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"Es braucht eine Umverteilung"

Eva-Maria Lemke (l.) und Olaf Sundermeyer: "Das Problem liegt nicht in den Redaktionen und bei den Reportern." (Foto: Hannes Wiedemann)

Eva-Maria Lemke ist Moderatorin der wichtigsten RBB-Sendung Abendschau, Olaf Sundermeyer arbeitet als Investigativjournalist beim RBB. Im journalist-Doppelinterview kritisieren sie die Senderführung hart und fordern echte Reformen: "Hier im Haus sollten viele Führungspositionen hinterfragt werden." Interview: Jan Freitag.

04.10.2022

Eva-Maria Lemke und Olaf Sundermeyer gehören zu jenen Journalist*innen aus dem RBB, die in ihrer täglichen Arbeit die Wut vieler Menschen über den RBB-Skandal abbekommen. Im journalist-Gespräch sind sie selbstkritisch und kämpferisch. Von der neuen Intendantin Katrin Vernau erwarten sie eine Umverteilung zugunsten des Programms und der Reporter.  

journalist: Frau Lemke, Herr Sundermeyer – wann waren Sie das erste Mal im 13. Stock des RBB, eine Etage tiefer als hier unter der Dachterrasse in Charlottenburg? 

Olaf Sundermeyer: Noch nie. Bis heute nicht. 

Eva-Maria Lemke: Ich war einmal im 13. Stock, da wurde ich zur Vorbesprechung einer großen Sendung dorthin eingeladen. 

Und – überwältigt gewesen vom Pomp der Führungsetage? 

Lemke: Nein, ich hatte es überhaupt nicht als besonders luxuriös, geschweige denn märchenhaft prunkvoll wahrgenommen. Damals war Patricia Schlesinger allerdings auch noch keine ARD-Vorsitzende, die sich selbst bewässernde Wandbegrünung kam erst später, aber den berühmten Holzfußboden und eine maßangefertigte Teeküche gab es bereits. 

Waren Sie, als die teure Neugestaltung publik geworden ist, überrascht davon? 

Lemke: Schon, aber ehrlich gesagt eher von dem Umstand, dass ich und viele meiner Kolleginnen und Kollegen das System dahinter viel zu lange nicht hinterfragt haben. Dass ich mir nie die Frage gestellt habe, ob all diese Umbauarbeiten sein müssen, dass ich täglich an diesem Wagen vorbeigegangen bin, ohne ein zweites Mal darüber nachzudenken. Das empfinde ich mittlerweile auch persönlich als unangenehm.  

Ältere im Haus, schreiben Sie in einem Zeit-Beitrag, Herr Sundermeyer, hätten sich sogar an die DDR-Bonzensiedlung Wandlitz erinnert gefühlt, andere sprachen von Fürstentum, gar Monarchie. Bedarf es so starker Begriffe, um die Auswüchse des Machtmissbrauchs zu verdeutlichen? 

Sundermeyer: Ich finde im Gegenteil, dass sie von der Tatsache ablenken, wie groß das grundsätzliche Hierarchie-Problem beim RBB und in der gesamten ARD ist, weit über die Personalie Schlesinger hinaus. Hier im Haus sollten viele Führungspositionen hinterfragt werden, auch die Aufsichtsgremien, die das in der Vergangenheit offensichtlich versäumt haben. 

Lemke: Da ist Patricia Schlesinger nur der sichtbarste Fall. 

Sundermeyer: Sie ist ja nur Symptom einer strukturellen Krise, mit der wir nun im RBB umgehen. Dabei liegt das Problem weder in den Redaktionen noch bei deren Reportern und den technischen Kollegen. Wir alle arbeiten täglich für das Programm. Die Krise aber steckt in den Hierarchien darüber, bei dem teuren Wasserkopf, der sich verselbstständigt hat. 

Lemke: Wobei man jetzt auch nicht sagen kann, dass Patricia Schlesinger hier nur mit majestätischer Grandezza durch die Flure gelaufen ist. 

Sundermeyer: Fand ich schon. 

Lemke: Echt? Interessant! Ich habe sie vor allem als superverbindlich wahrgenommen und wurde immer, wenn ich ihr im Fahrstuhl begegnet bin, freundlich gegrüßt und nach meinem Befinden befragt. Von den Kolleginnen der Maske wollte sie angeblich immer wissen, wie es denn laufe und ob es Veränderungswünsche gäbe. Nur irgendwann fiel auf: Wenn mal jemand was geäußert hat, hat sich trotzdem nichts geändert. Die Frage danach war ihr wohl wichtiger als die Antwort. 

Sundermeyer: Und das ist ja entscheidend. Ich habe im RBB eine Diskrepanz zwischen plakativem Anspruch und Wirklichkeit erlebt. Unsere Unternehmensleitsätze – Verantwortung im Handeln, Transparenz, flache Hierarchien, all so was – hingen ja sogar auf Plakaten in den Fluren, sind nun aber komischerweise verschwunden. Und eine aktuelle Umfrage der Interessenvertretungen des RBB, an der 923 Kollegen teilgenommen haben, zeichnet ein genau gegensätzliches Bild: Demnach gibt es hier einen Veränderungsbedarf – ich zitiere – nach "flacheren Hierarchien, weniger Führungskräften, mehr Geld für das Programm, mehr Transparenz und einer gerechten Arbeitsteilung".

Dieser Veränderungsbedarf ist also eine System- und keine Mentalitätsfrage einzelner Führungsmitglieder? 

Sundermeyer: In erster Linie ist es die Frage eines Systems, das idealerweise so ausgestaltet sein sollte, dass es all die menschlichen Abgründe ausgleichen kann.  

Lemke: Und die einzelnen Teile konnten ihre menschlichen Abgründe auch deshalb zu lange frei entfalten, weil kritische Nachfragen etwa zur Chefetage im 13. Stock richtiggehend abgebügelt wurden. Unter Kollegen kursiert die Anekdote, dass Schlesinger darauf erwidert haben soll: "Da draußen können Sie Ihre kritischen Fragen stellen!" Drinnen galt das als Nestbeschmutzung. Für Freiberufler bedeutet das auch, dass es schnell existenziell werden kann, wenn sie einer Führung gegenüber forsch werden, die sie handstreichartig entlassen kann.  

Oben Denver-Clan, unten Lindenstraße lautet ein hausinterner Spruch vom Flurfunk. 

Sundermeyer: Den ich sehr repräsentativ finde, und zwar nicht für einzelne Personen, sondern für komplette Ebenen. 

Bräuchten die Obersten demnach ein bisschen mehr Lindenstraße oder alle darunter ein bisschen mehr Denver-Clan, um den RBB im Besonderen und die Öffentlich-Rechtlichen im Allgemeinen aus der Krise zu holen? 

Sundermeyer: Beides, denn derzeit steht die Pyramide bei uns wie bei anderen Anstalten auf dem Kopf statt auf dem Sockel. Was fatal ist für alles, wofür die Leute ihre Rundfunkbeiträge zahlen: ein gehaltvolles Programm, das wir alle hier unten Tag für Tag erstellen. Während unsere Aufgaben klar definiert und ausgeführt werden, weiß man das auf den Leitungsebenen nicht immer so genau. Ich wurde in den vergangenen Wochen häufiger gefragt, was eine Intendantin eigentlich genau macht. 

"Unter Kollegen kursiert die Anekdote, dass Schlesinger auf Kritik erwidert haben soll: ´‚Da draußen können Sie Ihre kritischen Fragen stellen!‘ Drinnen galt das als Nestbeschmutzung." Eva-Maria Lemke 

Und? 

Sundermeyer: Das kann ich bis heute nicht konkret beantworten. Wir haben hier Direktoren verschiedener Gewerke, die für ihre Teilbereiche Verantwortung tragen, für das Programm, die Verwaltung, den technischen Betrieb, die Rechtsabteilung. Warum wechseln die sich nicht als Intendanten in einem alternierenden System ab, anstatt mit Katrin Vernau eine Verwaltungsdirektorin des WDR zur Intendantin zu machen, die auch wieder 100.000 Euro mehr als der Brandenburger Ministerpräsident verdient. Warum? 

Lemke: Das wüsste ich auch gern, erlebe aber, wie ausweichend es jene beantworten, die darüber entscheiden. So sei das halt festgeschrieben, heißt es. Genau diese Argumentation sorgt für Ratlosigkeit und Enttäuschung auf den Fluren eines Senders, dessen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit wenig Geld viel auf die Beine stellen. Wir haben zum Beispiel 14 Regionalkorrespondenten, die oft Gesichter der lokalen Expertise genannt werden. Aber nur die Hälfte dieser Stellen wird auch voll finanziert. Heißt: halbe Stellen. Oft wird die Büroarbeit im Auto erledigt. Im Licht dieser Sparflammen ist schlicht nicht vermittelbar, dass eine Person so viel Geld kriegt – für was auch immer.

Sundermeyer: Es braucht eine Umverteilung zugunsten derer, die das Programm gestalten. Und damit sind vor allem all jene hinter den Geschichten gemeint, die als freie Mitarbeiter teils jahrzehntelang den Staatsauftrag fürs Publikum erfüllen und dennoch oft keinen Bestandsschutz genießen, während die Liste der außertariflich Beschäftigten lang ist. 

Außertariflich beschäftigt heißt? 

Sundermeyer: Menschen, die – aus mir unverständlichen Gründen – außerhalb der RBB-Gehaltstabelle hoch bezahlt werden. Und das für Positionen, von denen ich mich in vielen Fällen frage, ob es die überhaupt braucht. Bei einigen davon lautet meine Antwort nein. Noch dazu bekommen diese Leute beim RBB fünfstellige Boni, die bislang geheim gehalten wurden.  

Lemke: Oder hast du mal versucht, für eine Gesprächsrunde belegte Brötchen auf RBB-Kosten zu organisieren? 

Sundermeyer: Horror. 

Lemke: Der bürokratische Aufwand für die spätere Abrechnung steht in fast schon absurdem Missverhältnis zur Selbstbedienungsmentalität, die im Fall Schlesinger zutage getreten ist. 

Sundermeyer: Und dann sehe ich eben Leute wie jene, von denen Eva gesprochen hatte. Reporter, die bei Wind und Wetter durch die Uckermark fahren, die Prignitz oder das Havelland, wo es aus Kostengründen nicht mal ein Landesstudio gibt. Das hat zur Folge, dass erhebliche Teile Brandenburgs inhaltlich unterrepräsentiert bleiben. 

Oder durch noch schlechter bezahlte Freelancer abgedeckt werden? 

Sundermeyer: Die aber erst mal dorthin kommen und dann, wie wir alle, auch noch multimedial berichten müssen. Selbst Berlin wird vor allem in den Innenstadtbezirken lückenlos abgebildet, während die Ränder ausgedünnt sind. In Spandau, das ungefähr so viele Einwohner wie Braunschweig hat, gibt es keinen Reporter, der regelmäßig Bezirksverordnetenversammlungen besucht. Von der neuen Intendantin erwarte ich, dass sie jeden Führungsposten mit den Bedürfnissen dort abgleicht, wo unser Programm unmittelbare Folgen hat: im Regionalen. 

Lemke: Auch, um dort alle Zielgruppen zu erreichen, also nicht nur die Älteren. Deshalb hat der Tagesspiegel allein drei Berlin-Podcasts, während wir mit Verweis auf die Kosten-Nutzen-Rechnung keinen einzigen haben. Als Rundfunkanstalt! Das ist einfach nicht mehr hinzunehmen. 

Treten Sie, also die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, durch die Skandale jetzt selbstbewusster, forscher gegenüber der Führungsspitze auf? 

Sundermeyer: Dafür ist der Abstand zwischen Maschinenraum und Kommandobrücke allein schon räumlich vielfach zu groß. Die meisten der Führungskräfte sind in der Krise abgetaucht, melden sich weder in den zahlreichen Betriebsversammlungen zu Wort noch öffentlich. Führung nehme ich nicht wahr. Dagegen bringen sich Personalrat, Freienvertretung und der Redaktionsausschuss wahrnehmbar ein. Das Momentum des Wandels von unten wurde aber durch den raschen Wechsel ganz oben in der Intendanz schon wieder eingefroren. 

Lemke: Hierarchen wie Jan Schulte-Kellinghaus lassen sich allerdings durchaus mal unten blicken und sind dabei durchaus selbstkritisch. 

Sundermeyer: Aber im mittleren Management? Fehlanzeige!  

Lemke: Wobei die Wut auf jene, die sich – ohne Namen zu nennen – mal blicken ließen oder auch nicht, schon manchmal sehr pauschal und heftig ist. Die müssen der Pandemie fast dankbar sein, dass solche Versammlungen heute vor allem digital stattfinden, sonst würden sie sich ganzen Stadthallen voll aufgebrachter Kollegen gegenübersehen. Wenngleich oft völlig zu Recht. Denn besonders die alte Garde hängt teilweise an Formulierungen, die einfach nicht vermittelbar sind. 

"Hier im Haus sollten viele Führungspositionen hinterfragt werden, auch die Aufsichtsgremien, die das in der Vergangenheit offensichtlich versäumt haben." Olaf Sundermeyer 

Meinen Sie das zeitweilige Beharren von Patricia Schlesinger, es handele sich um Rufmord, schlimmer noch: Verschwörungen? 

Lemke: Genau. Da wurden handfeste Drohungen der Führungsspitze in Richtung angeblicher Maulwürfe ausgesprochen. Allein das Wort – das klingt ja nach feindlichen Agenten. Und diesen Geist lese ich auch aus Schlesingers Zeit-Interview raus. Dabei können wir alle im Haus jedem Whistleblower dankbar sein. 

Sundermeyer: Auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: die Personalie Schlesinger zeigt nur ein Symptom, mit ihr beschäftigt sich jetzt die Justiz. 

Lemke: Und allenfalls noch die RBB-Compliance oder die mit der Prüfung der Vorwürfe beauftragte Kanzlei. 

Sundermeyer: Wir dagegen machen weiter unsere Arbeit und stecken dabei am Anfang eines unvermeidbaren Reformprozesses beim RBB wie hoffentlich in allen Funkhäusern. Angefangen mit deren Großstadtfixierung, die nicht nur, aber besonders den RBB betrifft, der sich unter Schlesingers Führung massiv auf Berlin konzentrierte. 

Lemke: Dabei leben zwei Drittel der Berliner Bevölkerung außerhalb des S-Bahn-Rings. 

Sundermeyer: So geht viel Verständnis für die Menschen in Brandenburg verloren – und das in einem Bundesland, wo die Demokratie seit Jahren massiv unter Druck ist, was Schlesinger allein schon durch ihr brüskierendes Nichterscheinen vorm Landtag befeuert hat. Die Wut auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist dadurch gewiss nicht kleiner geworden. 

Spüren Sie diese Wut auch im eigenen Arbeitsalltag, werden also in Kollektivhaftung genommen? 

Lemke: Ich persönlich nicht, bin als Abendschau-Moderatorin aber auch der nette Besuch zum Abendbrot und erlebe daher vor allem freundliche Gesichter. 

Sundermeyer: Die Wut all derer, von denen sie ohnehin schon seit Jahren auf uns einprasselt, ist dagegen noch stärker geworden, seit deren These einer unzulässigen Verquickung von System, Hierarchie, Programm und Finanzen durch Patricia Schlesingers Gebaren neue Nahrung erhalten hat. Diese Verantwortung trägt sie ganz persönlich.  

Lemke: Umso irritierender war, dass Jörg Wagner vom Medienmagazin zwar von Anbeginn der Skandale ab Ende Juni übers eigene Haus berichtet hat, andere Sendungen aber sehr spät eingestiegen sind. Viele Versuche, es publik zu machen, wurden mit dem Hinweis abgebügelt, es gäbe ja nun Compliance-Untersuchungen, keine Sorge. 

Sundermeyer: Warten wir die doch mal in aller Ruhe ab, hieß es. 

Lemke: Dass wir zu dem Zeitpunkt nicht hartnäckiger waren, müssen wir uns zum Vorwurf machen. Schlesingers Niederlegung des ARD-Vorsitzes hat zwar vieles geändert, allerdings wurde da auch deutlich, dass es keine Verteidigungslinie gab. Nicht eine der angedrohten Gegendarstellungen ist jemals rausgegangen. Wir hatten der Kritik nichts entgegenzusetzen. Als wir dann aber angefangen haben, Verwaltungsrat, Chefredakteur, Programmdirektor teils sogar richtig hart zu interviewen, gab es eher positives Feedback – auch wenn ich es oft als vergiftetes Lob wahrgenommen habe. Dass niemand von uns erwartet hatte, hart in der Sache zu sein, auch gegen uns selbst, war fast alarmierender als der Skandal selbst. 

Wollten Sie die Situation durch Ihren Vergleich der hauseigenen Informationspolitik mit Nordkorea im Interview bei Tilo Jung da bewusst übersteigern? 

Lemke: Vielleicht. Unsere Statements waren oft so schmal, dass es Züge wie "Die Intendantin dementiert die Vorwürfe" trug. Das war‘s. Wir alle brauchen unbedingt mehr Demut vor der Institution, in der und für die wir arbeiten. Jene, die unsere Abschaffung am lautesten fordern, sind ja genau die, die uns so unverzichtbar machen als demokratische Daseinsvorsorge. 

Sundermeyer: Dafür, dass die Leute unsere Bereitschaft zur Selbstreinigung sogar am Bildschirm verfolgen können, gibt es vielfach Zuspruch. Dennoch ist auch die Kritik der Wohlmeinenden am öffentlich-rechtlichen Rundfunk für mich spürbar größer geworden: Vor allem über die unvermittelbaren Wahnsinnsgehälter und Kosten, die neben dem Programm entstehen, für das die Menschen ihre Beiträge bezahlen. Die Diskussion über unsere Daseinsberechtigung dürfte auf lange Sicht auch außerhalb des wutbürgerlichen AfD-Milieus die Debatte weit in die gesellschaftliche Mitte hinein bestimmen. 

Lemke: Vielleicht war die Wut im Haus da ganz hilfreich, dass wir so porös und emotional waren, weil wir viele Details dieser Skandale selbst erst aus der Zeitung erfahren haben. Nach Bild-Titeln über Luxus und Gier kannst du dich abends nicht vor die Kamera stellen, als wäre nichts gewesen. Die Größenordnung hat viele aufrichtig überrascht. 

Sundermeyer: Aber auch Bremsen gelöst. Am Montag, nachdem Frau Schlesinger den Rücktritt vom ARD-Vorsitz bekannt gegeben hat, war die Entscheidung gefallen, keine Maulwürfe oder Springer-Kampagnen mehr zu suchen, sondern dem Fall journalistisch zu begegnen. Schon deshalb bin ich Kollegen im Haus, die sich damit zuvor bereits befasst hatten, allen voran Jörg Wagner, bis heute dankbar für ihren Einsatz.  

"Das Problem liegt nicht in den Redaktionen oder bei den Reportern. Die Krise steckt in den Hierarchien darüber." Olaf Sundermeyer

Kennen Sie die Mitglieder der einzelnen Aufsichtsräte eigentlich persönlich? 

Lemke: Einige, nicht alle. 

Sundermeyer: Wenn Sie politische Berichterstattung machen, kennen Sie zumindest einige der Parteifunktionäre aus Berlin oder Brandenburg. Aber die Kritik derer, die den RBB tatsächlich schon länger angemessen kritisch begleiten, findet man leider häufiger in der Bild-Zeitung wieder als in den eigenen Pressemitteilungen. Auch das gehört zur Demokratie, ändert aber nichts daran, dass viele Aufsichtsräte ihre Qualitätskontrolle schlicht nicht erfüllt haben. 

Lemke: Diesen Vorwurf höre ich tatsächlich am häufigsten. Der RBB ist in vielerlei Hinsicht das Schlusslicht der ARD. Wie kann es etwa sein, dass jemand leistungsbezogene Boni oder Gehaltsanpassungen erhält, wenn unsere Quoten besonders am Vorabend und um 20.15 Uhr oft miserabel sind. 

Wobei man mit Analogien zwischen Erfolg und Quote angesichts dessen, mit wie geringer Qualität man beides hierzulande erzielt, schon vorsichtig sein sollte. 

Lemke: Das stimmt. Aber man hört selbst von denen, die sich mit Quoten gar nicht beschäftigen, wenn die sowieso so niedrig seien, könnten wir doch auch mehr Wagnisse eingehen. 

Sundermeyer: Darüber hinaus ist die Quote aber einer der wenigen wirklich messbaren Parameter für Relevanz, die leistungsbezogene Vergütungen rechtfertigen könnten. Etwas anderes wären Film- oder Fernsehpreise, die allerdings auf der persönlichen Leistung einzelner beruhen und oftmals extern, also nur unterm Label von RBB, produziert werden. 

Haben Sie ein Beispiel? 

Sundermeyer: Cui Bono etwa, der großartige Podcast über Ken Jebsen. Käme so etwas aus dem eigenen Haus, dürften dafür gerne Boni gezahlt werden. 

Sie selbst sprachen kürzlich von einem Essensgutschein über 100 Euro, der Ihnen für eine gelungene ARD-Dokumentation verliehen wurde. 

Sundermeyer: Mein einziger Bonus. Für sechs Wochen Recherche mit zwei Kollegen unter der Grasnarbe in einem nicht ungefährlichen Kontext, damals noch freiberuflich. So eine Gratifikation nimmt man zur Kenntnis, ärgert sich kurz und arbeitet weiter. Wenn sich parallel dazu aber jene, die uns viel zu wenig Geld für viel zu wenige Drehtage zubilligen, selber riesige Boni gewähren, sorgt das für Unfrieden im Haus. Und den sehe ich überhaupt nicht überwunden. 

Lemke: Zumal die Scham unter all den Außertariflichen gerade zu groß ist, um sich darüber öffentlich zu äußern. Kein Wunder: Die bekamen ihre Zusatzvergütungen oftmals dafür, ganz normal ihre Aufgaben zu erledigen. 

Solange sie nicht für Entlassungen gezahlt wurden … 

Lemke: Aber das geschah auch. Einer hat mal öffentlich gemacht, einen Bonus dafür gekriegt zu haben, dass er eine Sendung wie geplant absetzt. 70 Leute konnten danach nicht mehr so arbeiten wie zuvor und haben deutlich, deutlich weniger verdient. Für ihn gab es dafür einen fünfstelligen Betrag. 

Sundermeyer: Und all diese Menschen sind sich dessen bewusst, machen trotzdem weiter ihre Arbeit und haben dabei keine Möglichkeit, dieses Ungleichgewicht zu überwinden. 

Lemke: Im Gegenteil, diese Operation am offenen Herzen im Zuge der Sparmaßnahmen sorgt überall für Unruhe. Wir haben zum Beispiel keinen Aufnahmeleiter mehr, der unter anderem dafür sorgt, dass alle ihre Aufgaben und die Sendeabläufe kennen und meine Studiogäste zur richtigen Zeit am richtigen Platz sind. So was kann man durchaus als Sendeteam organisieren; wir wissen ja, dass das Geld knapp ist. Aber es bleibt ein schales Gefühl, wenn sich diejenigen, die dir grad das Team verkleinert haben, parallel dazu gegenseitig Summen zuschanzen die viele als obszön empfinden. Das macht mich fassungslos. 

Hat sich da schon was getan seit dem Führungswechsel? 

Sundermeyer: Bislang nicht, nein. Obwohl Katrin Vernau die Überwindung der Entkopplung zwischen den unterschiedlichen Ebenen gleich nach Amtsantritt zu ihrer dringlichsten Aufgabe erklärt hat. Da bin ich mal gespannt auf künftige Umverteilungen. Dass ihr Arbeitsvertrag nur unwesentlich geringer dotiert wurde als der von Patricia Schlesinger, ist da kein allzu glaubhafter Start. 

Lemke: Ein wenig müssen wir aber auch abwarten, was geschieht; das ist ja alles noch frisch. Aber viel Zeit zum Brüten hat Frau Vernau nicht, und einige von denen, die ein paar Gehaltsstufen tiefer vom System profitiert haben, sind ja noch da. 

Der Business Insider spricht in dieser journalist-Ausgabe vom Kampf der ARD-Systeme: Besitzstandswahrer gegen Bilderstürmer, Status quo gegen Veränderungswillen, alt gegen jung. Gibt es den hier? 

Lemke: Nein, denn der Kampf spielt sich nicht auf der Alters-, sondern der Hierarchie-Ebene ab. Und auch da müssen wir ans System, nicht die Einzelfälle. Wenn dir jemand 40.000 Euro mögliche Gratifikationen in den Arbeitsvertrag schreibt – wer nimmt die nicht? Ich würde sie vermutlich auch nehmen und dann bestimmt nicht so wahnsinnig gerne darüber reden! Das ist rechtlich einwandfrei – aber anständig ist es nicht.  

Sundermeyer: Dass sich diese Führungskräfte, von denen die wenigsten selbst Sendeminuten produzieren oder nur einen Kommentar für das Onlineangebot verfassen, offenbar nicht selbst infrage stellen, führt zu einem Autoritätsproblem gegenüber Leuten in der Produktion, denen ihrerseits die Mittel für ihre journalistische Arbeit gekürzt werden. Aber selbst durch den Austausch einzelner Personen an der Spitze würde sich am System dahinter wenig ändern. 

Lemke: Und das wird es auch nicht, wenn man sich einige Stimmen in unseren Versammlungen oder Chatverläufen anhört, die fordern, mittlere Führungsebenen doch erst mal in Ruhe zu lassen, damit nicht das ganze Haus einstürzt. Die Reformbereitschaft ist da offenbar endlich. 

"Dass niemand von uns erwartet hatte, hart in der Sache zu sein – auch gegen uns selbst, war fast alarmierender als der Skandal selbst." Eva-Maria Lemke  

Gab es dieses Funktionsversagen eigentlich auch beim ZDF, von dem Sie 2018 zum RBB gekommen sind, Frau Lemke? 

Lemke: Ich sag’s mal so: Diese Entkopplung zwischen Kommandobrücke und Maschinenraum von der Olaf sprach, geschieht zwangsläufig immer dann, wenn oben zu viele stehen, die sich gegenseitig ihre Bedeutung zusichern.  

Sie, Herr Sundermeyer, haben seit 2004 zunächst als Freelancer, dann als Redakteur für den RBB gearbeitet. Ziehen die 2.000 Festangestellten und 1.500 Freiberuflichen des RBB im Kampf gegen dieses Funktionsversagen immer an einem Strang? 

Sundermeyer: Leider nein, es ist schon eher ein Gegen- als ein Miteinander. Aber Freiberufler werden in nahezu jeder Branche schlechter behandelt als Festangestellte, das ist also auch RBB-immanent und findet entsprechend bei allen öffentlich-rechtlichen Sendern statt, für die ich bislang schon gearbeitet habe. 

Lemke: Hinzu kommt, dass wir viele der Freien mit großem Aufwand ausbilden, um sie dann in prekäre Verhältnisse zu entlassen. Wer beim NDR, wo ich angefangen habe, 15 Jahre frei tätig war, musste – um keine einklagbaren Beschäftigungsverhältnisse zu erzeugen – danach zwei Jahre weg und durfte nicht mal für externe Produktionsfirmen Beiträge zuliefern. Ausgerechnet dann also, wenn viele längst eine Familie gegründet hatten, kam es zum Bruch. Bis heute kommt es nach genau dieser Zeitspanne zu Einschränkungen bei vielen Freien. 

Welcher Art? 

Lemke: Beispielsweise nur noch für Langformate tätig zu sein oder nicht mehr oberhalb einer sehr niedrigen Gehaltsgrenze zu verdienen. Das wird mittlerweile mit "programmlicher Abwechslung" begründet. Dabei ist es irrsinnig, die erfahrensten gehen zu lassen, wenn man sie noch dazu teuer ausgebildet hat. Noch wütender macht mich aber, dass Freie schlechter verdienen als Feste.  

Sundermeyer: Das sorgt für ein ständiges Wettrennen, die Hürde von der Freiberuflichkeit in die Festanstellung, also von der Selbstausbeutung in die Vollversorgung zu überspringen. 

Lemke: Und wer diese Hürde nimmt, ist erst mal froh, im Trockenen zu sitzen. 

Klingt nicht sonderlich solidarisch. 

Sundermeyer: Im Gegenteil, es erinnert an ein Kastensystem, aus dem es oftmals kaum ein Entrinnen gibt, so sehr die Menschen darin auch strampeln und schuften. 

Lemke: Und wer doch aufsteigt, wird so in die herrschenden Strukturen eingebunden, dass er oder sie selbst weisungsgebend wird und damit das System stützt. Aus Reportern werden beispielsweise Redakteure, also quasi als Belohnung für gute Arbeit draußen in den Innendienst versetzt und verlieren dadurch im schlimmsten Fall auch das Verständnis für die, die sich weiter von Auftrag zu Auftrag hangeln. 

Sundermeyer: Systeme prägen eben Leute, nicht umgekehrt. Und der RBB ist eine Behörde, deren Logik sich nach innen richtet, auf die Vorgesetzten und die Verwaltungsebenen. Private Medien sind dagegen nutzerorientiert, sie richten sich mehr an ihren Lesern, Zuschauern und Zuhörern aus. 

Bei all den Baustellen, die Sie auflisten, klingt abgesehen vom konstruktiven Verhalten der Belegschaft und ein wenig Vorvertrauen für die neue Intendantin kaum Zuversicht. 

Lemke: Naja, wir erwarten, dass Katrin Vernau etwas ändert. Ob das auch gelingt, lässt sich nach drei Tagen im Amt noch nicht vorhersagen. Aber immerhin hat sie die 13. Etage  … 

Abreißen lassen? 

Lemke: Nicht ganz. (lacht) Geöffnet! Man mag das als Symbolpolitik sehen, aber sie nutzt das Intendantinnenbüro jetzt für Besprechungen und zieht selbst in einen viel kleineren Raum. 

Sundermeyer: Den Dienstwagen hat sie auch abgegeben. 

Macht Ihnen das Hoffnung, RBB und ARD so reformieren zu können, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk womöglich sogar gestärkt aus dieser Krise hervorgeht? 

Lemke: Ich bin jedenfalls froh, dass genug zutage getreten ist, um mittlerweile offen und ehrlicher miteinander umzugehen. Aber zugleich fühlt es sich auch an wie Trauerarbeit im laufenden Betrieb. Ich bin da vorsichtig mit Prognosen. 

Sundermeyer: Sie glauben gar nicht, wie viele Informationen mich auch aus anderen ARD-Anstalten über dortige Gepflogenheiten und Vorgänge erreichen. Von daher glaube ich, dass Redaktionen wie Business Insider oder Welt noch weitere Recherchen über den ÖRR veröffentlichen. Wenn sich die Verantwortlichen da nicht reformwillig zeigen, wird es schwierig.  

Lemke: Für den Anfang wäre es wichtig, nicht mehr von einer Schlesinger-Affäre zu sprechen. Das ist sie schon längst nicht mehr, war es aber auch nie. 

Jan Freitag ist freier Journalist in Hamburg. Hannes Wiedemann arbeitet als Fotograf in Berlin.   

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