"Ich übergebe meiner Nachfolgerin ein solides Haus"

„Wir erfüllen einen Auftrag. Die Gesellschaft darf sagen, was sie will, aber auch, was sie nicht, anders oder zusätzlich will.“ (Foto: Marina Weigl)

Nach zwölf Jahren an der Spitze des WDR gibt Tom Buhrow (66) den Intendantenposten ab. Buhrows Abschied fällt in bewegte Zeiten: Tarifdebatten, Beitragsdebatten, Auftragsdebatten. Auch der Streit mit den Verlagen keimt wieder auf. Wie soll der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Zukunft aussehen? Interview: Jan Freitag, Fotos: Marina Rosa Weigl

03.11.2024

„Ich werde nicht jammern“, sagt der WDR-Intendant Mitte Oktober mit Blick auf das, was die Bundesländer gerade in dem Reformstaatsvertrag verhandeln. In seinem Abschiedsinterview empfiehlt Buhrow, mehr darauf zu hören, was die Menschen vom ÖRR wollen. „Der größte Kulturwandel meiner Amtszeit besteht darin, nicht mehr nur auf unseren Anspruch, sondern auch auf den der Nutzerinnen und Nutzer zu blicken.“

journalist: Herr Buhrow, haben Sie kürzlich den Zeit-Artikel Die Intendantin gelesen, in dem Patricia Schlesinger nahezu vollumfänglich vom Vorwurf der Vetternwirtschaft oder Vorteilsnahme freigesprochen wurde?

Tom Buhrow: Den hab’ ich natürlich gelesen.

Was war Ihre Reaktion – Na bitte oder Na, wenn schon? Ändert er alles oder nichts?

Nachdem die Perspektive bislang häufig von außen kam, haben die zwei Autoren jetzt mal eine andere Perspektive eingenommen. Im Grundsatz ändert das aber eher wenig.

Auch nicht Ihre Sicht auf den Fall und den daraus entstandenen Reformkurs des öffentlich-rechtlichen Rundfunks?

Nein.

Bei aller Vorverurteilung, die ihr offenbar widerfahren war, räumt Patricia Schlesinger allerdings ein, die Diskrepanz zwischen Sparrunden und Investitionen hätten beim RBB das „Klima vergiftet“, weshalb sie „die Belegschaft verloren“ habe. Haben Sie die Belegschaft des WDR noch?

Seit ich vor fast 40 Jahren angefangen habe, kenne ich es sowohl beim WDR als auch in der ARD nicht anders, als dass Ressourcen immer knapper geworden sind. Schon damals konnten wir programmlich nur Neues aufbauen, wenn wir woanders abbauten. Das macht natürlich was mit den Menschen – unabhängig davon, wer gerade Intendant ist und unabhängig vom Sender.

Und bei Ihrem Sender im Besonderen?

Wir haben diese Adaptionen aus meiner Sicht gut bewältigt. Und auch für die Zukunft ist der WDR gut aufgestellt. Ich übergebe meiner Nachfolgerin ein solides Haus. Wie die Rahmenbedingungen von der Medienpolitik gerade verändert werden, das ist etwas anderes, aber das kennt ja jeder.  

„Der größte mediale Kulturwandel meiner Amtszeit besteht darin, nicht mehr nur auf unseren Anspruch, sondern auch auf den der Nutzer zu blicken.“

Akzeptiert es auch jeder?

Sie finden in jedem Bereich, der von so was betroffen ist, natürlich Menschen, die ihn bitte nicht angetastet sehen wollen. Aber alles in allem herrscht da beim WDR hoher Realismus und entsprechend große Einsicht.

Im WDR und anderen Häusern gehen Journalistinnen und Journalisten gerade für faire Bezahlung auf die Straße, neulich war ARD-aktuell von Warnstreiks betroffen. Sehen Sie da keinen Konflikt?

Tarifauseinandersetzungen sind etwas anderes. Die sind ebenso normal wie Warnstreiks. Als Arbeitgeber bin ich natürlich manchmal anderer Meinung als die Gewerkschaften, wie früh man das Mittel des Arbeitskampfes anwenden sollte. Aber es ist etwas Legitimes, das nichts über generelle Befindlichkeiten einer Belegschaft aussagt.

Kann man ein System wie das öffentlich-rechtliche unabhängig von der Belegschaftsreaktion auch kaputtsparen?

Wir müssen eine ehrliche Debatte darüber führen, was die Gesellschaft in Zukunft vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk erwartet. Das habe ich vor zwei Jahren in meiner Rede beim Übersee-Club in Hamburg deutlich gemacht.

Wo Sie zwar ARD-Vorsitzender waren, angeblich aber als Privatmann radikale, hitzig diskutierte Reformen gefordert haben.

Privatmann habe ich nie gesagt. Lesen Sie das ruhig nochmal nach. Ich habe nur deutlich gemacht, dass ich an diesem Abend nicht im Namen der ganzen ARD spreche. Es war und ist mir wichtig, aufrichtig zu sein. Wenn man uns nicht mehr ausstatten will wie bisher, muss man ordnungspolitische Grundsatzentscheidungen in der Medienpolitik treffen. Man muss dann klar sagen, auf was man konkret verzichten will, und nicht nur pauschal fordern, wir sollten schlanker und kleiner werden. Nur dann können die Sender das verantwortungsvoll managen. Mein Credo besteht immer darin, auch unkomfortable Maßnahmen offen und ehrlich zu kommunizieren. So habe ich es auch vom ersten Tag an gehalten. Bei meiner Ankunft in der Intendanz 2013 habe ich mit der Geschäftsleitung eine solide Finanzplanung für die kommenden Jahre aufgestellt.

Und?

Um das Programm dauerhaft zu entlasten, haben wir den Personalstand abgebaut. Über fünf Jahre hinweg 500 Planstellen einzusparen, ist keine kleine Sache und alles andere als angenehm. Aber mit klarem Zeitplan klar vermittelt hat der WDR das geschafft.

Aber wo lassen sich die größten Stücke der Wurst kürzen: horizontal beim WDR oder vertikal zwischen den Landesrundfunkanstalten der ARD?

Wir können und müssen überall Synergien heben und tun das ja längst. Auch in Printredaktionen wie Ihrer muss man dafür überall ran. Im WDR haben wir im Zuge des crossmedialen Umbaus Fernsehen und Hörfunk zusammengelegt und nach Themenbereichen neu geordnet. Das war eine große Anstrengung. Natürlich kann man auch weiter bei Technik, Produktion und Verwaltung sparen, aber das ist schon zu einem großen Teil ausgeschöpft. Es ist eine Illusion, die Sender schlanker haben zu wollen, ohne auch inhaltlich etwas abzubauen – das sagt die KEF übrigens auch schon seit Jahren.

„Wer den Rundfunkbeitrag beeinflussen will, muss zunächst den Auftrag ändern. Anders formuliert: Wer B sagt, muss erst A sagen.“

Spätestens jetzt kommen also die Kompetenzzentren ins Spiel, mit denen senderübergreifend Themenschwerpunkte gebündelt werden?

Zum Beispiel. Damit heben wir programmliche Synergien aus eigener Kraft. Es müssen nicht alle alles machen. Grundsätzlich ist mir wichtig: Wir erfüllen einen Auftrag, den uns die Gesellschaft gibt. Und die Gesellschaft darf sagen, was sie will, aber auch, was sie nicht, anders oder vielleicht zusätzlich will. Danach bemisst sich dann der Beitrag, den wir alle zahlen. Wer den Beitrag beeinflussen will, muss zunächst den Auftrag ändern. Anders formuliert: Wer B sagt, muss erst A sagen. In der Zwischenzeit schaffen wir von uns aus programmliche Synergien, etwa durch die erwähnten Kompetenzzentren.

Wäre das beim WDR beispielsweise der Sport?

Ab 2025 werden die meisten Sportereignisse der ARD zentral auf dem Sportcampus des WDR produktionstechnisch abgewickelt. In anderen Feldern übernimmt der WDR dagegen Leistungen von anderen, zum Beispiel Inhalte anderer Radiowellen. Wir müssen nicht alles parallel machen. Der Reformstaatsvertrag geht sogar noch weiter. Einzelne Wellen sollen ganz eingespart werden. Und da sind wir noch nicht mal bei der denkbaren Zusammenlegung von 3sat und Arte.

Flankiert vom Vorschlag des Zukunftsrates, nicht nur einzelne Aufgaben der ARD, sondern ihre Geschäftsführungen zusammenzulegen.

Soweit ich weiß, kommt das im Entwurf zum Reformstaatsvertrag gar nicht mehr vor.

Was der Zukunftsrat gerade kritisiert hat. Zumal dem Publikum, also der angesprochenen Gesellschaft, Sparmaßnahmen im Führungsbereich lieber sind als an Personal oder Programm.

Das ist eine medienpolitische Überlegung außerhalb meines Einflussgebietes. Aber ein Problem daran dürfte sein, dass womöglich erstmal nichts abgebaut, sondern was aufgebaut wird. Wenn Sie eine zentrale Geschäftsleitung installieren, machen die neun anderen ja nicht sofort dicht. Bei den Kompetenzzentren sind wir da schon weiter.

Befürchten Sie nicht, dass sich durch überregionale Bündelungen regionaler Kompetenzen die lokalen Profile und Befindlichkeiten vor Ort abschleifen – also genau das, worin viele den wichtigsten Daseinsgrund des Journalismus sehen?

Die Befürchtung teile ich nicht. Jeder kann selbst entscheiden, welche Senderstrecken man von einem Federführer übernimmt. Das wird in jedem Fall eher in den Randzeiten sein und auch da wird man die eigenen erfolgreichen regional geprägten Programmteile beibehalten. Im Radio zum Beispiel, das eine andere Primetime als Fernsehen hat, gibt es abendliche Sendungen mit vergleichsweise wenig Hörerinnen und Hörern, dass es sich anbietet, die eigene Sendung durchaus mal gegen eine Sendung aus einem anderen ARD-Haus auszutauschen. Natürlich gibt es überall Verlustängste, und es ist die Aufgabe des Managements, damit umzugehen. Aber schon allein wegen dieser Flexibilität, die wir hierzu eingeführt haben, ist mir um die regionalen Profile nicht bange.

Ist Ihnen denn um die Vielfalt am Bildschirm bange, wenn 3sat mit Arte, Neo mit ONE und Phoenix mit ZDFinfo, ARD alpha und tagesschau24 zusammengelegt werden?

Im Grunde herrscht abseits einiger Kritikpunkte doch große Wertschätzung für das öffentlich-rechtliche Programmangebot. Wenn man davon etwas wegnimmt, herrscht deshalb zunächst mal mehr Bedauern als Befriedigung. Das sieht man ja an der emotionalen Debatte über 3sat. Aber wenn der Auftrag darin besteht, schlanker und kostengünstiger zu arbeiten, müssen wir identifizieren, wo was wegfallen kann – selbst, wenn es Verluste guter Sachen mit sich bringt.

Wie unterscheidet man bei der Verteidigung liebgewonnener Formate, Sender, Inhalte denn Pfründe von Qualität, also Masse von Klasse?

Entscheidend ist doch bei der Reformdebatte, was die Menschen von uns erwarten und was nicht. Beim WDR, mit dessen Verschlankung ich ja schon bei meinem Amtsantritt betraut wurde, sind wir frühzeitig alle Alternativen konkret durchgegangen und haben personell so umgeschichtet, dass hauptsächlich Produktion, Technik und Verwaltung betroffen waren und erst dann das Programm. Eine Maßnahme, die mir dabei nicht leichtgefallen ist, betraf die äußerst populäre Lokalzeit am Samstag, in der alle elf Regionalstudios getrennt voneinander Beiträge gebracht haben. Statt elfmal die komplette Infrastruktur einzusetzen, haben wir trotz guter Einzelreichweiten alles zu einer Sendung für Nordrhein-Westfalen zusammengelegt. Mittlerweile wird unser gesamtes Angebot von Audio über Video bis Social Media darauf überprüft, ob Ressourcen und Reichweite, Input und Output in einem konstruktiven Verhältnis stehen. Damit wollen wir das Unternehmensziel erreichen, nicht nur lineare, sondern digitale Heimat im Westen zu sein und neue Zielgruppen zu erreichen.

„Ich bin davon überzeugt, dass unser Text Verlagen nicht schadet, mehr noch: dass er unerlässlich ist.“

Die ARD ist nicht nur im nachrichtlichen und dokumentarischen, sondern auch im fiktionalen Bereich die mit Abstand größte Auftraggeberin. Kann sie dieses Niveau aufrechterhalten?

Das sind medienpolitische Entscheidungen, bei denen wieder gilt, was ich vor zwei Jahren gesagt habe: Es geht nicht ohne Schmerzen! Wenn der gesellschaftliche Auftrag an uns weniger lautet, wird es weniger geben. Darum haben die Produzenten schon in der letzten Beitragsdebatte vor vier Jahren darauf hingewiesen, was das auch für die Produktionsstandorte der einzelnen Bundesländer bedeutet. Ich kann es nicht oft genug wiederholen: Sagt ehrlich, was ihr wollt und was nicht. Ich schaue übrigens gerade die ARD-Serie Der Herr des Geldes

Ein vierteiliges Biopic über die letzten Tage des Deutsche-Bank-Chefs Alfred Herrhausen bis zum Attentat der RAF.

Finde ich fantastisch und es wäre sehr, sehr schade, wenn solch gute Sachen weniger gemacht würden als zuvor.

Aber auch das kann passieren?

Das hat die Gesellschaft zu entscheiden, nicht wir – auch wenn es besonders für unseren Anspruch, experimenteller, jünger, diverser zu werden, wichtig ist.

Wie findet man da die Balance zwischen Mainstream für die Masse und Experimenten für die Nische?

Unter anderem dadurch, dass wir uns frühzeitig darauf festgelegt haben, den Fokus klar aufs Digitale zu legen. Wo mehr Experimente – die ich auch aus meinem Intendantentopf zu fördern versuche – möglich sind, programmieren wir digital only beziehungsweise digital first. Gleichzeitig schichten wir aber auch große Batzen Programm so um, dass sie erst in der Mediathek laufen und dann nach einem linearen Sendeplatz gesucht wird. 

Muss die ARD mit ihrer gewaltigen Man- und Material-Power digital weniger presseähnlichen Inhalt anbieten oder im Sinne der journalistischen Grundversorgung eigentlich sogar mehr?

Sie steuern mich auf Konfliktfelder, sehr gut! (lacht) Dazu Folgendes: Wir müssen alle im Internet präsent sein, da sind wir uns einig. Die alte Einteilung zwischen Audio und Video auf der einen Seite und Text auf der anderen, ohne Berührungspunkte – diese Welt existiert nicht mehr. Ob Zeitung, Radio, Fernsehen: Alle müssen im Netz präsent sein, wo Informationen ohne Text undenkbar sind. Ich bin auch überzeugt, dass die Herausforderungen der Printbranche nicht geringer wären, wenn wir kaum Text im Internet hätten.

Weil dieses Internet kein Nullsummenspiel ist?

Genau. Das gesamte Geschäftsumfeld der Verlage hat sich so geändert, dass sie – vorsichtig formuliert – in keiner allzu beneidenswerten Situation sind. Denken Sie nur ans Anzeigengeschäft. Dennoch haben WDR und ARD großes Interesse an einer starken Presselandschaft, besonders regional. Weite Teile Deutschlands, insbesondere aber Nordrhein-Westfalens, befinden sich immer noch in der komfortablen Lage, ein reichhaltiges Angebot qualitativ hochwertiger Tageszeitungen zu haben, die von lokalen Gemeinde- und Kreistagssitzungen berichten.

Die stehen in Konkurrenz zur gebührenfinanzierten Berichterstattung, wenn das Angebot auf den ARD-Homepages presseähnlich ist.

Das sehe ich wie gesagt etwas anders als viele Verleger. Aber ich habe mich trotzdem immer um ein konstruktives Verhältnis bemüht. Beispielsweise indem ich vor Jahren da unilateral aus der ARD ausgeschert bin und den Text-Anteil des WDR im Internet reduziert habe.

Als Good-Will-Aktion?

Die womöglich dazu beigetragen hat, im Staatsvertrag eine Formel zu finden, den Konflikt zu befrieden. Ich bin wie in jeder guten Beziehung bereit, Kompromisse einzugehen, wenn mein Partner mit meinen Entscheidungen Probleme hat. Zugleich bin ich aber überzeugt, dass unser Text Verlagen nicht schadet, mehr noch: dass er unerlässlich ist. Wir können bei Ereignissen wie dem Anschlag von Solingen im eigenen Sendegebiet doch nicht mit der Berichterstattung warten, bis die ersten Beiträge gedreht sind – so wie es der aktuelle Entwurf vorsieht! Auch Spielergebnisse im Sport müssten wir dem Publikum komplett vorenthalten, wenn wir keine Übertragungsrechte hätten. 

„Als Ulrich Wilhelm beim Abschied sagte, dass er erst einmal Abstand brauche, hat das keiner geglaubt. Jetzt glaube ich es. Denn auch ich brauche nun etwas Abstand.“

Was bedeutet das nun?

Wir sollten nicht Artikelzeichen zählen und mit Sendesekunden abgleichen, aber im Schwerpunkt bild- und ton-, statt textlastig berichten. Der ARD-Vorsitzende Kai Gniffke hat in diesem Zusammenhang das Angebot einer Selbstverpflichtung gemacht, um bestimmte Aspekte genauer zu fassen und damit den Sorgen der Verleger entgegenzukommen. Aber wir können und wollen nicht einfach nur ein Play-Button sein. Und wie gesagt: Wir müssen und werden da Kompromisse finden.

Wie lautet die vorläufige Antwort auf den Umgang mit Streamern und Privatsendern: deren Erfolge kopieren oder eigene kreieren?

Hier plädiere ich für Letzteres. Gerade Streamer haben alle ein extrem spitzes Profil, die einen etwa mit Fokus auf Sport, die anderen auf Serien und Filme.

Ein digitales Vollprogramm gibt es bislang nicht.

Exakt. Wir dagegen müssen eines anbieten und darüber hinaus wegen der Altersstruktur unseres Publikums, das immer noch sehr gern linear sieht und hört, mindestens zehn Jahre lang noch alle Abspielwege anbieten. Darüber hinaus müssen wir auf allen Geräten überall und permanent digital abrufbar sein. Dennoch können wir natürlich Teilaspekte der Streamer auf uns übertragen. Wenn ich sehe, dass digitale Serien besser funktionieren als solitäre Filmproduktionen, können und müssen wir davon lernen.

Das Zwischenergebnis eines langen, schmerzhaften Lernprozesses ist der Reformstaatsvertrag auf Basis der Empfehlungen des Zukunftsrates, den die Ministerpräsidenten Ende Oktober verabschieden sollen. Da dieses Heft dann schon im Druck ist: Können Sie eine Prognose abgeben, ob am Ende alle glücklich damit sind?

Keine Reform macht alle happy, aber ich finde es beachtenswert, dass die Politik jetzt versucht, ordnungspolitisch klare Vorgaben zu machen und dabei eventuelle Phantomschmerzen in Kauf nimmt. Unsere Rolle ist klar: Wir erfüllen einen gesetzlichen Auftrag. Natürlich können wir Input geben, aber wir sollten nicht verbissen den Status quo verteidigen. Ich jedenfalls werde nicht jammern. Unsere Aufgabe besteht darin, die Konflikte mit Genres, Gewerken, Personal, Interessengruppen so zu managen, dass unser Auftraggeber davon profitiert, nämlich Publikum und Gesellschaft. Der größte mediale, längst überlebenswichtige Kulturwandel meiner Amtszeit besteht schließlich darin, nicht mehr nur auf unseren Anspruch, sondern auch auf den der Nutzerinnen und Nutzer zu blicken.

Also nachfrage- statt angebotsorientiertes Programm bieten?

Nicht ausschließlich natürlich, aber größtenteils. Dass die Bevölkerung und ihre gewählten Vertreter das einfordern, ist für uns manchmal einschränkend, aber absolut demokratisch.

Das wäre die politische Basis der öffentlich-rechtlichen Tätigkeit. Was ist mit der finanziellen – rechnen sie gleich nach Ende Ihrer Amtszeit damit, dass die Ministerpräsidenten-Konferenz eine Beitragserhöhung um 58 Cent wie von der KEF empfohlen akzeptiert?

Die KEF-Empfehlung hat eine hohe Verbindlichkeit. Ich gehe davon aus, dass sie wirksam wird. Politisch kommt das Verfahren an seine Grenzen. Es ist schwieriger geworden, dass sich alle 16 Bundesländer im Konsens einigen und alle vier Jahre der KEF-Empfehlung folgen. Diese Herausforderung ist bislang nicht gelöst.

Weshalb das Verfassungsgericht alle vier Jahre ein Machtwort spricht.

Aber das kann ja nicht die Dauerlösung sein.

Der ARD-Gremienvorsitzende Engelbert Günster sagte dazu kürzlich sogar, das nütze nur den Populisten!

Ich finde nicht, dass wir uns von denen abhängig machen sollten, weder in die eine noch in die andere Richtung, weder was Zustimmung noch Ablehnung betrifft. Wir müssen tun, was wir für richtig halten. Punkt.

Dummerweise steht die populistische Ablehnung gerade in mehreren Bundesländern an der Grenze zur politischen Entscheidungsgewalt und könnte den Rundfunkstaatsvertrag einseitig kündigen.

Das ist eine hypothetische Frage, weil die Parlamente sich noch in der Mehrheitsfindung befinden. Im Augenblick sieht es nicht so aus, als ob Herr Höcke Ministerpräsident wird. Und damit kann er auch keinen MDR-Staatsvertrag kündigen. Insofern droht das in naher Zukunft nicht.

Umso wichtiger wäre es, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk auch vertragsrechtlich für die entferntere Zukunft wehrhaft zu machen.

Und da können Sie den Beitrag absenken oder sich programmlich anstrengen, wie Sie wollen – populistisches Anspruchsdenken wird man nie befriedigen, nie befrieden.

Wäre es da nicht umso wichtiger, das Kündigungsrecht der Staatsverträge von der Exekutive auf die Legislative zu übertragen?

Das wäre eine Möglichkeit. Parlamentarismus ist das Herz unserer Demokratie. Bei so grundlegenden Fragen wie der Kündigung von Staatsverträgen sollte es so wenig rein exekutive Entscheidungen wie möglich geben. Aber da befinden wir uns tief im Unterholz juristischer Feinheiten und föderalistischer Fragen. Da müssen Sie Verfassungsrechtler fragen.

Wie viel inhaltliche Haltung ist dabei für eine Nachrichtenredaktion wie ARD aktuell statthaft, um sich klar etwa gegen rechte Populisten zu positionieren, ohne als voreingenommen und subjektiv zu gelten?

Der digitale Raum vergibt bekanntlich Aufmerksamkeitsprämien für zugespitzte, emotionale, provozierende Bemerkungen, die deutlich leichter Communitys bilden als neutrale, sachliche. Weil wir dieser Versuchung besser nicht erliegen, sollten wir uns als öffentliche, von der Gemeinschaft finanzierte Stiftung verstehen, in der Meinungen erlaubt sind, wenn sie klar als Kommentare gekennzeichnet sind. In toto sollte unser Interesse an Ausgewogenheit und Objektivität immer spürbar bleiben. Und da muss ich dem NDR ein Kompliment machen, der wertvollsten Nachrichtenmarke in Deutschland …

… die Sie als langjähriger Tagesthemen-Anchor ja von innen kennen!

Auch beim WDR sind wir dankbar und wirken gerne daran mit, dass ARD aktuell sowohl formal als auch inhaltlich seit Jahrzehnten als Nachrichtenmarke so gut gepflegt wird in Hamburg. 

Seit 40 Jahren sind Sie Teil seiner Familie, davon zwölf als Intendant der größten ARD-Anstalt. Nicht, dass die Welt 1984 oder 2011 viel friedlicher war, aber schon etwas übersichtlicher als heute. Wie lautet Ihr Resümee nach all der öffentlichen-rechtlichen Zeit?

Die Medienwelt hat sich komplett geändert. Obwohl es nach einer Binse klingt: Digitalisierung ist eine technische Revolution, wie sie nicht alle 100, sondern eher 500 Jahre vorkommt, vergleichbar mit der Erfindung des Buchdrucks. Da stecken wir, öffentlich-rechtlich oder kommerziell, alle noch mittendrin. Es erfordert Kraft und Weitsicht, führt zu Konkurrenz und Gereiztheit und geht einher damit, dass das Verhältnis zwischen Sender und Publikum – wir senden und andere empfangen...

Was als Instrument zur Meinungsbildung früher Gatekeeping genannt wurde.

… so nicht mehr existiert. Heute wollen die Menschen nicht nur zurück zu uns, sondern untereinander senden. Deshalb ist die größte Veränderung unserer disruptiven Zeit das Verschieben der Perspektive zum Nutzer hin. Dass die Kolleginnen und Kollegen beim WDR diesen Perspektivwechsel vollzogen und die Nutzersicht nicht nur eingenommen haben, sondern leben – darauf bin ich wirklich stolz.

Sie trauern der komfortablen Situation, Menschen bloß zu versorgen und nicht in jeden Diskurs einbinden zu müssen, gar nicht hinterher?

Nein, denn heute sind Medien einfach demokratischer. Und auch, wenn das Internet in Teilen zu populistischer Sektenbildung geführt hat, trägt es doch auch zum Demokratisierungsschub bei.

Zurück zum Fazit: Sind ARD und WDR in ihrer Existenz, ihrer Relevanz oder nur der Komfortzone gefährdet?

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wird in diesem Jahrhundert weiter eine starke Rolle für unsere Demokratie spielen – als Dienstleister der Gesellschaft über alle Unterschiede und Schranken hinweg.

Sie sind also gar nicht froh, das sinkende Schiff öffentlich-rechtlicher Rundfunk in der Seeschlacht gegen die Freibeuter von Streamingdiensten bis Social Media zu verlassen?

Das Schiff des WDR fährt unter vollen Segeln seinen Kurs, wir sind haushalterisch und programmlich solide aufgestellt, unsere Teams haben den Reformkurs trotz aller Schwierigkeiten mitgemacht und ebenso wichtig: Sie sehen ihn noch lange nicht als vollendet an.

Und da stimmen Ihnen auch jene zu, die Arbeitsbedingungen, Sparzwänge, Gehälter oder im Fall der Freiberuflichen den Mangel an Wertschätzung beklagen?

Veränderungen sind anstrengend und herausfordernd, und ich bin stolz darauf, wie die Kolleginnen und Kollegen sie meistern.

Wie darf man sich angesichts all der Herausforderungen die Stabübergabe an Katrin Vernau vorstellen – räumen Sie irgendwann dieses große Büro oder wird der Übergang fließend?

Auf jeden Fall fließend! Und dafür hatte ich dem Rundfunkrat drei Pflichten zugesichert, die ich mir selbst auferlegt habe. Die erste liegt in der Vergangenheit und bestand darin, eine starke und heterogene Geschäftsführung aufzubauen. Damit hatte der Rundfunkrat intern schon mal eine Auswahl an starken Führungskräften für eine Nachfolge. Die zweite betrifft meinen Rückzug, den ich mit großem zeitlichem Vorlauf bekanntgegeben habe. Meine letzte Pflicht betrifft die letzten Monate, in denen ich alles dafür tue, anstehende Entscheidungen organisch und gemeinschaftlich zu treffen. Deshalb ist Katrin Vernau schon längst in die WDR-Intendanz und ARD-Diskussionen voll eingebunden. Auf der Kommandobrücke gibt es einen guten, vertrauensvollen, harmonischen Übergang.

Sie sagten vorhin, ihr und uns den WDR als gesundes Haus hinterlassen zu wollen. Ungeachtet der Frage, ob das gelingt: Wie hinterlässt dieses Haus denn Sie persönlich?

(lacht) Danke der Fürsorge! Die letzten zwölf Jahre waren die intensivsten meines gesamten Berufslebens, deshalb gehe ich wirklich bereichert von den vielen tollen Begegnungen und Erfahrungen mit verschiedensten Themen hier raus. Es ist aber auch mal gut, Abstand zu gewinnen. Die Tage hier sind sehr durchgetaktet. Wenn ich so an mir runterblicke, bin ich daher froh, bald wieder so viel Sport machen zu können, dass ich mich dem körperlichen Zustand, als ich hier angefangen habe, wieder annähere.

Wie verhält es sich mit dem beruflichen Wohlbefinden – wird es ein wirklicher Ruhestand oder tendieren Sie zum Unruhestand als Medienplayer?

Als Medienmanager definitiv nicht, das Kapitel ist abgeschlossen – zumal ich ja nicht aus der Betriebswirtschaft, sondern dem Journalismus stamme. Und da gibt’s den schönen Satz: Journalist bleibt man immer. Aber wer wie ich nicht langsam ausrollt, sondern bis zum letzten Tag Vollgas fährt, braucht danach erstmal etwas Distanz. Den Rest wird die Zukunft zeigen.

Sollten Sie darin irgendwann noch mal wieder publizistisch tätig werden – eher in Form einer Reisereportage oder eines Reporter-Ratgebers?

Hajo Friedrichs hat nach seinem Ausscheiden bei den Tagesthemen Tiersendungen gemacht, ich dagegen diesen Intendanten-Job (lacht). Wer weiß…

Gäbe es darin denn irgendetwas zu bereuen – insbesondere in den Jahren als WDR-Intendant?

Nein, mir war von Anfang an bewusst, dass es eine sehr herausfordernde Zeit wird. Es war nicht immer einfach. Aber ich bereue nichts. Weil ich mich auch nie davor gescheut habe, die unbequemen Dinge anzusprechen. Aber zurück zu Ihrer vorherigen Frage: Eigentlich halte ich es mit Ulrich Wilhelm.

Erzählen Sie!

Als der als BR-Intendant aufhörte, haben wir alle gedacht, er hat schon was Neues in der Pipeline. Als er sagte, dass er erst einmal Abstand brauche, hat das keiner geglaubt. Jetzt glaube ich es. Denn bei mir ist es genauso. Auch ich brauche nun etwas Abstand.

Tom Buhrow wurde 1958 in Troisdorf bei Köln geboren. Nach seinem Magister in Geschichte und Politikwissenschaft begann er ein Volontariat beim WDR. Fast 40 Jahre blieb er dem Sender in wechselnder Position treu, unter anderem leitete er das ARD-Studio in Washington und war Korrespondent im ARD-Studio in Paris. Bundes-weit bekannt wurde er 2006, als er von Ulrich Wickert die Tagesthemen übernahm und im Wechsel mit Anne Will moderierte. Seit Mai 2013 ist er WDR-Intendant, seine Amtszeit endet am 31. Dezember 2024.

Jan Freitag ist freier Journalist in Hamburg. Marina Rosa Weigl arbeitet als Fotografin in Köln.