"Manche haben mich anfangs für ein Lichtdouble gehalten"

Klamroth lässt Talkshowgäste mitdiskutieren. "Mit die beste Expertise über einen Missstand haben doch diejenigen, die ihm ausgesetzt sind." (Foto: Nikita Teryoshin)

Louis Klamroth hat vor anderthalb Jahren Hart aber fair von TV-Urgestein Frank Plasberg übernommen. Im journalist-Interview spricht der 34-Jährige über seinen Quereinstieg als Moderator, über den holprigen Umbau der Sendung – und warum er es wichtig findet, dass Lkw-Fahrer mitdiskutieren. Interview: Jan Freitag, Fotos: Nikita Teryoshin

19.07.2024

Das erste Mal sah man Louis Klamroth 2003 im Wunder von Bern, da war er zwölf Jahre alt. Heute steht er für einen neuen Stil des TV-Talk. Hart aber fair könnte die erste große Talkshow sein, die vom linearen Fernsehen in die Mediatheken wandert. Was Klamroth noch anders macht, erzählt er im Interview mit dem journalist.

journalist: Herr Klamroth, Sie stehen seit anderthalb Jahren montags auf einer der größten und damit anstrengendsten Fernsehbühnen. Haben Sie noch dieselbe Energie wie am Anfang oder zermürbt Sie die Aufmerksamkeit?

Louis Klamroth: Ersteres, seit knapp einem halben Jahr macht es mir besonders großen Spaß.

Der Zeitpunkt, als Sie Hart aber fair endgültig von Frank Plasbergs Produktionsfirma Ansager & Schnipselmann übernommen haben und mit Florida Factual eigenverantwortlich betreiben?

Ja. Da konnte ich das Format verändern und damit zu „meinem” Format machen. Es steht anders da, sieht anders aus und hat nach 22 Jahren neuen Schwung erhalten. Der Modernisierungsprozess ist noch längst nicht vorbei, aber die doch leicht angestaubte Marke ist wiederbelebt. Die Arbeit ist anstrengend, klar, aber ich empfinde es als großes Privileg, montags zusammen mit meinem Team vor einem Millionenpublikum Debatten zu kuratieren.

Waren Sie mit der Situation vorher unzufrieden oder ist ein Renovierungsprozess einfach notwendig, wenn man ein bestehendes Produkt übernimmt?

Ganz genau, ein normaler, am Ende eher unspektakulärer Prozess – auch wenn das in der Berichterstattung gelegentlich anders klingt. Dass die Sendung 22 Jahre lineares Fernsehen nachhaltig geprägt und ihr Metier verändert hat, ist ja das Eine. Aber wenn die Moderation wechselt, muss es halt auch ein bisschen zur neuen Person passen. Dieser Prozess wurde vor anderthalb Jahren nicht konsequent genug angegangen; das holen wir nun nach. Und es funktioniert ja auch.

In Zuschauerzahlen ausgedrückt?

Ja, auch in den Zahlen sind wir in der linearen Quote und vor allem bei den digitalen Abrufzahlen besser als zuvor. Das ist nur ein Kriterium von vielen. Mindestens genauso wichtig ist, dass wir die Sendung inhaltlich und konzeptionell neu aufgestellt haben.

Offenbar sind viele in der ARD vom Erfolg nicht überzeugt. Bei einer Programmkonferenz Mitte Juli sollte über ihre Zukunft und die von Hart aber fair verhandelt werden, schreibt der Spiegel. Sind Sie nervös?

Die Produktionsfirma und ich haben zwei Jahre Vertrag. Insofern bin ich auch nicht nervös. Ich bin zufrieden, was die Bilanz des letzten halben Jahres angeht. So höre ich es auch von den Senderverantwortlichen. Mindestens genauso wichtig: Wir haben die Sendung weiterentwickelt und werden diesen Weg konsequent weiter beschreiten. Dass wir in diesem Sommer darüber sprechen, wie die Zukunft von Hart aber fair aussieht, stand ja schon lange fest und ist keine Überraschung.

Wäre es einfacher gewesen, eine neue Sendung zu starten?

Der WDR hat mich gebeten, diese sehr erfolgreiche, eingespielte Marke zu übernehmen und eben keine neue zu erfinden. Eine Kopie der Sendung mit anderem Label hätte aus meiner Sicht nicht funktioniert und wäre auch nicht mein konzeptioneller Anspruch. Es stand auch nie zur Diskussion.

Auch dann nicht, als es eine öffentliche Auseinandersetzung zwischen Ihnen und Frank Plasberg um das Format gegeben hat?

Das ist mir zu viel Was-wäre-wenn. Das Produkt hat nun mal viele Millionen Fans und damit ein Vertrauensverhältnis zwischen Sender und Publikum. Ganz ohne Reibung funktioniert kein Übergang und im Fernsehen schon gar nicht.

Außerdem erzeugt Reibung – fünf Euro ins Phrasenschwein – Wärme, also Energie!

Und beides kann jedes Format gut vertragen.

Fühlen Sie sich unter Feuer besonders wohl?

(lacht) Als Mensch nicht, nein. Anders ist es beruflich. Bei Diskussionen inhaltlicher Natur gehe ich keinem Streit aus dem Weg. Wobei der Begriff bei mir überhaupt nicht negativ besetzt ist, im Gegenteil. In der Demokratie ebenso wie im Journalismus müssen wir streiten, und zwar gerne auch mal lauter, härter, energischer – sofern der Streit respektvoll vonstattengeht.

Das haben Sie vor Hart aber fair geübt, ab 2016 in Klamroths Konter bei n-tv. Haben Sie sich als Quereinsteiger damals eigentlich „Journalist“ genannt?

(überlegt lange) Mit der Bezeichnung habe ich – und das ist jetzt echt keine Koketterie – anfangs gehadert. Ich habe einen Master in VWL und Politik gemacht – sprich weder Journalismus studiert noch ein Volontariat gemacht. Das meiste habe ich mir durch Praktika und Praxis angeeignet. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen haben den Beruf von der Pike auf gelernt. Ich habe großen Respekt vor denen, die kluge Essays für den Spiegel, Leitartikel in der Zeit oder Analysen in der Wirtschaftswoche schreiben.

Die klugen Texte auf Seite 23 von Dithmarscher Landeszeitung oder Südkurier nicht zu vergessen.

Selbstverständlich! Die vielen Reporterinnen und Reporter, die tagtäglich rausgehen, und unter großem Druck eine informierte Öffentlichkeit im Lokalen schaffen. Damals habe ich gedacht: Ich mach doch nur Fernsehen. Heute weiß ich, dass auch wir Fernsehmacher guten Journalismus können.

Alles andere klänge auch nach Impostersyndrom, als dachten Sie, Sie hätten sich irgendwo reingeschlichen, wo Sie nicht hingehörten.

Nein, eher Respekt vor denen, die sämtliche Stationen der Berufsbildung absolviert haben. Ich wusste schon früh, dass mir mein Beruf nicht nur Spaß macht, sondern auch liegt und ein Handwerk dahintersteckt, das ich langsam beherrsche. Erst da wurde mir klar, wie viele Facetten Journalismus hat – und wie viele Ausbildungen. Wäre ja auch schlimm, wenn nur Absolventen der Journalistenschulen was mit Medien machen.

Was qualifiziert Journalist*innen zur Moderation?

Vor dem ersten Interview bei Klamroths Konter hatte ich kaum Moderationserfahrung, nicht mal echtes Interviewtraining. Ich hatte Praktika gemacht bei erfahrenen Journalisten wie Günther Jauch und Friedrich Küppersbusch, der meine Sendung produziert hat. Denen konnte ich zwar auf die Finger schauen und ungeheuer viel lernen, aber eher theoretisch als praktisch. Super Anschauungsmaterial und eine gute Vorbereitung darauf, zu moderieren, zu fragen, nachzuhaken. Ich empfinde es als Vorteil, mir viel über learning by doing angeeignet zu haben.

Warum ist das ein Vorteil?

Weil ich unvoreingenommener, ohne Erwartung irgendeines Schulterklopfens reingegangen bin. Ich konnte völlig angstfrei fragen, was mir durch den Kopf ging. Meine Gesprächspartner haben das als erfrischend wahrgenommen, das glaube ich zumindest. Vielleicht auch, weil sie mich zunächst fürs Lichtdouble gehalten haben, das sie dann mit Hartnäckigkeit überrascht hat. Aber dieser Vorteil hat sich natürlich relativ schnell abgenutzt. Mit wachsender Aufmerksamkeit fürs Format kannten die mich irgendwann halt einfach.

Was sind die Kernkompetenzen?

Ein dickes Fell vielleicht. Spaß an der Sache. Neugier für Leute und Themen. Und bei aller Härte in der Debatte auch Empathie für meinen Gegenüber.

Wie ist es mit der Fähigkeit zur Objektivität?

Wahre Objektivität gibt es sowieso nicht, aber guter Journalismus beherrscht idealerweise das Handwerk, so nah wie möglich an ein Ideal davon heranzukommen. Journalismus allerdings als reines Handwerk zu verstehen, ist mir zu technokratisch – in Zeiten, da die Demokratie und ihr Journalismus weltweit so unter Druck stehen. Das Wort Haltungsjournalismus ist mittlerweile zu einem Kampfbegriff der extremen Rechte geworden. Deshalb spreche ich lieber von Verantwortung – die gehört für mich zum Journalismus auch dazu.

Steht diese Verantwortung der gebotenen Neutralität im Journalismus nicht im Weg?

Nein. Journalismus findet immer in einem Kontext statt. Neutralität heißt ja eben nicht, diesen Kontext zu ignorieren, sondern ihn bewusst wahrzunehmen und transparent zu machen. Bei einem Pro und Contra würde das bedeuten, nicht aus scheinbarer Neutralität heraus in eine False Balance zu rutschen.

„In der Demokratie wie im Journalismus müssen wir streiten, und zwar gerne auch mal lauter, härter, energischer – sofern der Streit respektvoll vonstattengeht.“

Muss man eine Rampensau sein?

Man darf zumindest keine Angst vor Aufmerksamkeit haben.

Und vor Öffentlichkeit?

Das sind zwei Paar Schuhe. Man muss keine Rampensau sein, um Gespräche vor Publikum zu führen, darf aber keine Angst davor haben, dass einem wie zuletzt bei Hart aber fair dabei 2,7 Millionen Menschen live zusehen. Bei der Arbeit! Völlig absurde Situation eigentlich. Damit muss man umgehen, allerdings ohne dabei – wie Rampensäue – im Mittelpunkt stehen zu wollen. In einer politischen Talkshow sitzen dort die Gäste, nie der Moderator.

Als Moderator muss man die Situation permanent unter Kontrolle haben. Braucht man da Autorität?

Fürs Publikum ist es jedenfalls weitaus entspannter, wenn ich als Moderator das Gefühl gebe, alles im Griff zu haben. Wobei es vermessen wäre, zu behaupten, dass dies immer gelingt – schon gar nicht in einer Live-Sendung wie meiner, wo angespannte Dynamiken nicht einfach rausgeschnitten werden können. Was bei uns 75 Minuten lang passiert, wird ungefiltert gesendet. Und wenn von den fünf, sechs Teilnehmenden jemand das Steuer übernehmen will, muss ich es mir eben zurückholen. Ich lasse unruhige Situationen auch mal laufen, aber ich bleibe derjenige, der die Diskussion leitet.

Was war mit der vielkritisierten Ausgabe vor der Europawahl? Da haben Ihre Gäste zum Thema Rechtspopulismus irgendwann nur noch durcheinander gebrüllt. Haben Sie das laufen lassen oder das Heft aus der Hand gegeben?

(lacht) Ach, das war eine Runde voller Alphatiere im Wahlkampf, die den Stand der aktuellen Polarisierung ganz gut abgebildet hat. Wenn die so wie damals wild durcheinanderreden, ist zwar weder dem Panel noch dem Publikum geholfen, aber zwischendurch finde ich so etwas ganz okay.

Weil es die Enthemmung gesellschaftlicher Diskurse zeigt?

Genau. Das ist die Realität. Ob ich die Diskussion zu lange laufen gelassen habe, kann man diskutieren. Aber da halte ich es mit Armin Wolf, der meinte, er habe noch nie ein Interview geführt, mit dem er voll zufrieden war. Das war ich auch noch nie. Ich lerne ständig dazu.

Vielleicht kokettiert die legendär hartnäckige Interview-Ikone vom ORF da ein bisschen. Haben Sie Vorbilder wie ihn?

Nicht einzelne Personen. Aber bei Ikonen wie Armin Wolf oder auch etwas weniger berühmten Kolleginnen und Kollegen schaue ich mir gern an, was die gut machen, und nehme es für meine Arbeit mit. Dabei geht es nicht ums Kopieren, sondern ums Reflektieren. Anderen gezielt nachzueifern, hilft nicht dabei, seinen eigenen Stil zu finden.

Der WDR hat sich sicher von Ihnen erhofft, dass Sie den Stil eines Millennials mitbringen, der sowohl analog als auch digital sozialisiert wurde.

Vermutlich.

Wie kommt es, dass Ihre Medienkarriere bislang nahezu vollständig im linearen Fernsehen stattfindet?

Als ich Hart aber fair übernommen habe, wurde ich vom eigenen Umfeld oft gefragt, warum ich denn bitte Fernsehen mache (lacht). Aber damit bin ich nun mal aufgewachsen. Für mich übt es nach wie vor riesige Faszination aus. Ich will das nicht zu soziologisch deuten, aber in Zeiten, in denen Diskursräume zusehends fragmentieren und in Sozialen Medien ausfransen, ist die Zahl an medialen Orten überschaubar, wo Politik seriös und kontinuierlich verhandelt werden kann. Einer dieser Orte ist das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Gerade in sozialen Netzwerken erlebe ich häufig einen Austausch von Affekten statt von Argumenten. Da können gute Talkformate ein Gegenmodell sein. Wobei die Trennlinien verschwimmen.

In den Mediatheken zum Beispiel.

Genau. Deshalb war es von Beginn an unser Bestreben, parallel zur wöchentlichen Ausstrahlung im Ersten ein digitales Publikum aufzubauen. Da haben wir die Aufrufzahlen von Hart aber fair extrem gesteigert und versuchen, Digitales und Lineares zur verbinden – was wahnsinnig schwer ist.

Sie meinen den Mediathek-Ableger Hart aber fair to go.

Zum Beispiel. Aber auch, dass wir Diskurse auf anderen Plattformen lostreten. Unsere Sendung zum Thema Investoren-Einstieg in der Fußball-Bundesliga hat glaube ich mehr Tweets als jede Fernsehsendung zuvor nach sich gezogen. Das Lineare ist und bleibt auf längere Sicht Sprungbrett und Werbefenster für Inhalte aller Verbreitungswege. Insofern begreife ich mich schon als Moderator, der den Spagat zwischen linear und digital versucht.

Würde Hart aber fair mit Ihnen als Moderator auch nur linear funktionieren?

Gute Inhalte finden immer ihren Weg zu den Leuten. Das lineare Fernsehen ist deshalb so stark, weil bei uns rund zweieinhalb Millionen Menschen zeitgleich, nicht zeitversetzt dabei sind, also im gleichen Moment dasselbe Erlebnis haben. Danach wird dann viel mehr darüber geredet, geschrieben, gepostet. Ich sehe aber, wie oft diese Formate in ihren Möglichkeiten überhöht werden.

Stichwort Ersatzparlamente.

Über Talksendungen wird oftmals mehr berichtet als über wichtige Bundestagsdebatten. Auch die beste Talkshow wird nicht eigenständig wettmachen können, was an Vertrauen in unserer Demokratie in den letzten Jahren verloren gegangen ist. Im besten Falle kann ein guter Politik-Talk einen kleinen Teil dazu leisten, Vertrauen in Demokratie und Medien wiederherzustellen. Wenn beim Zuschauer das Gefühl entsteht, ein Problem und die Lösungen nun besser zu verstehen. Das ist es, wofür ich diesen Job mache.

„Auch die beste Talkshow wird nicht eigenständig wettmachen können, was an Vertrauen in unserer Demokratie in den letzten Jahren verloren gegangen ist.“

Es klingt etwas platt, aber: Wollen Sie mit Ihrer Arbeit etwas bewegen?

Offensichtlich will Journalismus etwas bewegen. Journalismus will Transparenz herstellen, Erkenntnisgewinn schaffen, Macht hinterfragen und Missstände aufdecken. Das hat für mich etwas mit meinem Berufsverständnis eines Journalisten zu tun. Was mich wirklich umtreibt: Das Vertrauen in demokratische Institutionen und Qualitätsmedien bröckelt. Das ist eine Repräsentationskrise. Ich meine das durchaus selbstkritisch.

Inwiefern?

Wie unsere Demokratie funktioniert, nehmen Menschen über die Medien wahr. Aber die medialen Debatten entfremden die Menschen zunehmend von Politik und Parteien, der Demokratie und ihren Institutionen. Im Fernsehen oder anderswo haben Menschen das Gefühl, dass ihre Lebensrealität häufig nicht vorkommt. Die Themen fühlen sich oft weit weg von ihrer eigenen Wirklichkeit an. Meine Befürchtung ist, dass Talkshows diesen Vertrauensverlust nicht eindämmen, vielleicht tragen sie sogar ihren Teil dazu bei.

Sie laden auch Menschen ohne öffentliche Funktionen in Ihre Sendung ein und lesen Social-Media-Kommentare vor. Ist das der Versuch, dem entgegenzuwirken?

Das ist zumindest ein Hebel. Diskussionen unter Entscheidern über das Bürgergeld zum Beispiel verändern sich sofort, wenn jemand dazwischen sitzt, der oder die es bezieht oder vergibt. Pauschalisierungen und Allgemeinplätze funktionieren dann gleich viel, viel schlechter. Ein anderer Hebel sind Faktenchecks bereits während der Sendung oder Ergänzungen wie Hart aber fair to go, womit wir Transparenz über unsere Entscheidungen als Talkshowmacher schaffen. Warum laden wir bestimmte Leute ein? Warum wählen wir das eine, aber nicht das andere Thema? Transparenter in der eigenen Arbeit zu werden, mehr zu erklären, das ist für mich vertrauensbildend und im positiven Sinne öffentlich-rechtlich.

Während Vertreter*innen aus Parteien, Verbänden, Institutionen oder Fakultäten für relativ kleine Gruppen stehen, steht Lkw-Fahrer Jan aus der vergangenen Sendung für 80 Millionen. Wenn Sie Leute aus der Bevölkerung einladen, stimmen die Verhältnisse bei der Repräsentation nicht mehr.

Mhm.

Ist so ein Mensch aus dem sogenannten Volk nicht eher Feigenblatt als Repräsentation?

Das sehe ich anders. In meiner Sendung wird nicht unter hundert Polit-Profis mal einer eingeladen, der dann „für die Menschen” sprechen soll. Jede Sendung integriert Perspektiven aus verschiedensten Lebensrealitäten. Jemand wie Lkw-Fahrer Jan Labrenz ist dann dezidiert nicht da, um für 80 Millionen zu sprechen. Er muss gerade nicht für eine Partei oder Organisation sprechen. Er steht für sich. Das Schöne dabei: Gerade dann stellt sich oft heraus, wie viele sich mit dieser persönlichen und nahbaren Perspektive identifizieren können.

Die Süddeutsche kritisierte, Sie hätten ihn „degradiert“, weil er nicht bei den Profis Lamya Kaddor, Konstantin Kuhle, Wolfgang Niedecken oder Juli Zeh auf der Bühne saß, sondern im Publikum.

Hach, die Süddeutsche (lacht). Im Publikum sitzen ist keine Degradierung. Ich bin einen Tag lang mit Jan Labrenz in seinem LKW mitgefahren. Den Film haben wir in der Sendung gezeigt. Er hatte also eine herausgehobene Stellung. Wir hatten in der Sendung ja mehrere Themen und Jan Labrenz wollte, verständlicherweise, weder bei der Europawahl-Analyse noch bei der Debatte über Abschiebungen nach Afghanistan mitdiskutieren. Bei uns kommen Bürgerinnen und Bürger in unterschiedlichen Konstellationen zu Wort. Mal sitzen sie 75 Minuten mit am Panel. Mal kommen sie für kurze Impulse aus dem Publikum dazu. Je nachdem, was inhaltlich Sinn ergibt. Wobei wir nie behaupten, dass dann eine für alle spricht. Aber was mir bei dieser Frage wirklich wichtig ist: Ich verstehe Bürgerinnen und Bürger nicht in erster Linie als Betroffene.

Betroffene im Sinne von Opfern?

Ja. Mit die beste Expertise über einen Missstand haben doch diejenigen, die ihm ausgesetzt sind. Sie sind also nicht nur Betroffene, sondern vor allem Experten. Andererseits müssen Bürgergäste nicht zwangsläufig betroffen sein, sie können auch andere Expertise einbringen, etwa durch ihre Arbeit in Vereinen und Interessensgemeinschaften.

Um der Gefahr des Tokenism entgegenzuwirken, könnten Sie mehrere Normalbürger*innen einladen, die entgegengesetzte Positionen einnehmen.

Ganz wichtig. Finde ich super, haben wir ja auch schon oft getan und hat gut funktioniert. Es muss aber auch passen. Ein Gast wie der besagte Jan Labrenz hat die demoskopischen Erkenntnisse übers Rumoren in der Bevölkerung alleine gut auf den Punkt gebracht, als er meinte, er gehe auf dem Zahnfleisch. Andere Sendungen könnten womöglich mehr Leute vertragen. In der Runde zum Bürgergeld sagte ein Gast, es reiche nicht zum Leben, und ein anderer, die Erhöhung würde Arbeitswillige vom Arbeiten abhalten. Wichtig ist aber vor allem, dass wir nicht den Gegensatz die Politik gegen die Menschen aufbauen. Diese Vereinfachung ist im Panel ebenso wie beim Publikum denkfaul.

„Ich gehe keinem Streit aus dem Weg.“

In einer Welt, wo selbsterklärte Expert*innen überall Fakenews verbreiten, sehnt sich das Publikum doch eher nach fundierter Expertise.

Vielleicht, aber das können auch ungeübte Talkshow-Gäste liefern. Darüber hinaus ist es fast unmöglich zu sagen, was das Publikum will. Dafür ist es viel zu heterogen und divers, und das ist gut so. Umso mehr empfinde ich es als Bereicherung, wenn jemand mal die Kommunikationsmuster von Politikprofis durchbricht.

Erwartet das Publikum eine gewisse Reife von einem Moderator?

(lacht) Reife?

Anders gefragt: Blicken Publikum, Gäste und Kritik skeptisch auf einen Mann Anfang 30, der es ohne entsprechende Ausbildung mit altgedienten Debattenprofis aufnimmt?

Wenn ich auf der Straße angesprochen werde, kommt nach „anfangs hätte ich Ihnen das gar nicht zugetraut“ oft „aber jetzt finde ich das gut, wie Sie das machen“. Kompetenz braucht nicht nur Erfahrung, sondern auch Gewohnheit. Und nach 22 Jahren Frank Plasberg brauchten die Leute ein bisschen, um sich an Louis Klamroth zu gewöhnen. Deshalb fand ich die Entscheidung des WDR, im angestrebten Verjüngungsprozess eine Generation zu überspringen und mich diese Sendung moderieren zu lassen, mutig.

Fast schon verwegen!

Aber es hat funktioniert, weil die Zuschauer und Zuschaurinnen sehen, dass ich thematisch gut vorbereitet und ehrlich interessiert bin. Ich will meine Sendung auf keinen Fall irgendwann routiniert runtermoderieren, ohne mich davon berühren zu lassen. Wir machen eine der meist gesehenen Politiksendungen im deutschen Fernsehen, während jede Woche eine Krise die nächste jagt. Es ist wichtig, dass wir uns fragen: Werden wir der Komplexität dieser Zeit gerecht und lassen wir genug Nuancen zu? Mir ist es ein Anliegen, nicht damit aufzuhören, solche Fragen zu stellen. Sollte mir das irgendwann nicht mehr gelingen, höre ich auf.

Wie gehen Sie damit um, dass jeder falsche Satz einen Shitstorm entfachen kann?

Für mich ist es bedeutend leichter damit umzugehen als für Politikerinnen und Politiker. Fehler passieren, damit kann ich umgehen – und tue es auch. Es ist in meinen Augen ein systemischer Widerspruch, dass wir von Politikern einerseits Fehlerfreiheit erwarten und auf der anderen Seite fordern, dass sie menschlich, spontan und lebensnah sprechen.

Haben Sie es eigentlich je bereut, sich so in der Öffentlichkeit zu exponieren und damit zum potenziellen Ziel von Hass und Hetze zu machen?

Nein. Ich habe meine Mechanismen mit Hass umzugehen.

Welche genau?

Jeder Hate-Post wird kategorisch verfolgt, sofern er juristisch angreifbar ist. Aber als weißer Mann habe ich damit auch weniger Probleme als weibliche Kolleginnen, die weitaus mehr im Feuer stehen.

Es folgt – Ehrenwort – die einzige Frage zu Ihrer Freundin Luisa Neubauer: Sie haben sich dazu entschieden, Ihre Beziehung selbst öffentlich zu machen und haben mit dem Medienmagazin DWDL darüber gesprochen. Warum?

Ich spreche grundsätzlich nicht über mein Privatleben. Und das bleibt auch in diesem Interview so.

Okay. Dann der Vollständigkeit halber noch die Frage aller Fragen: Sollte man die AfD einladen oder nicht?

Ich hatte die AfD bei n-tv zu Gast, ich hatte sie bei ProSieben zu Gast und ich hatte sie bei Hart aber fair zu Gast. Die Partei wird von vielen Menschen gewählt, das sehen wir in der Redaktion natürlich. Aber sie ist eben keine normale demokratische Partei. Sie wird in mehreren Bundesländern vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft und wird bundesweit vom Verfassungsschutz beobachtet. Es stellt sich die Frage, ob die Partei oder Teile von ihr unser Grundgesetz aushebeln wollen. Das unterscheidet die AfD grundlegend von allen anderen demokratischen Parteien.

Mit welcher Konsequenz für Sie und Ihre Talkshow?

Dass wir von Sendung zu Sendung und Thema zu Thema entscheiden, wen wir einladen oder nicht. Eine Talkshow muss, was viele missverstehen, ja keinem Parteien- oder Meinungsproporz genügen. Gleichzeitig versucht sie in der Regel demokratische Debatten zu ermöglichen. Und da stellen wir uns gerade im Zuge der Rechercheergebnisse von Correctiv oder des Vorwurfs der Bestechlichkeit ranghoher AfD-Europapolitiker die Frage, wie wir mit einer teils undemokratischen Partei umgehen.

Die AfD würde in Ihrer Runde grundsätzlich alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Nicht zwangsläufig. Ich erinnere mich zum Beispiel an unsere Sendung, in der der wirtschaftspolitische Sprecher der AfD, Leif-Erik Holm, mit der Autoindustrie-Lobbyistin Hildegard Müller diskutierte. Das hat gut funktioniert. Aber es bleibt schwierig und kompliziert. Will man die Demokratiefeindlichkeit dieser Partei zum Thema machen, zieht das automatisch Aufmerksamkeit von anderen Themen.

Persönlich hätten Sie aber keine Angst vor dem Streit mit Alice Weidel oder Maximilian Krah?

Ich gehe nie mit Angst in irgendein Gespräch. Aber die Frage hat sich mir bisher auch nicht gestellt. Wir haben weder Maximilian Krah noch Alice Weidel in die Sendung eingeladen.

Jan Freitag ist Journalist in Hamburg. Nikita Teryoshin arbeitet als Fotograf in Berlin.