gar nicht berichtet. Das zu verändern, ist auch Aufgabe von Medien.
Sie haben in einem Beitrag für den journalist Anfang 2020 geschrieben, sexuelle Übergriffe zu thematisieren sei trotz #MeToo kaum einfacher geworden. Wie ist es zwei Jahre und einen Bild-Chefsturz später?
Das ist zwar nur ein subjektiver Eindruck, aber nach der Recherche zu Julian Reichelt haben sich sehr viele Menschen mit weiteren Vorwürfen aus verschiedenen Bereichen bei mir gemeldet. Dieses "ich auch", das #MeToo zum Ausdruck bringt, wirkt mit jeder personellen Konsequenz und jeder journalistischen Veröffentlichung, weil Menschen verstehen, dass andere ähnliche Erfahrungen gemacht haben und es eine Möglichkeit sein kann, sich an die Presse zu wenden. Die große Frage wird also sein, ob Medienhäuser Kapazitäten für Recherchen über jede Art von Machtmissbrauch und Ungerechtigkeiten bereitstellen und auch Journalist*innen dafür einstellen.
Ist die Frage eher ein pessimistischer Konjunktiv oder ein optimistischer Indikativ?
Ich bin schon zuversichtlich, dass es Stück für Stück besser wird. Dazu gehört auch, dass in den Medienhäusern stärker auf Quoten und Diversität geachtet wird, um unterschiedliche Kompetenzen jeder Art von persönlichem Hintergrund zu bündeln. Das ist ein Prozess, von dem ich nicht weiß, wie lange er dauern wird. Noch heute höre ich von Kolleg*innen, dass ihre Recherchen zu Missbrauchsthemen in den Verlagen kein Gehör finden. Es könnten also noch viele Jahre sein.
Jan Freitag arbeitet als freier Journalist in Hamburg. Paulina Hildesheim ist Fotografin in Berlin.
Das Interview lesen Sie auch in der Dezember-Ausgabe des journalists. Neugierig? Hier entlang.