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Was bedeutet für Sie konservativ, Frau Wilton?
Jennifer Wilton: "Journalismus muss auch unberechenbar sein." (Foto: Paula Winkler)
Die Welt sieht sich als Plattform für Meinungsvielfalt und stehe für "bürgerliche Werte". Wie grenzt sich die Redaktion von Extrempositionen rechts und links ab? Und wer bestimmt diese Grenzen? Jennifer Wilton (44) ist seit einem Jahr Chefredakteurin der Welt. Sie will vor allem Moderatorin sein, die auch Meinungen Raum verschafft, die nicht ihre eigenen sind. Interview: Jan Freitag, Fotos: Paula Winkler
20.01.2023
"In Gastbeiträgen muss und darf mehr möglich sein als in einem Leitartikel“, sagt Jennifer Wilton. Die 44-Jährige hat den größten Teil ihrer beruflichen Karriere im Hause Axel Springer verbracht. Die Führung der Welt sieht sie als Teamarbeit.
journalist: Frau Wilton, empfinden Sie es eigentlich als Statement des Springer-Konzerns, dass die gute alte Welt der Wirtschaftswunderjahre im futuristischen Neubau residiert, während freshe, junge Start-ups wie der Business Insider im leicht angegilbten Stammhaus gegenüber sitzen?
Jennifer Wilton: Ich würde „angegilbt“ sofort widersprechen. Und die Welt gehört in ihrem 77. Jahr zu den innovativsten Medienmarken. Es war von Anfang an so geplant, dass wir in den Neubau ziehen, sobald er fertig ist. Auch aus dem einfachen Grund, endlich im gleichen Gebäude mit unserem Fernsehsender arbeiten zu können, die Welt-Redaktionen Print, Digital und TV also auch räumlich miteinander zu verzahnen.
Journalistisch und organisatorisch war das schon vorher der Fall?
Ja, aber nicht in der gleichen Intensität. Ein Beispiel: Das erste Scholz-Interview nach dem G-20-Gipfel lief bei Welt TV und wurde parallel bereits digital für die Onlineredaktion aufbereitet und für die Zeitung verschriftlicht. Unsere Reporter und Redakteure sind inzwischen täglich zu Gast im Studio. Da hat sich sehr viel getan.
Ihr Standort hat also nichts mit der konservativen Mischung aus Laptop und Lederhose zu tun, die Edmund Stoiber mal spezifisch bayerisch, also erfolgreich nannte?
Eher nicht (lacht). Als die Planung begann, gehörte zum Beispiel der Business Insider noch nicht mal zum Verlag. Mit konservativ oder nicht hat das also nichts zu tun.
Was genau ist heute noch mal konservativ?
Auf die Welt bezogen würde ich den Begriff „konservativ“ um „liberal“ erweitern. Wir haben ein großes Spektrum an Meinungen im Blatt und auf der Seite. Wir verstehen uns als Portal, auf dem unsere Redakteure und Gastautoren Spielraum haben und ihn sich nehmen. Mit Konservatismus ist vor allem Wertekonservatismus gemeint.
Der heutzutage welche Werte vertritt?
Das ist angesichts aktueller Debatten gar nicht immer einfach zu benennen. In den vergangenen zwei Jahren zum Beispiel stand wegen der vielen Freiheitsbeschränkungen durch Corona das Liberale bei uns oft stark im Vordergrund. Darüber hinaus stehen wir aber immer auch für das, was man „bürgerliche Werte“ nennen könnte, Familie zum Beispiel, verteidigen aber zugleich die Freiheiten des Einzelnen, haben also keine grundsätzlichen Kontrapositionen etwa zur Homoehe.
„Ich versuche, mich von Begrifflichkeiten wie links und rechts zu lösen, weil sie gerade für jüngere Generationen nicht mehr so entscheidend sind.“
Aber persönliche?
Es gibt innerhalb unserer Redaktion unterschiedliche Positionen, das macht uns aus. Ich persönlich etwa verteidige gesellschaftliche Kompromisse wie die Streichung des Paragrafen 219a, bei anderen wäre die Grenze da überschritten.
Und wo findet im Fall der Werbung für Schwangerschaftsabbrüche und anderer Debatten die Abgrenzung nach rechts statt?
Überall und jeden Tag. Rechts und links an den Rändern ist nicht unsere Welt. Wobei ich mich frage, ob Sie die Chefredakteure der Süddeutschen Zeitung auch fragen würden, wie sich ihre Zeitung von ganz links abgrenzt.
Genau das würden wir Judith Wittwer ungefähr zur selben Zeit des Interviews fragen, keine Sorge.
Ich würde mich auf die Position des liberalen Verfassungspatriotismus begeben und sagen: Wir grenzen uns immer da von rechts ab, wo die Gültigkeit des Grundgesetzes infrage gestellt, die freie Entfaltung des Einzelnen beschnitten oder es extrem wird. Darüber hinaus aber versuche ich auch, mich von Begrifflichkeiten wie links und rechts zu lösen, weil sie gerade für jüngere Generationen nicht mehr so entscheidend sind, wie sie es für ältere waren – zumal die Abgrenzung voneinander zusehends unklarer wird. Wir positionieren uns vor allem in der Mitte. Aber: Journalismus muss auch unberechenbar sein.
Wurde die Welt verglichen mit den Vorwendejahrzehnten, als sie politisch oft stramm rechte Kampagnen etwa gegen Palästinenser im Nahost-Konflikt gefahren hat, da sozusagen von innen heraus entideologisiert?
Da nennen Sie ein eher unglückliches Beispiel, darüber könnten wir jetzt lange diskutieren. Bekanntlich orientierten sich damals wie heute alle Redaktionen von Axel Springer an Grundwerten, unseren Essentials. Die Zeit, die Sie da ansprechen, hat sich lange vor meiner Zeit als Journalistin abgespielt, man kann sie nur schwer mit heute vergleichen.
Nicht nur die Welt war damals eine andere, sondern auch Die Welt, meinen Sie?
Genau. Seitdem gab es immer gesellschaftspolitische Wellenbewegungen, auch im Blatt. Ein sehr maßgeblicher Schritt der Liberalisierung war da zum Beispiel, als der heutige Vorstandsvorsitzende …
… Mathias Döpfner ...
… die Welt Ende der Neunziger als Chefredakteur übernommen und gleich mal dahingehend geöffnet hat, mehrere taz-Redakteure zu uns zu holen.
Ihren Vize Robin Alexander zum Beispiel.
Der gehörte nicht zu dieser ersten Gruppe, sondern kam später. Aber auch andere Chefredakteure haben die Welt von heute mitgeprägt. Und Jan-Eric Peters war da natürlich eine ganz andere Führungsfigur als etwa Roger Köppel.
Hat sich diesbezüglich auch noch mal was geändert, seit Sie den Führungsposten von Dagmar Rosenfeld übernommen haben?
Da sind die Unterschiede jetzt nicht so wahnsinnig groß, wir arbeiten ja eng zusammen. Und wichtiger als Ähnlichkeiten oder Differenzen bleibt, dass die Welt ein Debattenmedium mit Führungspersonen unterschiedlich ausgeprägter Meinungen ist. Es gibt die erwähnten Grenzen, aber wir bewegen uns immer in einem definierten Rahmen. Innerhalb dieses Rahmens versuchen wir, Haltungen verschiedenster Art möglichst breiten Raum zu geben. Ich selber kommentiere gern, wenn mir etwas am Herzen liegt, aber wenn ein Kollege die gut durchargumentierte Gegenposition dazu vertreten möchte – nur zu.
Aber wie eng, wie breit sind die Meinungskorridore der Welt – hat wirklich jede Haltung im Rahmen der Gesetze und Verlagsprinzipien Platz, oder müssen sie politisch schon ein bisschen auf Linie von Chefredaktion und Stammpublikum liegen?
Natürlich arbeiten wir für unsere Leser und Zuschauer, und die schätzen die Welt als Debattenmedium. Und wir haben in der Redaktion sehr, sehr lebendige Diskussionen, da kann es schon hoch hergehen, und das ist auch richtig so. Aber dabei war es bislang nur selten der Fall, dass mal jemand meinte, so geht’s auf keinen Fall. In der Regel betraf das aber Gastbeiträge.
„Ich selber kommentiere gern, wenn mir etwas am Herzen liegt, aber wenn ein Kollege die gut durchargumentierte Gegenposition dazu vertreten möchte – nur zu.“
Welche zum Beispiel?
Etwa, als mehrere Wissenschaftler im Juni unter dem Titel „Wie ARD und ZDF unsere Kinder indoktrinieren“ die öffentlich-rechtliche Berichterstattung zu sexueller Identität und Zweigeschlechtlichkeit kritisiert haben. Meine Positionen sind andere, ich hatte mit dem Stück damals inhaltlich persönlich Schwierigkeiten.
Haben aber nicht Ihre Richtlinienkompetenz als Chefredakteurin wahrgenommen?
Das Stück war angemessen als Gastbeitrag gekennzeichnet, und in Gastbeiträgen muss und darf mehr möglich sein als in einem Leitartikel. Danach erschien unter anderem ein Kommentar unseres CEOs, der eine ganz andere Position vertrat, und ein weiterer kritischer unseres Chefredakteurs Ulf Poschardt. Zur Rolle einer Chefredakteurin gehört, nicht nur zu senden, sondern auch zu empfangen und andere sprechen zu lassen.
Und welche Kontrollinstanzen gibt es abseits vom Grenzschutz der Chefredaktion, damit solche Debatten nicht aus der Mitte des demokratischen Diskurses über deren Rand ins Extreme ausfransen?
Natürlich ist es die Aufgabe von Chefredaktion und Ressortleitungen, genau draufzuschauen, ob solche Debatten im Rahmen unserer Haltungen und Grundwerte bleiben. Aber zugleich ist die Redaktion auch ein Kollektiv, das Themen auch ohne Grenzschutz kontrovers diskutiert. Inhaltlich nehme ich eine Richtlinienkompetenz daher seltener wahr als formell.
Inwiefern formell?
Ich bin zum Beispiel höchst empfindlich, wenn es um die Trennung von Bericht und Meinung geht. Wo beides ineinander übergeht, greife ich schon mal ein. Diese Aufgabe wird allerdings nicht nur bei der Welt wichtiger; ich sehe bei diversen Websites und Zeitungen, dass die klare Trennung immer mehr aufweicht.
Wobei gerade die alte Medienbranche vollredaktionell betreuter, vorwiegend gedruckter Zeitungen doch seit Jahren betont, wie wichtig klare Haltungen gemeinsam mit regionaler Berichterstattung fürs Überleben sind?
Beides ist wichtig, aber gerade klare Haltung muss bleiben, wo sie hingehört – auf der Meinungsseite. Das ist ein wesentlicher Punkt der dritten Überlebensstrategie: unbedingte Glaubwürdigkeit. Dass wir Debatten in den Vordergrund stellen, ändert daran nichts, solange Debatten als Debatten erkennbar bleiben und nicht wie Nachrichten aussehen.
Ist das nur Ihre persönliche Haltung zum Qualitätsjournalismus oder objektivierbar, also dahingehend gepanelt, dass es auch Ihr Publikum von der Welt erwartet?
Unabhängig vom Anspruch der Leserinnen und Leser, der definitiv so besteht, unabhängig auch von der Welt als Medium, ist es vor allem eine journalistische Haltung, die nach 1945 ja nicht ohne Grund aus dem angelsächsischen Raum nach Deutschland gebracht wurde.
Damals gab es allerdings auch nicht im heutigen Ausmaß Filterblasen und das, was abwertend Cancel Culture genannt wird. Wie geht ein altes Medium wie die Welt 77 Jahre später mit beidem um?
Filterblasen finde ich eher gesamtjournalistisch problematisch, als dass wir als Welt eine wären oder hätten. Aber ich mache keinen Hehl daraus, dass nicht nur wir als Redaktion, sondern ich als Person es extrem problematisch finde, wenn man bestimmte Dinge nicht mehr offen aussprechen darf. Ich empfinde den Begriff der „Cancel Culture“ allerdings oft als zu hart; nur, weil man gewissen Sichtweisen oder Autoren kein Forum bieten möchte, wird noch nichts gecancelt.
„Ich empfinde den Begriff der ‚Cancel Culture‘ oft als zu hart; nur, weil man gewissen Sichtweisen oder Autoren kein Forum bieten möchte, wird noch nichts gecancelt.“
Würden Sie denn extrem rechten Publizisten wie Götz Kubitschek oder extrem misogynen Comedians wie Dieter Nuhr Foren bieten?
Für Kubitschek und seine Fantasien sind wir sicher nicht die richtige Plattform. Dieter Nuhr würde wohl eher nicht auf uns zugehen. Aber ich kann mich jedenfalls an keinen an Fakten orientierten Text der letzten Monate erinnern, der es wegen persönlicher Vorbehalte gegenüber dem Autor oder der Autorin nicht ins Blatt geschafft hätte. Selbst Sahra Wagenknecht kam bei uns zu Wort, obwohl der Text persönlich an meine Schmerzgrenze ging.
Wie wichtig ist bei Ihrer Themensetzung und Personalpolitik die Provokation, was Welt-Chef Ulf Poschardt ganz offen als quotenförderlich bezeichnet?
Wir sind da sicher unterschiedliche Charaktere. Aber es ist nicht falsch, zu provozieren, um Antworten zu forcieren. Zu einer lebendigen Debatte gehören immer auch pointiertere Standpunkte. Wir berichten über alles zunächst mal neutral, aber wenn wir dann mit einem zugespitzten Statement andere herausfordern, darauf zu reagieren, sehe ich darin nichts Verwerfliches. Im Gegenteil.
Ist es aus Ihrer Sicht denn sogar legitim, eine Debatte anzufachen, bevor sie überhaupt als solche wahrgenommen wird?
Nennen Sie mal ein Beispiel.
Die Hamburger Morgenpost hat mal von der Party einer Schülerin erfahren, zu der sie seinerzeit bei Facebook öffentlich statt privat eingeladen hatte, und so viele Titelstorys dazu gemacht, bis es tatsächlich mit 1.500 Gästen eskalierte. Geht das zu weit?
Ja, das finde ich. Aber da ging es ja nicht um eine Debatte. Es ist gut, gelegentlich Debatten anzuregen, statt ihnen hinterherzulaufen.
Wären Sie denn streitlustig genug, wie Ihre Vorgängerin Dagmar Rosenfeld mit jemandem wie Markus Feldenkirchen vom Spiegel ins konservativ-liberale Gefecht zu gehen und damit in die Fußstapfen der legendären Streithähne Augstein/Blome oder Kienzle/Hauser zu treten?
Ja, ich fand das super.
„Selbst Sahra Wagenknecht kam bei uns zu Wort, obwohl der Text persönlich an meine Schmerzgrenze ging.“
Und steht es – buchstäblich – zur Debatte?
Im Moment nicht. Aber vor dieser Form der Auseinandersetzung, sich immer wieder mit Vertretern gegensätzlicher Standpunkte zu batteln, habe ich größten Respekt, das würde mir Spaß machen.
Befinden Sie sich als frische, junge Kraft an der Spitze denn auch innerredaktionell da in diesen Battles?
Ich sehe meine Aufgabe häufiger im Moderieren. Aber es gibt natürlich Themen, bei denen ich andere Positionen einnehme als andere Mitarbeiter – wobei es da keine Rolle spielt, ob es Reporter sind, Redakteure oder Führungskräfte. Für alle ist da Raum zur Meinungsentfaltung.
Pflegen – auch wenn die Frage allein schon wieder sexismusanfällig ist – Frauen an der Spitze diesbezüglich eine andere Streit-, Debatten- und Führungskultur?
Ich glaube schon, dass es in Hinblick auf flache Hierarchien und Teamfähigkeit etwas gibt, das man als weibliche Führungskultur bezeichnen könnte. Aber selbst, wenn es geschlechtsspezifische Herangehensweisen gibt: Das heißt ja nicht, dass nicht auch Männer eine solche Führungskultur verfolgen oder einige Frauen „männlich“ führen. Letztlich ist es eine Frage der Machtdefinition und -ausübung, weibliche Führung ist oft dialogorientierter.
Beschreiben Sie damit auch ein wenig die eigene Führungspersönlichkeit?
Ich bin jetzt schon weit über zehn Jahre Teil der Welt und damit auch Teil des Teams, das hat sich durch die neue Position gar nicht so großartig geändert und funktioniert so besser als hierarchisch. Ich habe aber auch kein Problem damit, unpopuläre Entscheidungen zu treffen. So wäre ich vermutlich auch als Mann.
Erschrickt man dennoch manchmal vor der Macht- oder zumindest Einflussfülle, die Chefredakteurinnen plötzlich haben?
Komischerweise nicht, und mir war nach zwei Wochen klar, genau an der richtigen Stelle angekommen zu sein. Vermutlich auch, weil wir ein Kollektiv an Chefredakteuren sind, das im Zweifel als Korrektiv wirkt. Diese Einbindung im Team erlebe ich als überaus angenehm, ich arbeite im Alltagsgeschäft eng mit dem Digitalchef Oliver Michalsky. Und ich kooperiere viel und immer mehr mit Jan Philipp Burgard vom Fernsehen. Insofern bin ich eigentlich nie in die Gefahr geraten, lonely at the top zu sein.
Mal vorausgesetzt, das gilt auch für Dagmar Rosenfeld an der WamS-Spitze: Hat sich die paritätische Aufteilung der vier Chefredaktionen zufällig ergeben, oder war sie Plan der Geschäftsführung?
Das müssen Sie im Zweifel die Geschäftsführung fragen, ich glaube allerdings, es war schlicht dem Umstand geschuldet, dass die entsprechenden Leute, also geeignete Frauen, bereits hier waren. Der Axel-Springer-Konzern hat das Thema Frauenförderung schon sehr früh zur Priorität gemacht.
Ihr Verlag, die Springer SE, wird dagegen weiterhin von drei Männern geführt, ergänzt immerhin von Niddal Salah-Eldin …
… die auch von uns aus der Welt kommt!
Und als weibliche PoC die Abteilung Talent & Culture leitet. Ist diese Personalie bereits Ausdruck oder erst der Anfang einer entsprechenden Firmenkultur?
Beides. Ich empfinde es so, einen Verlag hinter mir zu haben, für den Frauen in Führungspositionen bereits selbstverständlich waren, als andere erst darüber nachgedacht hatten. Wir haben eine Führungsquote von fast 40 Prozent Frauen. Natürlich war es, als ich Journalistin wurde, überall noch anders als heute. Wir haben hier in der Welt zum Beispiel schon lange viele Ressortleiterinnen. Und gerade, weil das – anders als früher, wo wir darüber ständig intensiv diskutiert haben – jetzt gar nicht mehr groß thematisiert wird, halte ich diese Entwicklung für organischer als in anderen Redaktionen.
Tut mir leid, dass ich das Thema Gleichberechtigung durch meine Fragen daran hindere, organisch zu werden.
Mit dieser Frage müssen und wollen wir uns trotz aller Fortschritte weiter auseinandersetzen. Frauen, die fünf Jahre jünger sind als ich, haben schließlich einen anderen Zugang dazu als ich, die wiederum einen anderen hat als Frauen, die fünf Jahre älter sind als ich. Schon aus meiner Erfahrung heraus, als Journalistin anfangs immer mal alleine unter Männern gewesen zu sein und später dann zunächst eine der wenigen Ressortleiterinnen. Das hat sich total verändert, aber die weiblichen Stimmen sind – in fast allen gesellschaftlichen Bereichen – abgesehen von ein paar lauteren Ausnahmen schon noch ein wenig leiser als die männlichen.
Quantitativ, weil sie zu wenige sind, oder qualitativ, weil sie übertönt werden?
Beides, wobei ich gar nicht weiß, ob wir quantitativ insgesamt noch immer in der Minderheit sind in der Redaktion, aber nach oben hin wird es halt kontinuierlich dünner, besonders in vielen Unternehmen. Es gibt gewiss Frauen, die es ablehnen, andauernd über Frauenthemen zu sprechen, ich finde das nachvollziehbar, und auch ich fühle mich nicht allein durch mein Geschlecht dafür zuständig.
Aber betroffen?
Ja. Dass Frauen in unserer Branche so häufig über Dinge wie Familie und Kinder berichten, hat am Ende ja auch damit zu tun, dass sie sich privat noch immer mehr damit beschäftigen als ihre Männer. Und ja, ich finde, es müssen mehr weibliche Stimmen in die Welt, und darum kümmere ich mich.
Heißt das, Sie haben da ein aktives Sendungsbewusstsein?
Sendungsbewusstsein weiß ich nicht, ich empfinde aber eine Stimmenvielfalt in jeder Beziehung als wichtig. Dazu gehören junge und alte, arme und reiche, mächtige und ohnmächtige, aber eben auch weibliche und männliche. Wenn Sie Zeitungen – und damit meine ich nicht nur unsere, sondern alle von SZ bis FAZ – aufschlagen, sehen Sie auf den ersten vier, fünf Seiten vor allem männliche Köpfe. Diese Dominanz müssen wir ändern, weshalb wir bei Gastbeiträgen darauf achten, insbesondere auch Autorinnen zu fragen und Frauen im eigenen Haus ermutigen, ihre Stimmen zu erheben.
„Es ist nicht falsch, zu provozieren, um Antworten zu forcieren.“
Tun Sie das auch persönlich?
Klar. Ein Beispiel: Vor dem internationalen Frauentag haben wir überlegt, ob wir daraus kurz nach Beginn des Ukraine-Krieges eine Sondernummer machen oder ob wir es ignorieren. Wir haben uns dann für einen Schwerpunkt entschieden und Frauen eingeladen, über Freiheit zu sprechen. Aber nicht zwingend bezogen auf Geschlechterrollen, die Autorinnen sollten schreiben, was sie wollen. Und obwohl alle total unterschiedliche Ansätze verfolgt haben, stellte sich heraus: Freiheit ist auch ein sehr weibliches Thema. Denn wenn Frauen unfrei sind, ist es meist auch die restliche Gesellschaft.
Weil ihr Freiheitskampf im Grunde schon bei der Geburt beginnt und bei Männern erst mit der Volljährigkeit?
Das beste Beispiel erleben wir momentan doch gerade im Iran. Natürlich haben wir Frauen manchmal andere Perspektiven auf Dinge als Männer. Ich möchte aber viele Perspektiven sehen. Und grundsätzlich will ich niemanden nötigen, über irgendwas zu schreiben, weil er oder sie dafür prädestiniert erscheint. Das wäre ja auch wieder zwanghaft.
Wir beschränken das Thema Diversität hier gerade stark auf Geschlechterfragen. Wie sehr versuchen Sie, auch auf anderen Feldern inklusiv zu sein – Hautfarbe, Herkunft, Behinderungen zum Beispiel?
Wünschenswert ist all dies auf jeden Fall und daher auch ständig ein Thema bei uns. Aber der Journalismus hinkt da gerade im Vergleich mit anderen Branchen schon noch ein Stück hinterher. Menschen mit Migrationshintergrund zum Beispiel, so schwierig ich den Begriff finde, wenn die Personen in dritter, vierter Generation hier leben, sind definitiv zu wenig vertreten in den klassischen Medien. Wenn man betrachtet, wie sich die Bevölkerung unter 30 jetzt zusammensetzt, ist es demnach kein altruistisches, sondern ein egoistisches Motiv, sie mehr in den Blick zu nehmen.
Kann mehr Diversität auf der Angebotsseite, also im Journalismus, eigentlich für weniger Wut und Hass in den Echoräumen der Nachfrageseite, also beim Publikum, sorgen?
Das wäre, glaube ich, zu einfach gedacht, denn das Wutpotenzial der Gesellschaft wird von vielen Themen gespeist. Diversität zum Beispiel steigert es in einigen Schichten sogar noch. Aber so wichtig Journalismus in einer und für eine pluralistischen Demokratie auch ist: Wir sind keine Volkserzieher!
Bei all den Veränderungen, die das Blatt seit Jahrzehnten durchmacht, geht der positive Wandel, was die Verkaufszahlen betrifft, jedoch eher in die entgegengesetzte Richtung.
Sowohl die tägliche als auch die wöchentliche Zeitung haben natürlich das Problem aller Printerzeugnisse, nicht mehr zu wachsen. Das wird man weder in Deutschland noch anderswo je umdrehen. Aber unsere Zahlen sind doch generell gut!
Na ja, Abos und Kioskverkäufe sind 2020 unter 50.000 gerutscht, kaum ein Fünftel der Werte 20 Jahre zuvor – das ist auch im Vergleich aller Printmedien ein dramatischer Rückgang.
Wir denken schon seit langem vom Digitalen her, weit länger als andere Medienmarken, nämlich seit fast 20 Jahren, und unsere Website ist überaus erfolgreich.
Woran bemisst sich das?
Wir haben bei der Welt täglich zwischen vier bis fünf Millionen Visits und stehen damit sehr weit vorne unter den überregionalen Medien, wir haben vor einer Weile die 210.000 Grenze mit digitalen Abos geknackt. Und für die gedruckte Zeitung gilt, wie gesagt, dass ich es für einen Erfolg halte, das Niveau zumindest zu halten und nach der coronabedingten Delle wieder zugelegt zu haben.
Eine Delle, die auch von der enormen Zahl an Bordexemplaren herrührt, die 2020 nahezu komplett ausgefallen sind.
Ja. Aber wie gesagt, im Rahmen dessen, was heute zu erwarten ist, sind wir – trotz und wegen struktureller Veränderungen wie der neuen Wochenendausgabe kurz vor meiner Zeit – auf gutem Wege. Darauf kann man durchaus stolz sein.
Sie hängen also nicht am Papier?
Ich bin mit Zeitungen aufgewachsen, ich liebe Zeitungen und bin immer noch ein bisschen aufgeregt, wenn ich sie morgens aus dem Briefkasten hole. Aber die Zeiten ändern sich. Wir versuchen, auch auf Papier jeden Tag die bestmögliche Zeitung zu machen und dafür neue Abonnentinnen und Abonnenten zu gewinnen, können aber auch keine Wunder vollbringen.
Dafür aber eine Digitalstrategie erstellen, die das absehbare Ende der gedruckten Welt kompensiert. Wie sieht die aus?
Aus meiner Sicht kann man heutzutage – egal ob Papier oder online – nicht mehr von der einen Strategie sprechen. Dafür verändert sich zu viel. Wir können hier gern spekulieren, wie Journalismus in zehn Jahren aussieht, aber das sind eben ein Stück weit Spekulationen. Der Axel-Springer-Verlag war mit Strategien wie digital first und online to print immer Vorreiter, wir beobachten permanent neue Entwicklungen und wie man sich neu aufstellen kann. Strategien sind langfristig, man muss sie aber auch kurzfristig anpassen können.
Sie steuern die Welt also auf Sicht Richtung nähere Zukunft?
Wir haben dabei alle stets die erweiterte Zukunft im Blick. Ich bin ja persönlich noch nicht kurz vor der Rentengrenze und möchte auch in 20 Jahren noch Journalismus machen. Das Wichtigste ist doch der Inhalt, nicht seine Form. Wo er zu lesen ist und wie, verändert zwar auch ein bisschen, was dort zu lesen ist, aber nicht die Grundsätze, nicht die Definition von gutem Journalismus.
Wie optimistisch sind Sie denn beim Blick aufs Überübermorgen, dass Ihre Welt die große Flurbereinigung überregionaler, aber auch lokaler Zeitungen überlebt?
Sehr optimistisch! Ich bin sogar überzeugt, dass die Welt nahezu alles überlebt. Aber wenn man sich überlegt, wie die Branche vor 15 Jahren aussah, wäre es doch absurd zu glauben, in 15 Jahren wäre irgendetwas noch so wie heute. Wenn Sie allein schon betrachten, welche Zusammenarbeit es in den letzten paar Monaten bei uns von TV, Print, Audio und Digitalem gab, da sind wir echt Pioniere. Und wenn von den Neuerungen mal irgendwas nicht funktioniert, macht man halt neuere Neuerungen.
Fail, stand up, fail better …
Es ist wichtig, den bedauernden Tonfall der Lethargie zu vermeiden, was früher alles besser war. Umso mehr muss man um seine journalistischen Grundlagen und Werte kämpfen, an beidem besteht hierzulande ja immer noch großer Bedarf und Nachfrage. Anders als in den USA zum Beispiel.
Wo mittlerweile nicht nur die publizistische Vielfalt, sondern die Ein-Zeitungs-Countys aussterben.
Ja, mit Gegenden, in denen sich deutlich mehr als die Hälfte der Menschen ausschließlich per Facebook oder Youtube informieren und Posts auf sozialen Medien für echte Nachrichten halten. Aber gerade da ist es doch auch unsere Aufgabe, das nicht nur zu kritisieren, sondern bessere Nachrichten und intelligente Debatten anzubieten, also gute Gründe, guten Journalismus zu nutzen.
Jan Freitag ist freier Journalist in Hamburg. Paula Winkler arbeitet als Fotografin in Berlin.