"Die Rechten sehen Medien als Feinde, aber auch als nützliche Deppen"
Annika Brockschmidt schreibt seit Jahren über die Rechte in den USA. Die Radikalisierung hat lange vor Trump begonnen, sagt sie. (Foto: Paula Winkler)
Bei den US-Präsidentschaftswahlen im November könnte Donald Trump die Rückkehr ins Weiße Haus gelingen. Die Historikerin und Journalistin Annika Brockschmidt analysiert, wie sich die Republikanische Partei über Jahrzehnte hinweg radikalisiert hat. Interview: Sonja Peteranderl, Fotos: Paula Winkler
25.07.2024
„Im Umgang mit Rechtsextremismus wiederholen deutsche Medien die Fehler der US-Medien“, sagt Annika Brockschmidt im journalist-Interview. Sie warnt Journalist*innen davor, rechte Narrative zu übernehmen – und glaubt, dass sich Medien und Parteien auf TikTok besser aufstellen müssen.
journalist: Frau Brockschmidt, werden die USA bald aus dem Gefängnis regiert?
Annika Brockschmidt: Trumps Hauptmotivation dürfte eher sein, dem Gefängnis für weitere vier Jahre zu entkommen. Man sollte nicht zu sehr auf Prognosen vertrauen – aber wenn die Wahlen jetzt stattfinden würden, hätte Trump eine gute Chance, zu gewinnen.
Warum könnte ein verurteilter Straftäter Präsident werden, warum schaden ihm all die Prozesse nicht?
Trump macht seine Anhänger*innen glauben, die Demokraten ließen ihn politisch verfolgen, weil sie Angst vor seinem Wahlerfolg hätten. Damit diskreditiert er das Justizsystem. Und er bezieht seine Fans mit ein, er sagt: „Sie sind gar nicht hinter mir her, sondern hinter euch – ich stelle mich ihnen nur in den Weg.“ Gleichzeitig setzt bei all diesen Prozessen ein Gewöhnungseffekt ein.
Was, wenn es zu einer zweiten Amtszeit von Donald Trump kommt?
Es gab mal die Maxime take Trump seriously, not literally, nimm Trump ernst, aber nicht wörtlich. Vieles könnte jetzt aber nicht nur Rhetorik sein. In der letzten Trump-Administration gab es großes Personalchaos, einige seiner Leute haben ihm außenpolitisch widersprochen, wurden dann gefeuert. Diesmal werden die Positionen mit Personen besetzt sein, die ihm gegenüber loyal sind. Und er hat jetzt eine professionelle Infrastruktur von konservativen Aktivist*innen hinter sich.
Was würde das für die USA konkret bedeuten?
Der einflussreiche konservative Think Tank Heritage Foundation hat vor kurzem das Projekt 2025 vorgelegt, ein knapp 1.000-seitiges Dokument, das als Blaupause für die nächste Trump-Administration dient. Unter anderem sieht das die massive Ausweitung der Exekutivmacht vor und das Verbot des am häufigsten für Abtreibungen benutzten Medikaments. Die amerikanische Rechte will Abtreibungen landesweit unmöglich machen, künstliche Befruchtung verbieten und Scheidungen – die sogenannte no-fault divorce – erschweren, sowie die gleichgeschlechtliche Ehe verbieten lassen.
Vor den US-Wahlen 2016 hielten sich Journalist*innen weltweit mit Trumps Frisur auf, statt die strukturellen Gefahren zu beleuchten. Haben sie dazugelernt?
Immerhin überträgt CNN nicht mehr drei Stunden lang unkommentiert Trumps Wahlkampf-Tiraden. Medien veröffentlichen mehr Gastbeiträge von Expert*innen aus Geschichtswissenschaft, Religionswissenschaft oder Politikwissenschaft, die seit Jahrzehnten vor der Radikalisierung warnen. Früher haben sie kaum Platz bekommen. Das reicht aber nicht. In vielen Redaktionen fehlen Reporter*innen, die sich auf die erzkonservative Religiöse Rechte spezialisiert haben. Diese Gruppe ist jetzt im Zentrum der Macht angekommen.
Wie meinen Sie das?
Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Auf Google Streetview war eine Flagge zu sehen, die der rechtsreaktionäre Richter Samuel Alito vom Obersten Gerichtshof 2023 an seinem Strandhaus gehisst hatte. Die Appeal-to-Heaven-Flagge ruft zur christlichen Revolution auf, sie ist ein Symbol für die Errichtung einer Theokratie. Die hat man nicht einfach zu Hause herumliegen, dafür muss man tief im rechtsextremen Rabbithole stecken. Während der Oberste Gerichtshof also gerade die Rolle von Trump beim Sturm auf das Kapitol untersucht, outet sich einer der Richter als Fan des Aufstandes – die Flagge wurde massenhaft bei der Stürmung des Kapitols gehisst.
Sie kritisieren die Berichterstattung dazu. Warum?
Die New York Times schrieb, die Flagge stünde für eine „christlichere Regierung“. Ich weiß nicht, ob es Ahnungslosigkeit ist oder eine bewusste Entscheidung, aber hier wurde Extremismus verharmlost. Vielleicht sollte es nicht so wirken, als stünde die NYT zu sehr auf der Seite der Demokraten. Googlen würde schon helfen, man muss oft nicht mal tief graben.
Welche Rolle spielten oder spielen Medien beim Aufstieg der Rechten in den USA?
Die amerikanische Rechte hat eigene Medienimperien geschaffen, die bei ihrem Aufstieg eine wichtige Rolle spielen. Aber Schuld tragen auch etablierte Medien. Die Aufmerksamkeitsökonomie belohnt Empörung. Leute regen sich gern auf oder jubeln jemandem zu. Medien inszenieren das, sie produzieren steile Schlagzeilen oder laden umstrittene Politiker*innen ein. Das ist nicht nur ein Trump-Phänomen, es gilt auch für rechte Talkshow-Hosts wie Laura Ingraham oder Ann Coulter. Am Anfang ihrer Karrieren waren sie Stammgäste in den Talkshows etablierter Medien – bis sie irgendwann rausflogen, weil sie es zu wild trieben.
Auch in Deutschland sind AfD-Politiker*innen mittlerweile regelmäßig in Talkshows zu Gast.
In Talkshows muss es krachen – und es kracht am besten, wenn solchen Personen eine Bühne geboten wird. Viele Medien rechtfertigen das mit dem Argument, dass sie neutrale Plattformen seien und das politische Meinungsspektrum abbilden müssten. In den USA wie in Deutschland geht die rechte Strategie leider auf, etablierten Medienhäusern „liberal bias“ vorzuwerfen, also eine angebliche Bevorzugung moderater oder linker Stimmen. Medien korrigieren dann präventiv ihren Kurs – und geben rechten Stimmen mehr Raum.
„Wenn es je eine Brandmauer gegeben hat, ist sie sehr durchlässig.“
Lassen sich Rechte entzaubern, wie es immer heißt?
Die Vorstellung, dass Journalist*innen Rechtsextreme in Interviews „stellen“ oder enttarnen können, ist meistens eine Fehlannahme. Und selbst wenn das der Fall sein sollte, bietet man rechtsextremen Positionen trotzdem noch eine Bühne.
Wie nehmen Sie die deutsche Berichterstattung über das Geschehen in den USA wahr?
Von vielen US-Korrespondent*innen wird verlangt, von Special-Interest-Themen bis zur gescheiterten Wahlrechtsreform alles abzudecken. Das ist nicht zu stemmen. Wir müssen weg vom Selbstverständnis, dass einzelne Korrespondent*innen alles leisten müssen. Redaktionen müssen die Zahl ihrer Mitarbeiter*innen aufstocken oder sie besser unterstützen. Sie könnten zum Beispiel Datenbanken mit Expert*innen anlegen, die bei der Einordnung helfen – und verschlagworten, wer zu was forscht.
Viele Journalist*innen – in Deutschland wie in den USA – wirkten bei den Präsidentschaftswahlen 2016 überrascht, dass mit Trump ein pöbelnder, rassistischer und anti-staatlicher Populist so erfolgreich wurde. Wie konnte es soweit kommen?
Auf den ersten Blick schien es 2016 so, als wäre das politische Phänomen Trump vom Himmel gefallen. Tatsächlich wurde die Republikanische Partei aber in den letzten Jahrzehnten schrittweise von konservativen Strategen übernommen – vieles, was Trump zugeordnet wird, wurde nicht von ihm erfunden.
Haben Sie ein Beispiel?
Republikanische Politiker wie Newt Gingrich haben lange vor Trump erkannt, wie Nachrichtenzyklen funktionieren und wie sich abstruse Falschnachrichten in den Medienkreislauf einschleusen lassen – nämlich, indem man nicht aufhört, darüber zu reden. Es geht nicht um Inhalte, sondern darum, die mediale Debatte zu dominieren – und immer wieder eine neue Sau durchs Dorf zu jagen.
Die amerikanische Rechte hat diese Strategie perfektioniert, auch ein eigenes Medienimperium aufgebaut, soziale Netzwerke stark genutzt.
Genau. Und Trump war zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Er hat sich in ein gemachtes Nest gesetzt und bestimmte Forderungen gestellt, die ein großer Teil der republikanischen Basis seit Jahren hatte. Der konservative US-Politiker und TV-Kommentator Pat Buchanan hat schon in den 90ern von einem Zaun an der mexikanischen Grenze gesprochen. Ich zweifle, ob Trump das überhaupt weiß.
Die Republikanische Partei hat die Sklaverei in den USA abgeschafft. Im Lauf der Zeit wurde sie aber immer stärker von rechtsextremen „Brandstiftern” dominiert, das zeigen Sie in Ihrem Buch auf.
Das Partei-Establishment nutzt seit Jahrzehnten extreme Stimmen und Figuren für sich, um die Basis zu mobilisieren. Die Republikaner haben diese Leute in ihren Kreisen toleriert und sich Zugang zu deren Netzwerken erhofft. Man hat diese extremeren Stimmen aber lange nicht in die erste Reihe gelassen.
Zum Beispiel?
William F. Buckley war seit den 1950er Jahren der Vordenker von Amerikas Konservativen, er hat den Konservatismus salonfähig gemacht. Es heißt immer, er habe die „Verrückten“ aus der Partei geworfen, eine Art Brandmauer hochgezogen. Als Beleg dafür gilt oft seine Distanzierung von der extremen, verschwörungsgläubigen John Birch Society (JBS).
Aber?
Tatsächlich distanzierte Buckley sich erst spät – und kappte die Bande zu extremen Teilen der Rechten nie wirklich. Die Mitglieder der JBS erinnern in Teilen an heutige QAnon-Anhänger, sie glaubten an eine kommunistische Weltverschwörung. Gleichzeitig war die JBS sehr nützlich: Sie betrieb Buchclubs, aktivierte Vorstadtfrauen, verteilte Flugblätter und klopfte an Türen.
Ein Pakt mit dem Teufel, der der Partei über den Kopf gewachsen ist?
Genau. Die Republikaner haben sich lange eingeredet, dass sie alles unter Kontrolle haben. Die extremeren Fraktionen der konservativen Bewegung wurden instrumentalisiert, im Wahlkampf wurde ihnen viel versprochen. Aber sobald die republikanischen Präsidenten ins Weiße Haus einzogen, wurden sie für diese extremen Leute oft zur Enttäuschung. Das war der Nährboden für Populismus innerhalb der Partei. Die Tea-Party-Protestbewegung hat sich 2009 gegen die sogenannten Eliten in Washington gerichtet, darunter auch gegen moderatere Republikaner. Genau so agiert auch Trump.
Trump inszeniert sich als volksnah, obwohl er offenbar Milliardär ist. Forbes schätzte sein Vermögen im Mai 2024 auf 7,5 Milliarden US-Dollar. Warum kommt er damit durch?
Es ist absurd, dass sich ein angeblicher Milliardär und Ex-Präsident als Vertreter der „kleinen Leute“ und „Außenseiter“ inszeniert. Aber es funktioniert bei dem Teil der republikanischen Basis, der mit den eigenen Politikern und mit rechter bis rechtsextremer Politik im bürgerlichen Gewand unzufrieden war. Diese Leute wollen nicht mehr in codierter Sprache reden.
Und heute sind sie radikaler denn je?
Sie haben das Gefühl, dass Konservative verlieren. Ihre Kalkulation ist: Es läuft nicht gut für uns, dann können wir das Ganze auch niederbrennen und neu aufbauen. Ideologische Reinheit, Purity und den angeblichen republikanischen Eliten einen Denkzettel zu verpassen, das ist für Tea-Party-Aktivist*innen mittlerweile wichtiger als eine Wahl zu gewinnen. Sie haben in Vorwahlen sogar gegen republikanische Kandidat*innen agiert, fahren Schmutzkampagnen, wie im Fall von Dede Scozzafava 2009 in New York.
Was war das für ein Fall?
Scozzafava war eine klassische Konservative bei Themen wie Wirtschaft und Waffenbesitz, aber sie war bereit, bei der gleichgeschlechtlichen Ehe einen Kompromiss einzugehen. Die Tea-Party-Aktivist*innen organisierten Roboteranrufe, in denen es hieß, sie würde mit Kommunisten und Kindermördern gemeinsame Sache machen und sei lesbisch. Alles Dinge, mit denen man Konservativen Angst machen kann. Scozzafava bekam Drohungen. Schließlich legte sie ihre Kandidatur nieder und der Demokrat gewann. Tea-Party-Aktivist*innen sahen solche temporären Niederlagen nicht als Verlust, sondern als Schritt auf dem Weg zu einer wahrhaft konservativen Partei.
Dieser radikale Flügel betrachtet Trump als Präsidenten, der liefert?
Trump hat der religiösen Rechten den Obersten Gerichtshof geliefert, den er ihr versprochen hat. Er hat erreicht, dass das Recht auf Abtreibung Geschichte ist, was er auch auf jeder Wahlkampfveranstaltung betont. Mit Erfolg: Bei den Wahlen 2020 hat ihn zum Beispiel ein noch größerer Teil weißer Evangelikaler gewählt als noch 2016.
„Trump macht seine Anhänger*innen glauben, die Demokraten ließen ihn politisch verfolgen, weil sie Angst vor seinem Wahlerfolg hätten. Damit diskreditiert er das Justizsystem.“
Weltweit gehört es zur Strategie rechter Kräfte, Feminist*innen und queere Menschen zu diffamieren und traditionelle Geschlechterrollen und Familienbilder zu betonen. Warum?
Ja, wenn es in den USA um Schulpolitik geht, werden oft „besorgte Eltern“ interviewt. Wenn man deren Namen googelt, stellt sich heraus, dass es sich um konservative Aktivist*innen handelt, die seit langem aktiv sind. Angebliche Sorgen von Müttern sind auch bei der AfD ein zentrales Motiv. „Kinderschutz“ und „Familienschutz“ dienen als ein idealer Deckmantel für rechtsextremes Gedankengut.
Ein Trojanisches Pferd.
Absolut. Ich war im letzten Sommer inkognito bei einem Medien-Workshop der rechten Organisation „Moms for Liberty“. Ein Ratschlag war, sich bei Interviews als „Mutter“ zitieren zu lassen. Mütter erscheinen harmlos, ihnen werde zugehört, so wurde da argumentiert. Die „Moms for Liberty“ verkaufen auch T-Shirts mit der Aufschrift: „Mama Bear – hands off my cubs“. Als „Mama Bear“ und „Hockey Mom“ hatte sich schon die erzkonservative Politikerin Sarah Palin inszeniert.
Ziemlich einfach, aber die Strategie scheint offenbar zu funktionieren.
In dem Workshop wurde geraten, sich einfach auszudrücken – selbst wenn man dann weniger intelligent wirke als man sei. Je verständlicher du sprichst, desto größer ist dein Publikum. Der Ratschlag des Instructors: Auch Trump redet in Sätzen, die Zweitklässler verstehen können, egal, ob das hinterwäldlerisch wirkt. Tut es ihm gleich.
Welche Tricks vermitteln sie noch in den Medien-Workshops?
Sie wissen genau, wie sie strukturelle Probleme im Journalismus ausnutzen können. Gerade Lokalzeitungen haben Schwierigkeiten, ihre Seiten zu füllen, viele drucken daher Zuschriften ab. Wenn eine der Aktivistinnen gut schreiben kann, soll sie viele Leserbriefe verfassen und die Namen anderer „Moms“ abwechselnd einsetzen. Sie lernen auch, dass Journalist*innen unter Zeitdruck stehen. Wenn Aktivist*innen zuverlässig sind und auf Abruf für O-Töne bereitstehen, rufen Journalist*innen oft wieder an. Die Rechten sehen Medien als Feinde, aber auch als nützliche Deppen.
Fallen auch etablierte Medien auf diese Tricks hinein?
Ja, weil die rechte politische Infrastruktur schwer zu durchschauen ist: Rechtskonservative Strategen haben in den 70ern und 80ern Think Tanks gegründet, finanziert vor allem durch mittelständische Unternehmer und Millionäre aus dem mittleren Westen. Das sind neutral klingende Institute und unabhängig wirkende Expert*innen, die ihre Seele verkauft haben und sich auch gegen wissenschaftliche Erkenntnisse positionieren. So wurden Anlaufstellen für Journalist*innen geschaffen. Medien können schnell O-Töne oder Strategiepapiere abholen, die die konservative Seite abbilden – ohne, dass direkt republikanische Politiker*innen zu Wort kommen.
"Die Mär von Protestwähler*innen lässt zwar nachts besser schlafen, ist aber vor allem eins: ein Mythos."
Welche Lehren sollten deutsche Medien bei der Berichterstattung über Rechtsextremismus ziehen?
Wir müssen weg von dem verzerrenden Verständnis von Objektivität als Mitte zwischen zwei Positionen, sonst bewegen wir uns immer weiter nach rechts. Beide Seiten als gleichermaßen radikal darzustellen, wenn eine Seite so wirkt, als ob sie von allen guten Geistern verlassen ist, ist absurd. Wenn eine Seite den Rahmen der Demokratie verlassen hat, ist es die Aufgabe von Medien, das zu berichten – egal, ob es um die Präsidentschaftswahlen in den USA geht oder die Landtagswahlen in Deutschland.
Auch die deutschen Brandstifter sind zunehmend erfolgreich bei Wahlen. Warum?
Bei allen Unterschieden zwischen Deutschland und den USA gibt es einige Parallelen zwischen den Rechten. Nehmen wir das Beispiel der gestiegenen Lebenshaltungskosten. Rechtspopulisten benennen das Problem, doch liefern keine Lösung. Stattdessen zeigen sie mit dem Finger auf eine marginalisierte Gruppe und machen sie so zum Sündenbock. Rechtspopulisten wollen materielle Probleme also gar nicht lösen, denn sie brauchen sie, um Ressentiments zu schüren. Gleichzeitig gibt es einen erheblichen Teil der Bevölkerung, der sich von einer rechtsextremen Politik Vorteile verspricht. Die Mär von Protestwähler*innen lässt zwar nachts besser schlafen, ist aber vor allem eins: ein Mythos.
Hat man hierzulande – so wie in den USA – das Ausmaß der rechten Gefahr zu spät erkannt?
Man sieht die Prognosen für die AfD bei den Landtagswahlen und man kennt die Gefahr, dass es zum ersten Mal einen AfD-Ministerpräsidenten geben könnte. Aber trotzdem hält sich das Gefühl: Soweit wird es schon nicht kommen.
Die AfD ist auf TikTok sehr aktiv, auch Trump hat seit Juni ein TikTok-Profil. Wie relevant ist die Video-App für den Wahlkampf?
Die AfD ist sehr erfolgreich auf TikTok. Das ist für sie eine kluge Strategie, weil der TikTok-Algorithmus extreme, also auch rechtsextreme Themen bevorzugt – alles, was Engagement erzeugt. Ich hoffe, dass die anderen Parteien nachziehen und gegenhalten. In den USA hat die Biden-Regierung den Verkauf von TikTok bis zum Januar 2025 angeordnet, sonst wird die App dort verboten. Aber weil TikTok gerade für jüngere Generationen auch als Nachrichtenquelle beliebt ist, hat das Biden-Team trotzdem noch einen Account.
Sollten Medien stärker auf TikTok präsent sein?
Wenn viele der Menschen, die ich erreichen will, auf TikTok sind, muss ich mich unabhängig von meinen Gefühlen für dieses Medium damit auseinandersetzen. Ich würde raten: Stellt Gen Z-Journalist*innen ein, die keine „Millenial-Pausen“ vor jedem Video machen, weil sie erstmal tief einatmen. Es gibt genug Nachwuchsjournalist*innen, die wissen, wie TikTok funktioniert und welcher Content dort erfolgreich ist. Bitte nicht die Instagram-Strategie einfach auf TikTok übertragen.
Halten Sie ein AfD-Verbot für realistisch und sinnvoll?
Ich zweifle daran, dass der politische Wille existiert, aber ich lasse mich gern überraschen. Lange Zeit war ich der Auffassung, dass es nicht hilft, wenn man Parteien, die bereits eine gewisse Größe erreicht haben, verbietet. Mittlerweile würde ich sagen: Es löst zwar nicht das Grundproblem, aber man muss alles versuchen, um es denjenigen, die offen ankündigen, die Demokratie zerstören zu wollen, zumindest schwerer zu machen oder ihnen das Handwerkszeug zu nehmen, zum Beispiel Steuergelder für ihre Kampagnen.
Glauben Sie denn, dass die angebliche Brandmauer, die Abgrenzung der anderen Parteien gegenüber der AfD, hält?
Wenn es je eine Brandmauer gegeben hat, ist sie sehr durchlässig. Auf Landesebene haben wir da ja schon vorsichtiges bis intensives Interesse gesehen. Meine Befürchtung ist, dass sobald die Prozentzahlen stimmen, die Hemmungen fallen werden, was eine Koalition mit der AfD betrifft.
Annika Brockschmidt hat Geschichte, Germanistik und War and Conflict Studies in Heidelberg, Durham und Potsdam studiert. Sie ist freie Journalistin und Autorin, hat für das ZDF Hauptstadtstudio gearbeitet und den vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft ausgezeichneten Podcast Science Pie produziert, außerdem den HistoPod für die Bundeszentrale für politische Bildung. Sie ist Senior Correspondent für das US-Magazin Religion Dispatches, ihre deutschsprachigen Texte erscheinen unter anderem im Tagesspiegel, bei Zeit Online, dem Freitag und der taz. Ihr Buch „Amerikas Gotteskrieger” über die Macht der Religiösen Rechten in den USA war 2021 ein Bestseller, 2024 schaffte es auch ihr aktuelles Buch, „Die Brandstifter”, über die Radikalisierung der Republikanischen Partei, auf die Spiegel-Bestsellerliste.
Sonja Peteranderl ist Gründerin des Think Tanks BuzzingCities Lab und berichtet vor allem über organisierte Kriminalität, Gewalt und Technologie – etwa für SWR Vollbild, Zeit oder Spiegel. Paula Winkler ist Fotografin in Berlin.