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Ein Plädoyer fürs Community-Management
"Eine Community in sozialen Netzwerken ist Segen und Fluch zu gleich", sagt Verena Lammert (Bild: Annika Fußwinkel).
Journalist*innen sehen sich noch zu häufig als reine Sender, sagt Verena Lammert, WDR-Journalistin und Erfinderin des Instagram-Formats @maedelsabende. Dabei ist der Dialog mit User*innen eine Chance, die digitale Gesellschaft mitzuprägen. Diese von Matthias Daniel und Stephan Weichert herausgegebene Reihe "Wie wir den Journalismus widerstandsfähiger machen" ist eine Kooperation von Vocer und dem journalist. Text: Verena Lammert.
31.05.2021
Wer sich mit seinen journalistischen Produkten in sozialen Netzwerken bewegt, wird sich fragen: Wie erreiche ich Menschen mit meinen Inhalten? Und für wen sind diese Inhalte eigentlich bestimmt? Oft haben wir eine grobe Zielgruppe vor Augen, aber sind das auch die Menschen, die mit meinem Content interagieren? Und wie bewege ich sie dazu, auch weiterhin meinem Netz-Auftritt zu folgen?
Dies sind entscheidende Fragen auf dem Weg zur eigenen Community. Ich sage es vorweg: Eine Community in sozialen Netzwerken ist Segen und Fluch zugleich. Der Communityaufbau bedeutet viel Arbeit und den Einsatz von Ressourcen, die wir oft nicht haben, aber er kann auf verschiedenen Ebenen für die Arbeit in der Redaktion extrem wertvoll sein. Feedback, Themensuche, Formatentwicklung: Wer eine Community hat und diese geschickt integriert, kann daraus wertvolle Schlüsse für sein journalistisches Produkt ziehen.
Ressource Community-Management: arbeitsintensiv, aber eine wichtige Investition
Journalist*innen sehen sich noch viel zu häufig als reine Sender von Informationen – auch im Netz. Dabei ist der Dialog mit den User*innen eine gute Chance, die digitale Gesellschaft mitzuprägen. Wer in den aktiven Austausch tritt, gewinnt vor allem Einblicke und Ansichten. Kommentare, Direktnachrichten, Saves und Shares geben wichtige Impulse, aber wer soll das alles durchschauen und auswerten?
Wenn ein schon bestehendes Medienprodukt eine neue Präsenz auf einer weiteren Plattform eröffnet, wird in der Planung häufig die Ressource für das Community-Management schlichtweg vergessen. Und dann nachträglich mit ein paar Studierenden besetzt. Bei neueren Produktentwicklungen beobachte ich, dass dieser wichtige Job zwar mitgedacht wird, aber trotzdem häufig noch zu wenig Ressourcen eingeplant sind.
"Kommentare, Direktnachrichten, Saves und Shares geben wichtige Impulse, aber wer soll das alles durchschaen und auswerten?"
Es mag verschiedene Gründe für dieses Vorgehen in Redaktionen geben, aber ich möchte mit Nachdruck für die Investition in das Community-Management werben.
An dieser Stelle ein Beispiel aus meiner eigenen Arbeit: der Instagram-Kanal @maedelsabende von Funk, der sich mit allen gesellschaftlich relevanten Themen für junge Frauen beschäftigt und sich in Themenwochen gemeinsam mit der Community verschiedenen Aspekten eines Überthemas annähert. Als wir den Kanal 2017 im WDR als jungen Ableger der TV-Sendung Frau TV gegründet haben, waren wir vier Redaktionsmitglieder und unser Credo: „Wir beantworten jede Direktnachricht und jeden Kommentar.“ Innerhalb von ein paar Monaten stieg die Followerzahl des Kanals rasant an, und im Team wurde schnell klar, dass es mit dieser Besatzung schwierig wird, das Versprechen weiter einzuhalten. Stück für Stück haben wir unser Team dann erweitert und gemeinsam mit den neuen Mitarbeitenden Community-Richtlinien erarbeitet.
Wo muss die Redaktion Grenzen setzen?
Für mich als Teamleiterin war immer klar, dass das Community-Management auf mehrere Schultern verteilt werden muss. Einerseits, damit jedes Teammitglied einen Einblick in und Verständnis für die Welt unserer Follower*innen erhält, andererseits aber auch als Schutz bei belastenden Themen und Kommentarfluten und Shitstorms. Die Community-Arbeit ist in der Redaktion @maedelsabende immer als eine wertvolle Teamleistung angesehen worden. Dies wurde von den User*innen belohnt: mit hohen Reichweiten und Interaktionszahlen.
Aber was bedeutet Community-Management überhaupt? Es geht hier nicht nur um das bloße Antworten, sondern auch darum, Rückfragen zu stellen, zuzuhören und in den Dialog zu treten. Dabei taucht aber immer auch die Frage auf: Wo muss die Redaktion Grenzen setzen?
Die Community von @maedelsabende besteht nach drei Jahren redaktioneller Arbeit aus rund 190.000 Followern, die ein großes Interaktionsbedürfnis haben. Die Grenzen haben wir zum Beispiel bei der Beratung bei sehr persönlichen Problemen gezogen, bei denen das Community-Management an sinnvolle Beratungsstellen verweist, oder bei Fällen, in denen unser Team als Suchmaschine für andere Themen genutzt wird. Community-Management heißt eben auch respektvoller Umgang miteinander – für beide Seiten.
Die konkrete Auswertung der eintreffenden Kommentare und Nachrichten ist ein wichtiger Punkt im Community-Management: Welche Kritik gibt es, welche Themenvorschläge, und eignet sich der/die User*in eventuell selbst als Protagonist*in? Wer hier genau hinschaut, kann viel Anregung für die redaktionelle Arbeit mitnehmen. Die Inhalte aus dem Community-Feedback können in vielfältiger Weise eingesetzt werden. Die Community eröffnet andere Perspektiven auf ein Thema und wirft oft Fragen auf, die sich die Redaktion selbst nicht gestellt hätte. Ein wichtiger Beitrag für Diversity in der Themenauswahl und der Protagonist*innen-Besetzung. Die Community-Stimme kann zum Beispiel eine große Bereicherung in der Themenkonferenz sein. Feedback aus der Community kann außerdem als Motivation oder wichtiger Hinweis auch einfach ausgedruckt und in der Redaktion aufgehängt werden.
Die Redaktion sollte dabei nicht vergessen, die Community als Quelle zu benennen. Dies wird als große Wertschätzung empfunden. Ein gutes Beispiel dafür ist unter anderem eine Community-Zitattafel, die einen besonders gelungenen Gedanken aus der Diskussion in den Kommentaren aufgreift und in neuen Content verwandelt. Beim Posting wird der oder die Ideengeber*in mit dem eigenen Account vertagged und als Quelle sichtbar. Das signalisiert der Community, dass Kommentare und Nachrichten nicht in einen leeren Raum gesendet werden, sondern auch in der Redaktion ankommen.
Eine weitere gute Möglichkeit ist es, einen eigenen Community-Namen zu etablieren. Der Instagram-Kanal @maedelsabende hat seine Mädelsbande oder die Snapchat-Serie iam.josephina von Funk (ehemals iam.serafina) die Gurkenbuddys – ein bisschen wie beim Fußball die Fans als zwölfter Mann. So kann jede*r User*in selbst ein Teil des Accounts werden. Nur sehr wenige journalistische Produkte sind diesen Schritt bereits gegangen, da er natürlich einerseits Vertrauen und Bindung hervorbringt, andererseits aber auch Fragen nach Nähe und Distanz zum Publikum aufwirft.
Ein weiterer Gedankenanstoß: Einige der sozialen Netzwerke bieten gute Möglichkeiten an, Userbefragungen mit Frage- und Umfragetools zu starten. Das hilft der Redaktion dabei auszuwerten, wer die tatsächliche Zielgruppe für die eigenen Inhalte ist und wie deren Interessen aussehen.
Mit Gästen ins Gespräch kommen
Eine gute Möglichkeit, um ein besseres Gespür für die eigene Zielgruppe zu entwickeln, sind Community-Events. Den Rezipient*innen des eigenen Produkts außerhalb der digitalen Plattformen zu begegnen, kann ein Eye Opening Moment sein und gibt auch der Community die Chance, ein besseres Verständnis für die Menschen hinter den Accounts und ihre journalistische Arbeit zu entwickeln. Die Redaktion @maedelsabende hat dies 2019 in einer Kölner Bar ausprobiert und rund 80 Follower zu einem Offline-Mädelsabend eingeladen. Die Plätze dazu gab es auf dem Instagram-Account zu gewinnen, und es gab vor Ort verschiedene Möglichkeiten der Interaktion mit den Macher*innen und Moderator*innen: Eine kleine Q&A-Runde, eine Ideenbox und auch eine Photobox, um eine Erinnerung mit nach Hause zu nehmen. Immer mit dem Ziel, mit den Gästen ins Gespräch zu kommen.
"Bei neueren Produktentwicklungen beobachte ich, dass Community-Management zwar mitgedacht wird, aber trotzddem häufig noch zu wenig Ressourcen eingeplant sind."
Weitere Beispiele für Community-Treffen sind die Screenings der Y-Kollektiv-Redaktion (Funk), die Zuschauer*innen einlädt, um über ihre Youtube-Reportagen zu diskutieren oder die Live-Podcast-Aufzeichnungen des Rap-und-Politik-Podcasts Machiavelli (WDR Cosmo), wo es im Anschluss ebenfalls die Möglichkeit zum Austausch gibt. Viele der teilnehmenden Journalist*innen berichten im Nachgang solcher Events, dass sie ihr Bild von ihrer Community noch einmal angeglichen haben – und dass es sehr hilfreich ist, sich später bei der Arbeit an diese Treffen und die realen Menschen zu erinnern, anstatt nur mit ausgedachten Personas und digitalen Profilen zu arbeiten.
Grundstein für den Aufbau der Community
Der Austausch und die intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Zielgruppe haben sich in den vergangenen Jahren in vielen Redaktionen stetig weiterentwickelt – zum einen, weil journalistische Produkte mit vielen anderen Content-Ersteller*innen auf dem Markt konkurrieren, zum anderem aber auch, weil jüngere Zielgruppen unter 35 Jahren immer weniger von den etablierten Medien erreicht werden und die Online-Nutzung kontinuierlich steigt, wie unter anderem die jährlich erscheinende ARD/ZDF-Onlinestudie zeigt. Die Konsumenten können sich ihr Programm selbst zusammenstellen, und dabei wird deutlich: User*innen und Communitys wünschen sich, nicht nur zu konsumieren – sie wollen das Programm mitgestalten. Befördert wird dieser Wunsch auch durch soziale Netzwerke wie Instagram und Tiktok, wo praktisch jede*r zum Creator werden kann. Ein Smartphone reicht in der Regel aus, um den eigenen Content zu erstellen und zu veröffentlichen, die Sendezeit ist unbegrenzt. Warum also diesen Wunsch in Redaktionen nicht aufgreifen und gemeinsam Programm gestalten?
Ein ganzes Stück leichter
Eine mögliche Methode ist die sogenannte Ko-Kreation: Die potenzielle Zielgruppe wird von Anfang an in verschiedenen Feedbackrunden in die Ideenfindung und bei der Formatentwicklung mit eingebunden. Für die Redaktionen hat das den Vorteil, dass die wirklichen Bedürfnisse der angepeilten Zielgruppe deutlich und Fehlannahmen vermieden werden oder zumindest gleich im Gestaltungsprozess auffallen. Für den WDR-Newsroom haben wir diese Methode bei der Entwicklung des Tiktok-Formats nicetoknow getestet, indem wir während des Formatentwicklungsprozesses wöchentliches Feedback von einer Gesamtschulklasse eingeholt haben. Dies hat erheblich zum Verständnis der neuen Plattform, des nötigen Storytellings, der Ansprache und Vermittlung unseres journalistischen Inhalts beigetragen. Diese Form der Formatentwicklung ermöglicht ein direktes, kontinuierliches User-Testing – und der Grundstein für einen Community-Aufbau ist auch gelegt.
Und nun? Lassen wir jetzt unsere Inhalte nur noch von der Community bestimmen? Was ist meine Rolle als Journalist*in? Ist die Community mehr als eine weitere Recherche-Quelle? Ich denke, journalistische Kernaufgaben wie das Überprüfen, Kuratieren, Ergänzen, Einordnen, Fragen beantworten, Lösungen recherchieren werden auch im Zusammenspiel mit der Community wichtig bleiben. Unsortierte und beliebige Inhalte werden sich nicht durchsetzen, besonders wenn man auf die Masse dieser Art von Content in den sozialen Netzwerken blickt – Einordnung und Storytelling sind immer notwendig, um Information verständlich und zielgruppengerecht aufzubereiten.
Geht es überhaupt noch ohne Community? Und ab wann sprechen wir von einer echten Community? Die direkte Kommunikation und Interaktion mit den Produkt-Konsumenten ist hier der Schlüsselfaktor. Der Journalismus muss sich auf andere Wege einlassen und seine Rolle dabei neu definieren. Wir Journalist*innen sollten diese Kommunikationsmöglichkeit als das begreifen, was sie ist: eine Chance, die durch die sozialen Medien ein ganzes Stück greifbarer geworden ist.
Verena Lammert arbeitet seit mehr als zehn Jahren als Redakteurin für den WDR in Köln. Ihre beruflichen Stationen: der Radiosender 1Live, die Lokalzeit Bonn und das gesellschaftspolitische Magazin Frau TV. Dort hat sie von 2012 an die Social-Media-Strategie verantwortet und den Instagram-Auftritt @maedelsabende konzipiert. Aktuell ist sie Redakteurin in der Digitalen Innovation im Newsroom des WDR.
Dieser Beitrag ist in einer Kooperation von Vocer und dem journalist entstanden.Vocer ist eine gemeinnützige Organisation für Medieninnovation und journalistische Bildungsprogramme. Der Beitrag wird in dem Buch "Wie wir den Journalismus widerstandfähiger machen" erscheinen, das im Sommer im Vistas Verlag erscheinen wird. Herausgeber sind Vocer-Mitgründer Stephan Weichert und journalist-Chefredakteur Matthias Daniel.
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