"Es geht um alles - es geht um die Demokratie"

Herr Friedman, sollte man mit Rechtsextremen sprechen? „Ich bin hin und hergerissen, im Zweifel also gegen das Gespräch.“ (Foto: Hannes Jung für journalist)

Michel Friedman ist Publizist, Anwalt und Philosoph. „Meine Kindheit war von Angst vor der Macht geprägt“, sagt der 68-Jährige, dessen Eltern von Unternehmer Oskar Schindler vor dem Nazi-Regime gerettet wurden. Wie blickt Friedman auf das Erstarken des Rechtsextremismus in Deutschland und die Israelfeindlichkeit in der Welt? Interview: Jan Freitag, Fotos: Hannes Jung

02.05.2024

„Wenn man Björn Höcke ernstnimmt, sieht er mich als ,Untermensch‘“ weit unter seiner Augenhöhe, sagt Michel Friedman im journalist-Gespräch. Wie bewertet Friedman die Entwicklung von Höcke und der AfD? „Erinnern wir uns: Dieser Mann sprach vom Holocaust-Mahnmal als einem der ,Schande‘. Er benutzt eine Sprache des Hasses und der Hetze. Wer so denkt und spricht, steht nicht am Rande, sondern außerhalb der Demokratie.“

journalist: Herr Friedman, wenn es das rote Kanapee noch gäbe, auf dem Sie jahrelang Gäste gegrillt haben – säße darauf heute Björn Höcke?

Michel Friedman: Ich habe nie jemandem gegrillt. Das hätte nicht meinem Selbstverständnis als Journalist und Mensch entsprochen. Aber wenn man Gästen Fragen stellt, die nicht nur Verantwortung für Millionen von Menschen im eigenen Land haben, sondern weit darüber hinaus, dann zeugt es von gegenseitigem Respekt, auch Antworten zu geben. Wenn die Gäste aber stattdessen nur Nebel verbreiten oder Löcher graben, ist es meine Aufgabe als Journalist, das kenntlich zu machen.

Und das gegebenenfalls mit harten Bandagen?

Mit einer Streitkultur, die ich bei BBC Hardtalk gelernt und zuletzt in der Conflict Zone bei der Deutschen Welle angewendet habe. Darin werden selbst Gäste aus Diktaturen behandelt wie solche aus Demokratien. Sie sind der Bevölkerung Rechenschaft schuldig, sie tragen Verantwortung. Darauf zu bestehen, ist die Aufgabe von kritischem Journalismus. Für mein Interview-Format Auf ein Wort hat die Deutsche Welle das angesprochene Sofa übrigens noch mal aus dem Fundus geholt.

Eine Sendung, in der Sie seit 2017 mit Personen aus Wissenschaft und Forschung reden.

Über philosophische und interdisziplinäre Fragen wie Gewalt, Glaube, Krieg oder Sexualität. Weil die Fachleute darin nur Verantwortung für die Stringenz ihrer Antworten tragen, ist die Melodie eine andere und der Dialog damit spielerischer, weicher, aber ebenso inhaltsgetrieben. Ob ich auf dem Sofa mit Herrn Höcke diskutieren würde, möchte ich Ihnen als Bumerang zurückgeben.

Nur zu.

Die Grundlage aller Gespräche ist die Anerkennung beider Seiten als vollwertige Gesprächspartner auf Augenhöhe. Wenn man Björn Höcke ernstnimmt, sieht er mich als „Untermensch“ weit unter der seinen.

Das heißt, Sie würden mit ihm sprechen, aber er nicht mit Ihnen?

Womöglich würde er das tun, aber nur als Objekt seines Judenhasses, also in derselben Kategorie wie schwarze, schwule, migrantische Menschen, die von der AfD verachtet werden. Erinnern wir uns: Dieser Mann sprach vom Holocaust-Mahnmal als einem der „Schande“. Er benutzt eine Sprache des Hasses und der Hetze. Wer so denkt und spricht, steht nicht am Rande, sondern außerhalb der Demokratie. Ich glaube nicht, dass man mit ihm eine inhaltliche Debatte führen kann.

„Wenn wir mit Rechtsextremen reden, müssen wir unbedingt die journalistische Gesprächshoheit behalten.“

Soll man mit Nazis reden, wie es der Thüringische CDU-Fraktionsvorsitzende Mario Voigt bei Welt TV tut, oder gerade nicht, weil es sie hoffähig macht?

Den Begriff „Nazi“ möchte ich nicht verallgemeinern. Ich bin dem Verfassungsschutzchef Herrn Haldenwang aber dankbar, dass er die AfD anders als sein Vorgänger als das bezeichnet hat, was sie in großen Teilen ist – nämlich eine rechtsextreme, verfassungsfeindliche Partei. Sein Satz, der Rechtsextremismus sei die größte Gefahr für unsere Demokratie, hätte in jedem Jahr seit Bestehen der Bundesrepublik formuliert werden können, ja müssen. Erst 2022 aber wurde er ausgesprochen. Besser spät als nie. Und damit zur Frage vom Reden mit Rechtsextremen: Wenn wir das tun, müssen wir unbedingt die journalistische Gesprächshoheit behalten.

Was bedeutet?

Ich gebe zu: Ich bin hin- und hergerissen, im Zweifel also gegen das Gespräch. Aber falls wir es dennoch führen, dürfen wir nicht die Themenwünsche der AfD erfüllen, sondern unsere eigenen; sonst tappen wir in die Falle, alles mit der Migration zu verknüpfen. Wir reden mit den Grünen zu Recht primär über die Umwelt, aber letztendlich über alle politischen Themen. Das muss auch mit der AfD geschehen, sonst triggern wir ausschließlich ihre Kernanliegen – die menschenverachtende Propaganda. Fragen wir also, was Herr Höcke oder Frau Weidel konkret zu Wirtschaft, Kulturpolitik, Pressefreiheit, Rechtstaatlichkeit oder Putin und seinem Angriffskrieg sagen. So wie wir mit der SPD nicht ausschließlich über soziale Gerechtigkeit reden, sollten wir es mit der AfD nicht nur über vermeintliche und tatsächliche Ausländer tun.

Was bedarf es, um ihnen auf die Schliche zu kommen?

Zeit. Zeit, um die Risse der interviewten Person zu erkennen. Im Gespräch mit der AfD würde mich nicht ihre Haltung zur Migration interessieren, sondern: Wie hält Alice Weidel sich als lesbische Frau in einer homophoben Partei selber aus? In der politischen Debatte sind solche Fragen zutiefst aufklärerisch, sofern sie in Formaten mit entsprechender Länge gestellt werden. Viele AfD-Spitzen sind medial so geschult, dass sie Hass und Hetze lieber bei TikTok verbreiten. Vielleicht haben sie auch nicht mehr.

Als Sie Vorsicht, Friedman! gemacht haben, empfanden viele Zuschauer Ihren Stil als respektlos, jedenfalls selten von Zweifel oder gar Selbstzweifeln getrieben.

Respektlos?! Ich habe meine Gäste voller Respekt behandelt, ihre Titel waren mir allerdings zweitrangig. Andererseits: Gehört es nicht zum Respekt eines Gastes, dass er die Fragen nach besten Gewissen beantwortet? Ist die Nachfrage da respektlos? Ich glaube nicht! Nachfragen – und sei es zum dritten Mal – ist der Kern des journalistischen Interviews.

Vom inoffiziellen Lehrsatz, Gäste durch freundliche Fragen milde zu stimmen, bevor man härtere stellt, halten Sie jedenfalls wenig, oder?

Das ist kein Lehrsatz, sondern eine individuelle Herangehensweise. Es gibt ein ganzes Bouquet verschiedener Angebote konstruktiver Dialoge. Übrigens: politische Gesprächsformate sind keine Talkshows; dieser Begriff kommt aus der Unterhaltung. Ich bewundere Kollegen, die das können. Ich kann es nicht.

Aber Sie könnten schon auch sanfter, wollen es aber nicht?

Nicht bei Politiker*innen. Erstens gehört es zu deren Berufsbeschreibung, Rede und Antwort zu stehen. Zweitens benutzen sie Fernsehsendungen völlig zu Recht, um ihre Botschaften zu verbreiten. Das ist legitim. Genauso legitim ist es aber, ihre Widersprüche und Argumentationen journalistisch zu überprüfen. Mir erschließt es sich nicht, warum man sich dafür erst mal warmschmeicheln muss. Bei Profis will ich Stringenz und Widersprüchen auf den Grund gehen, Wahrheit oder Lüge.

Ist das eine Typ- oder nur eine Technikfrage?

Sowohl als auch. Es ist aber auch eine Frage der Authentizität. Das Schöne an der Demokratie ist doch ihr Pluralismus. Er macht eine Vielzahl von Angeboten möglich, die man mögen darf oder nicht. Ich erinnere mich, dass ein Taxifahrer mal meine Chefredakteurin Luc Jochimsen erkannte und sagte, er könne diesen Michel Friedman nicht ab. Diese Arroganz! Diese Überheblichkeit! Da meinte sie, er brauche ja nicht einzuschalten. Darauf er: Aber das halte ich ja nicht aus, ich bin süchtig nach dem. Sie wissen, woher ich stamme?

Aus Paris.

Eine Debattenstadt in einem Debattenland, das mit Händen und Füßen redet, sich streitet und umarmt, eine Kultur des Denkens, die inhaltlich kritisch sein muss und emotional sein darf. Letzteres wird in Deutschland oft ungern gesehen. Es ist aber vor allem im Fernsehen und Radio notwendig, sofern emotionale und kognitive Intelligenz gleichermaßen stringent sind. Ich habe also eine andere Streitkultur gelernt. Übrigens auch als Jude.

Erzählen Sie!

Als Jude empfinde ich es als Geschenk, dass der Messias noch auf sich warten lässt. Dadurch ist jeder Jude sein eigener Rabbiner. Die Schüler beim Tora-Studium diskutieren jeden Satz kontradiktorisch. Dieselbe Idee stand Patin, als die Debattierclubs der Universität Oxford entstanden sind, wo Studierende lernen, auch für andere Meinungen als die eigene zu streiten. Das erweitert die Debattenspielräume enorm und macht uns in jeder Gesprächsrunde zu gastgebenden Gästen. Alles andere wäre auch geheuchelt. Kein Mensch ist neutral.

Aber im Journalismus hoffentlich objektiv.

Ja, und trotzdem mit dem eigenen und dem fremden Gepäck in der Hand. Meine Vorbereitung besteht daher nie nur darin, die Fakten zu kennen. Ich will genauso die Widersprüche und Perspektiven verstehen, das Warum. Warum hat jemand welche Haltung? Warum propagiert Annalena Baerbock eine werteorientierte Außenpolitik, während Robert Habeck nach dem Ende russischer Gaslieferungen in einer Diktatur wie Katar vorstellig wird, die ihrer Außenpolitik widerspricht?

„Das Klagen, das ja auch die AfD täglich formuliert, man dürfe gar nichts mehr sagen in diesem Land, ist ein Vorwand, um sich dem Widerspruch des Gesagten zu entziehen.“

Was würden Sie den mindestens genauso ambivalenten Benjamin Netanjahu da fragen?

Vorweg: Wer mich als jüdischen Journalisten bezeichnet, begeht eine Diskriminierung. Ich bin kein jüdischer Journalist. Ich bin Journalist! Ich bin kein jüdischer Anwalt. Ich bin Anwalt! Ich bin kein jüdischer Philosoph. Ich bin Philosoph! Als Journalist, Anwalt und Philosoph also würde ich Benjamin Netanjahu genauso kritisch befragen, wie jeden anderen auch. In der Hoffnung, dass er wenigstens für Sekundenbruchteile seine Antwortroutine verlassen muss oder falls er es nicht tut: sie damit selbstentlarvt.

Also?

Also kann ich Ihnen nicht sagen. Vor jedem Interview schreibe ich zwar Karteikarten voller Fragen auf, benutze oft aber keine davon. Ich höre lieber zu und versuche, die Antworten kritisch zu bearbeiten. Das ist Chance und Risiko zugleich. Die Chance ist größere Gesprächsdynamik. Dass es trotzdem nicht funktioniert, ist hingegen die Gefahr. Aber dann lag es nicht am Gast, sondern an mir. In der Sache würde mich interessieren: was ist der Plan der israelischen Regierung, falls es zum Waffenstillstand kommt.

Wie nähert sich ein nicht-jüdischer Journalist dem israelischen Konflikt an, ohne antisemitisch zu werden?

Die Antwort ist banal, und ich gebe sie nicht nur als Journalist: Indem er oder sie die israelische Regierung kritisiert wie die deutsche oder die amerikanische. Auch ich verurteile die Politik der israelischen Regierung Netanjahu und seinem Innenminister, der von einem israelischen Gericht als Rechtsterrorist verurteilt wurde, zutiefst. Das zu kritisieren ist ebenso legitim, wie Donald Trump zu kritisieren. Der Unterschied ist, dass dabei niemand die USA infrage stellt, während die Kritik an einer israelischen Regierung ständig mit dem Existenzrecht Israels verbunden wird. Wer einen Palästinenserstaat from the river to the sea fordert, fordert die Vernichtung des israelischen Staates und seiner Menschen. Das ist purer Antisemitismus.

Aber selbst, wenn sie frei von Eliminierungsgedanken ist, steht nichtjüdische Kritik an Israel schnell unter Antisemitismusverdacht, weshalb ich persönlich extrem vorsichtig damit bin.

Interessant. Ich kenne kein Land, in dem die Medien Israel härter kritisieren als die deutschen seit dem Sechstagekrieg 1968. Damals besonders von der Linken. Dabei waren die Aggressoren arabische Staaten. Die diesen Krieg aber verloren haben. Das Klagen, das ja auch die AfD täglich formuliert, man dürfe gar nichts mehr sagen in diesem Land, ist ein Vorwand, um sich dem Widerspruch des Gesagten zu entziehen. Ich halte dem entgegen: Man darf alles sagen, muss nur mit Kritik rechnen, wenn das, was man sagt, falsch ist. Kritik und Widerspruch sind der Sauerstoff des Denkens.

Wobei Sie als Nachkomme sogenannter Schindler-Juden auch über jeden Verdacht erhaben sind, antisemitisch zu sein.

Ihre These ist interessant, aber nichtsdestotrotz falsch. Es soll sogar jüdische Antisemiten geben. Selbsthass gibt es auch unter Juden. Ein weiterer Beweis, dass wir so normal sind wie alle anderen auch. Niemand verbindet Kritik an Nordkorea oder Ungarn mit der Forderung, beide Länder von der Weltkarte zu löschen, sondern nur, die Regierenden von ihrer Macht zu entfernen. Das von Israel zu fordern, ist verdachtslos. Die Zerstörung des Staates zu fordern, ist der antisemitische Moment. Übrigens: Journalismus in Israel ist knallhart.

Warum?

Israelis streiten seit ihrer Staatsgründung unablässig über existenzielle Fragen. Während unsere Wohlstandsgesellschaft übers Leben diskutiert, handelt ihr Diskurs andauernd vom Überleben. Das verleiht Streitgesprächen eine andere Tonalität und verlangt vom Journalismus die große Bereitschaft, Konflikte auszugraben und in ihrer Vielfalt zu reflektieren.

Da wären wir wieder beim Respekt.

Genau. Die Kunst jeder Streitkultur besteht schließlich darin, sich hart, fair, argumentativ, aber auch emotional auseinanderzusetzen und anschließend die Hände zu geben. Ich war schon als Zehnjähriger eine Zumutung für meinen Vater, habe leidenschaftlich mit ihm gestritten und wusste natürlich alles besser. Aber wenn er mich abends zu Bett brachte, gab er mir immer einen versöhnlichen Gutenachtkuss. Dadurch, für andere Meinungen nicht emotional bestraft zu werden, habe ich die Trennung zwischen Debatte und Person gelernt.

Und haben in Ihrer lebenslangen Streitgeschichte jedem hinterher die Hand gegeben?

Nicht unbedingt physisch. Aber ich habe stets versucht, irgendeine Art von Respekt zu zollen. Falls mir das misslungen ist, war es mein Fehler. Wenn jemand sagt, ich rede Unsinn, hat das zwei mögliche Ursachen: Die Person hat keine Argumente oder keine Streitkultur; das möchte ich überwinden, um die Bedeutung des Debattierens für die Demokratie zu fördern. Ich muss nicht gemocht werden; das wäre Opportunismus. Ich will glaubwürdig sein; das ist Authentizität und nur erreichbar, falls man sich lebenslang verändert. Wenn Sie sagen, ich sei derselbe wie vor 20 Jahren, gäbe ich mir die Kugel. Ich lege als Mensch Wert darauf, mit meinen eigenen Fehlern offen und ehrlich umzugehen. Nur so ist Veränderung möglich.

Also auch, als Sie im Zusammenhang mit Koks und Prostituierten in den Schlagzeilen waren?

Ja. Es war falsch, was ich damals getan habe. Aber nur, weil ich das auch öffentlich formuliert habe und es mir bewusst geworden ist, kann ich ohne Angst davor, dass Sie mir unvermittelt Fragen dazu stellen, mit Ihnen hier sitzen und Rede und Antwort stehen.

Die Veränderung ist also der größte Motor Ihrer Wissbegier?

Ja. Veränderung entsteht aus unterschiedlichen Impulsen: Zuhören, Lesen, Nachdenken, Erfahrungen sammeln. Ich muss mir den Respekt, dass Menschen mir zuhören, immer wieder erschuften, denn die meisten haben ein Sensorium für Geschwätz oder Substanz. Das gilt für solche wie mich erst recht und macht nicht alles, was ich vor 30 Jahren dachte, falsch. Aber richtig bleibt es nur, wenn ich es aus den Perspektiven von heute zurückreflektiere. Oft genug muss man selbst kluge alte Gedanken neu denken.

„Ich habe die Generation derer, die ihre Tapeten immer wieder weiß übermalt haben und dennoch das Braun darunter nicht verdecken konnten, noch leibhaftig erlebt.“

Wobei sich selbst kluge Gedanken heute im Kreuzfeuer von Fake News und False Balance befinden.

Das ist in der Tat eine Herausforderung, vor der auch wir im Journalismus so noch nie standen. Aber da liegt es an mir, das zu demaskieren. Wir müssen Methoden entwickeln, ihrer Falle nie sprachlos gegenüberzustehen. Das ist ein Prozess, in dem auch ich mich gerade befinde. Was bleibt: eine Lüge bleibt eine Lüge – auch wenn sie wie eine Tatsache verkauft wird. Das hat uns die Aufklärung geschenkt. Wir fragen nach dem Beweis, wir zweifeln, wir suchen nach Begründungen. Mit den Worten „warum“ und „weil“ emanzipiert sich der Mensch von Lügen, Mysterien und Glaubenssätzen. Diese Emanzipation wird nie mehr rückgängig gemacht werden können.

Würden Sie in eine Debatte einsteigen, wo Ihnen zwar das „Warum“, aber nicht das „Weil“ bewusst ist, oder darf sich letzteres auch mal erst in der Debatte ergeben?

Unbedingt. Auch als Hochschulprofessor, dem man ja einiges an Erkenntnis zubilligt, bestand mein Selbstverständnis immer darin, den Zweifel meiner Studierenden zu säen, zu pflegen, zu fördern und ihnen beizubringen, mich anzuzweifeln. Leider lässt unser Bildungssystem dafür sowohl an Schulen als auch Universitäten kaum noch Zeit. Dafür werden wir eines Tages einen hohen Preis bezahlen! Unabhängig davon gehe ich als Mensch Michel ohne vorgefertigte Meinung in die meisten meiner Gespräche und Debatten.

Bei welcher Art Gegenüber sind Sie am besten oder schlechtesten?

In der Frage steckt eine sehr große Gefahr. Wir alle, insbesondere all jene, die wie ich auf der Bühne stehen, sind doch Narzissten. Aber wenn Ihr Ego zu klein ist, verlieren Sie die Öffentlichkeit. Wenn es zu groß wird, zerstören Sie Ihre Glaubwürdigkeit. Da meine Gespräche im Berliner Ensemble nicht nur 90 Minuten dauern, sondern meistens ausverkauft sind, scheint es also die richtige Größe zu haben. Aber auch, wenn das Publikum applaudiert, sage ich mir immer, du hättest besser sein können.

Das klingt alles überraschend selbstkritisch für jemanden, dessen öffentliches Auftreten so überwältigendes Selbstbewusstsein ausstrahlt.

Ach, wissen Sie, ich bin ein trauriger, einsamer Mensch. Das Fundament meines Lebens bildet der Friedhof, auf dem meine Eltern als Verwalter gearbeitet haben, mit mir als jüngstem Lehrling. Meine Kindheit war von Angst vor der Macht geprägt. Sie fand aber auch in einer Zeit revolutionärer Schritte statt – für Menschenrechte, für Humanismus und Aufklärung. Das von Hannah Arendt formulierte Recht, Rechte zu haben, ist zivilisationshistorisch also kaum eine Mikrosekunde alt und noch nicht mal in aller Welt verbreitet – am wenigsten da, wo Autokratien das Prinzip der Ausgrenzung pflegen. Man sollte sich als Einzelner nicht zu wichtig nehmen.

Dummerweise sind Autokratien damit so erfolgreich, dass sich ihre Zahl massiv erhöht.

China zum Beispiel hat den Menschen als erster sozialistischer Staat Prosperität gebracht und dafür auch hierzulande Bewunderung geerntet, einer halben Milliarde Menschen ein bürgerliches Auskommen ermöglicht zu haben – allerdings um den Preis politischer, kultureller, medialer, gar sprachlicher Unfreiheit. Nachdem wir Deutschen zwei, drei Generationen materiell und demokratisch im Schlaraffenland gelebt haben, sind wir müde, gemütlich, träge geworden. Erinnern wir uns: Putin und Xi Jinping haben gedroht, das 21. ist das Jahrhundert der Auseinandersetzung zwischen Autokratie und Demokratie.

Worauf wollen Sie hinaus?

Dass viele schlichtweg verlernt haben, leidenschaftlich für Demokratie zu kämpfen. Deshalb bin ich im hohen Alter motivierter denn je, diese Auseinandersetzung der Mehrheit zu gewinnen. Denn dabei geht es nicht um Flüchtlingsfragen, es geht um alles – um die Demokratie! Und die betrifft auch die Pressefreiheit, die unter anderem die AfD zerstören will.

"Ach, wissen Sie, ich bin ein trauriger, einsamer Mensch. Das Fundament meines Lebens bildet der Friedhof."

Können Sie uns mit all Ihrer Debattenfreude da Hoffnung machen, dass die Sachlichkeit der Mehrheit deren Lautstärke des Hasses übertönen kann?

Da ist jede Prognose Geschwätz oder Angeberei. Aber die Tatsache, dass fast 50 Prozent aller unter 15-Jährigen bei TikTok sind, betrachte ich nicht als Problem der sozialen Medien, sondern der Demokratie. Durch persönliche und berufliche Erfahrung werden einige davon später zwar wieder seriöse Leitmedien nutzen. Aber der Rest ist für sachliche Diskurse jenseits von Propaganda und Fake News verloren. Denn mit denen sprechen wir nicht über dieselben Tatsachen. Wenn das die Mehrheit wird, hat die Demokratie verloren.

Puhh.

Nehmen wir doch die Geschichte der Bundesrepublik. Da waren die Väter, Mütter, Großeltern mindestens Mitläufer oder Profiteure. Niemand musste an der Rampe von Auschwitz stehen, um Verantwortung zu tragen. Einer meiner Lehrer, aber auch Richter und Staatsanwälte während meines Jura-Studiums waren Nazis. Ich habe die Generation derer, die ihre Tapeten immer wieder weiß übermalt haben und dennoch das Braun darunter nicht verdecken konnten, noch leibhaftig erlebt.

Und heute?

Ist die Gefahr mit Blick auf Deutschland immer noch groß, obwohl die meisten Menschen in Freiheit, Demokratie und Respekt leben wollen. Ich habe als Jugendlicher vor der Entscheidung gestanden: Willst du ein Zyniker sein, der sein Leben lang allem misstraut? Ich habe mich fürs Vertrauen entschieden. Wollen Sie eine Anekdote hören?

Bitte!

Ich wollte einen Mitschüler nicht abschreiben lassen – nicht, weil ich ein Streber war, sondern weil ich ihn nicht mochte. Als er meinte, so seien sie, die Juden, war ich derart wütend, dass meine Mutter meinte, Michel, denk dran: der Hassende muss 24 Stunden mit seinem Hass leben. Der Gehasste nur, wenn er mit ihm zu tun hat. Da habe ich mich entschieden, den Menschen zu vertrauen. Denn trotz aller Revisionisten und all dem Judenhass haben wir eine Gesellschaft errichtet, deren rechtsstaatliche Gewaltenteilung mit all ihren Schwächen funktioniert. Deswegen ist mir die schlechteste Demokratie immer noch lieber als die beste Diktatur.

Wo rangiert unsere Demokratie in Deutschland?

Strukturell bei einer 2+. Aber eins ist sicher: Nur, wenn liberale Demokratien leidenschaftlich für die Menschenwürde kämpfen, werden sie fortbestehen.

Haben Sie da manchmal Angst vorm Backlash der aktuellen politischen Entwicklung?

Ja. Aber ich habe sie nicht, weil ich jüdisch bin, sondern weil ich Mensch bin und die Klappe weder halten kann noch will. Wenn jemand findet, dass ich Blödsinn rede? Auch gut! Aber dass ich den Blödsinn reden darf, ist Freiheit. Und ich liebe es, frei zu sein.

Ist es banal, zu fragen, ob Sie Philanthrop sind?

Fragen sind nie banal. Aber Philanthrop klingt mir zu groß. Denn ich bin weitaus schüchterner und bescheidener als viele denken. Ich glaube an den Menschen. Diese Überzeugung werde ich nicht aufgeben. Dann würde ich mich nämlich selbst aufgeben.

Jan Freitag ist freier Journalist in Hamburg. Hannes Jung arbeitet als Fotograf in Berlin.