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"Die ARD zu leiten, ist wie den SC Freiburg trainieren"
Kai Gniffke: "Wir dürfen das Feld nicht chinesischen oder amerikanischen Tech-Konzernen überlassen" (Foto: Chiara Bellamoli)
Nach 100 Tagen als ARD-Vorsitzender spricht SWR-Intendant Kai Gniffke mit dem journalist über die großen Themen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Wie umgehen mit der Kritik am System? Welche Lehren zieht die ARD aus den RBB- und NDR-Skandalen? Und wie stellt sich die Sendergemeinschaft für die Zukunft auf? Interview: Jan Freitag, Foto: Chiara Bellamoli
03.05.2023
„Wir brauchen eine neue ARD, also weg vom ‚jeder macht alles‘, hin zum ‚jeder macht, was er am besten kann‘“, sagt Kai Gniffke bei unserem Interview in Stuttgart und kündigt mehr Arbeitsteilung an. „Wir bilden redaktionelle Kompetenzzentren in zunächst vier Bereichen; Klima, Gesundheit, Verbrauchermagazine und Hörspiel.“ Weitere sollen folgen. Gniffke will ernst machen mit dem ARD-Umbau: „Wir benötigen den ganz großen Aufschlag umfassender Reformen.“
journalist: Herr Gniffke, Sie haben die ersten 100 Tage als ARD-Vorsitzender gerade hinter sich.
Kai Gniffke: Ziemlich genau sogar.
Also Schonfrist beendet. Was ist nach drei Monaten im Amt leichter: einen Sack Flöhe hüten, Schalke 04 trainieren oder neun Sendeanstalten der ARD leiten?
Weder noch, es ist eher wie den SC Freiburg trainieren. Die ARD fühlt sich nämlich gerade an wie ein sehr spannendes Team, das richtig erfolgreich spielt: mit sehr viel Enthusiasmus, sehr gutem Spirit und sehr genauer Aufgabenverteilung. Weil alle genau das Gleiche wollen, nämlich dem Publikum bestmöglichen Journalismus und bestmögliche Unterhaltung bieten.
Puh, das klingt angesichts vom Stress des öffentlich-rechtlichen Rundfunks seit den Skandalen von RBB und NDR ein bisschen arg positiv …
Alle Medienanbieter sind momentan gestresst, weil alle damit zu tun haben, dass sich die Mediennutzung komplett verändert. Wir zum Beispiel müssen uns darauf einstellen, dass schon in wenigen Jahren mehr Menschen nichtlineare Inhalte nutzen als lineare. Unsere Herausforderung besteht deshalb darin, die Angebote in Radio und Fernsehen stark zu halten und gleichzeitig ARD-Mediathek und -Audiothek noch erfolgreicher zu machen, um das Feld nicht chinesischen oder amerikanischen Tech-Konzernen zu überlassen.
Und welche Aufgabe kommt Ihnen als Vorsitzendem dieser Arbeitsgemeinschaft neun höchst verschiedener Rundfunkanstalten dabei zu – die eines Mediators?
Als ARD-Vorsitzender ist man an manchen Stellen Impulsgeber, an anderen Moderator, aber am Ende jeder Diskussion auch dafür mitverantwortlich, dass Entscheidungen gefällt werden. Mediator wäre mir da zu wenig.
Wie wäre es mit Streitschlichter?
Auch nicht.
Sind die Sendeanstalten im Zuge der Skandale des vorigen Sommers zusammengewachsen, oder beäugt man sich ein bisschen kritisch bis skeptisch?
Die berechtigte Kritik hat sich am Ende stark auf ein einzelnes Haus fokussiert, darum war von Beginn an selbstverständlich, dass beim RBB zunächst mal die Aufarbeitung der Fehler erfolgen muss. Dennoch herrschte schon Ende vorigen Jahres, unter der kommissarischen Leitung von Tom Buhrow als ARD-Vorsitzendem, eine Stimmung des Unterhakens in der ganzen ARD im Zeichen gegenseitiger Solidarität.
Womöglich gar eine Art Wagenburgmentalität zur Abwehr äußerer Bedrohungen?
Das Bild der Wagenburg passt nicht. Wir wollen die berechtigten Angriffe auf das, was schiefgelaufen ist, nicht abwehren, im Gegenteil. Wir müssen uns damit doch auseinandersetzen und alles dafür tun, dass solches Fehlverhalten sich nicht wiederholen kann. Das haben wir getan. Und dann geht es darum, gemeinsam wieder auf Kurs zu kommen und Tempo aufzubauen. Und da ist es schon sinnvoll, wenn alle im gleichen Rhythmus und vor allem in die gleiche Richtung rudern. So viel in Metaphern. Natürlich waren die vergangenen Monate für uns alle in der ARD sehr anstrengend, aber nicht wegen eines Gegeneinanders. Was da beim RBB vorgefallen ist, war zuvor schlicht undenkbar. Aber natürlich geht uns das alle etwas an. Schließlich ist der RBB Teil der ARD-Familie, und zwar ein wichtiger.
„Was da beim RBB vorgefallen ist, war zuvor schlicht undenkbar.“
Und welchen Einfluss hat das turnusmäßige Oberhaupt auf diese Familie?
Weder ich noch irgendjemand sonst sollte versuchen, sich in dieser herausfordernden Zeit als Retter oder Erneuerer der ARD auf Kosten anderer zu profilieren. In einer Arbeitsgemeinschaft neun unabhängiger Landesrundfunkanstalten, deren Unternehmenskultur und regionale Beschaffenheit höchst unterschiedlich geprägt sind, können wir nur zusammen gewinnen oder verlieren.
Klingt, als sei das winzige Radio Bremen auf Augenhöhe mit dem riesigen WDR.
Das klingt nicht nur so. Seit dem Herbst 2022 haben wir gemeinsam sehr schnell Konsequenzen aus den Vorgängen beim RBB gezogen und unsere Regeln im Bereich Compliance, Controlling und Transparenz, die für alle gleichermaßen gelten, geschärft und vereinheitlicht.
Und das reicht für alle Baustellen?
Nein, darüber hinaus benötigen wir den ganz großen Aufschlag umfassender Reformen. Dieser gewaltige Prozess hat allerdings nicht erst in meiner Amtszeit begonnen, aber jetzt ist er unumkehrbar. Egal wo ich hinkomme: Kaum jemand sagt, wir wollen die ARD weghaben, aber viele sagen, wir wollen euch anders und zukunftsfähig haben. Daran arbeiten wir.
Woran genau jetzt?
Wir brauchen eine neue ARD, also weg vom „jeder macht alles“, hin zum „jeder macht, was er am besten kann und stellt es letztlich allen anderen zur Verfügung“. Kooperation und Arbeitsteilung müssen da einen ganz neuen, viel größeren Stellenwert kriegen als bislang.
Gerade hat NRW-Medienminister Nathanael Liminski in der Süddeutschen ein ganzes Bündel Synergie-Effekte von zusammengelegten Verwaltungsstrukturen über gemeinsame Magazinangebote bis hin zur Fusion von Intendanzen angeregt – könnten Arbeitsteilung und Kooperation so weit gehen, dass ganze Führungsstäbe verschwinden?
Vieles von dem, was Nathanael Liminski vorschlägt, ist bei uns schon in Arbeit. Wir bilden redaktionelle Kompetenzzentren in zunächst vier Bereichen: Klima, Gesundheit, Verbrauchermagazine und Hörspiel – weitere können folgen. Wir kaufen zunehmend gemeinsam ein, wir vereinheitlichen unsere SAP-Systeme. Und bestimmt gibt es noch weitere Verwaltungsbereiche, in denen wir mehr gemeinsam machen können. Dass die Geschäftsleitungen selbstständiger ARD-Medienhäuser aber miteinander verschmelzen, ohne dass die Sender selbst fusionieren – das halte ich nicht für realistisch.
Gingen aber bei den Dritten Programmen damit weiter, was Sie durch Schlagworte wie „Mantelredaktionen“ oder „Pool-Lösungen“ kennzeichnen?
Absolut. Wir haben beispielsweise im Hörfunk verschiedene Prozesse eingeleitet, die von gemeinsam genutzten Beiträgen über geteilte Sendestrecken bis hin zum Austausch ganzer Sendungen reichen. Im Fernsehen kann das so weit gehen, dass sich die Dritten Programme auf ihren regionalen Kern konzentrieren, und alles drumherum wird gemeinsam gestaltet. Nicht jeder Sender muss für jedes Thema eine eigene Fachredaktion unterhalten. Das ist nicht weniger als ein Paradigmenwechsel.
Für den sich die Gewerkschaften, Personal- und Betriebsräte herzlich bedanken dürften, falls dafür immer noch weiter Personal abgebaut wird.
Warum? Ich kann jetzt hier nur für den SWR sprechen, nicht als ARD-Vorsitzender. Wir sind und bleiben ein fairer und verlässlicher Arbeitgeber. Wir müssen in der ARD unsere Medienhäuser den Erfordernissen der Zukunft und dem uns anvertrauten Geld anpassen. Dass Beschäftigte diesen Reformprozess mit Leben füllen und sich für die neue ARD engagieren, ist ebenso anstrengend wie verdienstvoll. Dabei muss aber hier beim SWR niemand fürchten, entlassen zu werden.
„Wir brauchen eine neue ARD, also weg vom ‚jeder macht alles‘, hin zum ‚jeder macht, was er am besten kann, und stellt es letztlich allen anderen zur Verfügung‘.“
Ist der Wandel strukturell bedingt oder finanziell, geht es also darum, Prozesse zu optimieren oder Geld einzusparen?
Die Zeiten, in denen alle alles machen, sind völlig unabhängig vom finanziellen Druck einfach vorbei. Außerdem benötigen wir mehr denn je journalistische Exzellenz. Und die gewinne ich eher, wenn Kräfte gebündelt als gestreut werden. Journalistische Exzellenz und betriebswirtschaftliche Effizienz miteinander verbinden – so lautet aktuell die Zauberformel.
Was Sie als Chefredakteur von ARD-aktuell 16 Jahre erprobt haben. Welche Themenfelder abseits der Nachrichten gibt es noch, in denen Synergie-Effekte stecken?
Wir prüfen das zum Beispiel gerade beim Thema Klima, das habe ich vorhin angedeutet. Dass das ein großes, wenn nicht das größte Thema unserer Zeit ist, hat jedes Haus längst begriffen. Wahrscheinlich entstehen überall gerade Fachredaktionen, die sich im Rahmen der Arbeitsteilung in einem senderübergreifenden Kompetenzzentrum sehr gut bündeln ließen, an dem alle partizipieren, von dem aber auch alle profitieren.
„Alle“ beinhaltet vermutlich auch das Publikum. Wie hoch schätzen Sie dessen Wohlwollen für öffentlich-rechtliche Sender angesichts der zurückliegenden Skandale ein?
Sehr hoch. In einer repräsentativen Studie haben wir die Menschen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz unlängst gefragt, was sie vom SWR halten. Nach dem SWR Imagetrend 2022 sagen zwei Drittel der Befragten, dass der SWR sein Geld wert ist. Und auch nach einer anderen repräsentativen Studie von 2022 gibt es für die öffentlich-rechtlichen Rundfunkangebote in den Kategorien „gesellschaftliche Relevanz“ mit 81 Prozent und „Glaubwürdigkeit“ mit 78 Prozent Zustimmungswerte.
Und dafür zahlen die Leute bereitwillig und gerne fast 20 Euro im Monat?
Na ja, Zahlungen lösen selten große Begeisterung aus, das ist wie bei Steuern und Abgaben: Ungeachtet all der Leistungen, die sie dafür bekommen, dürfte die Antwort, ob die Leute sie gerne zahlen, eher Nein lauten. Damit müssen wir umgehen.
Zumal Vertrauen in den SWR nicht deckungsgleich mit Zufriedenheit mit dem SWR oder anderen Häusern ist.
Wobei Vertrauen ein soliderer Wert ist als Gefallen, darum ist mir das Vertrauen zunächst mal wichtiger. Wir werden den Menschen und den Regionen weiterhin, wenn nicht gar stärker, Gesicht und Stimme geben, so wächst Zufriedenheit. In der Zeit der Pandemie jedenfalls waren die Vertrauenswerte und damit die Akzeptanz für ARD und ZDF so groß wie nie. Gerade in schwieriger Zeit sind wir den Menschen ein verlässlicher Begleiter, der ihnen Orientierung, Heimat und Geborgenheit gibt.
Reichen, zurück zum Rundfunkbeitrag, die 18,36 Euro dafür mittelfristig aus?
Mit dem Geld, das uns die Beitragszahler und -zahlerinnen anvertrauen, haben wir auszukommen. Ich kann ja nicht sagen, verschulden wir uns mal, nachfolgende Generationen zahlen das schon. Dennoch müssen wir uns und dem Publikum bewusst machen, dass der aktuelle Betrag festgelegt wurde, als noch niemand eine Inflation von acht und mehr Prozent erwarten konnte und derart steigende Energiepreise. Umso mehr ist es Teil meiner Aufgabe, verantwortungsvoll mit dem umzugehen, was wir haben.
Wofür würden Sie dennoch mehr ausgeben als zurzeit, wofür entsprechend weniger?
Ich würde gern mehr in die Zukunft investieren, also mehr in exzellenten Inhalt und moderne Technologie insbesondere dort, wo die Zukunft spielt: in der ARD-Mediathek und -Audiothek. Und wenn wir dafür kein zusätzliches Geld bekämen, müssten wir diese Kraft an anderer Stelle gewinnen.
Wo zum Beispiel?
Wir verteilen unsere Ressourcen zurzeit sehr ungleichmäßig. Fast drei Viertel gehen in Angebote für Menschen, die älter sind als 50 Jahre, wie das SWR-Fernsehen oder unsere beiden SWR4-Wellen. Für die andere Hälfte der Bevölkerung geben wir nur 25 Prozent aus. Das ist nicht angemessen. Deshalb steuern wir um.
„Journalistische Exzellenz und betriebswirtschaftliche Effizienz miteinander verbinden – so lautet aktuell die Zauberformel.“
Weit größere Lücken reißt allerdings die Pensionskasse. Lässt sich dieser Kostenfaktor zum Guten reformieren?
Dafür müssten wir Tarifverträge ändern. Natürlich ächzen wir unter der Pensionslast ganz schön. Aber da geht es um Verträge, die teilweise bereits Generationen vor uns abgeschlossen wurden. Vor gut sechs Jahren ist es uns unter dem Vorsitz von Karola Wille …
Damals wie heute Intendantin des MDR.
… bereits gelungen, den Anstieg der Betriebsrenten zu deckeln. Das entlastet die ARD heute um Milliarden. Trotzdem sind die Pensionslasten noch immer sehr hoch. Zugleich aber verstehe ich natürlich Arbeitnehmervertretungen, die auch heute für Berufseinsteiger eine gute Altersversorgung erkämpfen wollen. Wir können als Sender Tarifverträge nicht einseitig diktieren, und das ist auch gut so.
Ist es denn theoretisch denkbar, dass die Höhe künftiger Pensionen dadurch gesenkt wird, heutige Einkommen – zumindest im oberen Gehaltssegment – zu senken?
Interessanter Gedanke. Diese Idee legt nahe, dass die hochqualifizierte Arbeit für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk weniger wert wäre als vergleichbare Arbeit bei anderen Medienhäusern, bei Daimler oder Bosch. Das würde ich in Abrede stellen. Die Leute hier arbeiten sehr hart. Dafür dürfen sie auch eine angemessene Bezahlung erwarten. Für solche Fragen gibt es die segensreiche Erfindung der Tarifautonomie.
Glauben Sie, dass die KEF in knapp einem Jahr die Erhöhung des Rundfunkbeitrags empfehlen wird, sofern Inflation und Energiepreise nicht signifikant sinken?
Das kann ich überhaupt nicht sagen. Die KEF ist der Garant unserer Unabhängigkeit, weil ihr niemand – auch nicht der ARD-Vorsitzende – dabei reinredet.
Schon bei gleichbleibender Höhe gibt es aber Gegenwind aus vielerlei Richtungen – zuletzt etwa von der Landesregierung Sachsen-Anhalts.
Welche der verschiedenen Richtungen meinen Sie denn genau?
Vorwürfe eines regierungsnahen Staatsfunks, bei dem linksliberale Stimmen gegenüber konservativen, gar rechten massiv in der Mehrzahl seien.
Ich kann mit dem Vorwurf herzlich wenig anfangen; unterstellt er doch, dass Journalistinnen und Journalisten ihr Handwerk nicht beherrschen, was man anderen Berufsständen vorbehaltlos zubilligt: die eigene, persönliche Haltung von der beruflichen Arbeit zu trennen. Ein Tischler, der CDU- oder AfD-Mitglied ist, zimmert den Dachstuhl doch genauso stabil, unabhängig davon, ob sein Kunde ein SPD- oder Grünen-Mitglied ist.
Wobei ein Dachstuhl tendenziell unpolitischer ist als ein Tagesthemen-Bericht.
Aber bei beiden wünsche ich mir, dass ihr Zustandekommen nicht politisch gefärbt ist. So wie ich Journalismus gelernt und verstanden habe, ist er ein Handwerk, in dem die Meinung keine Rolle zu spielen hat – es sei denn, auf winzigen Programminseln, die geschätzte 0,1 Prozent unseres Angebots ausmachen und dann auch „Meinung“ heißen. Da sage ich: Feuer frei! Mir ist wurscht, was jemand wählt, solang er der staatsbürgerlichen Pflicht nachkommt. Hauptsache die Arbeit wird professionell gemacht. Außerdem wüsste ich nicht, wie ich die persönliche Parteipräferenz feststellen sollte. Denn vor einem müssen wir uns hüten.
Nämlich?
Gesinnungsschnüffelei beim Einstellungsgespräch.
Aber wo steht denn – noch eines Ihrer Schlagworte – die Brandmauer, bei der AfD, der NPD, der autonomen Antifa oder nicht mal dort, sofern es das Handwerk nicht beeinträchtigt?
Wer den demokratischen Verfassungsstaat und seine fundamentalen Werte, Normen und Regeln ablehnt, wird als Extremist bezeichnet und hat bei uns keinen Platz. Wer zu unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung steht und seine journalistische Arbeit professionell macht – der ist frei, seine eigene Meinung zu haben.
Dessen ungeachtet gibt es doch ständig Vorwürfe von konservativer Seite, deren Stimme sei im Verhältnis zur linksliberalen in der ARD unterrepräsentiert – wozu eine Umfrage unter ARD-Volontär:innen passt, die offenbar mit großer Mehrheit grün ticken.
Selbstverständlich gibt es konservative Stimmen, man muss sie nur auch wahrnehmen wollen. Aber in sozialen Medien wird es offenbar eher hervorgehoben, wenn Anja Reschke oder Georg Restle auf ihre Weise kommentieren, während ein Kommentar von Kerstin Palzer, in dem sie den Weiterbetrieb der verbliebenen Atomkraftwerke fordert, kaum Erwähnung fand.
Die Filterblasen der Aufmerksamkeitsgesellschaft …
In denen es einfach eine Falschinformation ist, es gebe keine konservativen Stimmen bei der ARD. Wobei die Umfrage, von der Sie sprechen, sogar von Ihrem Magazin stammt. Sie war nicht repräsentativ. Der Journalistenberuf ist nun mal eher für kritische Geister attraktiv. Wobei es zunächst mal gar kein Beinbruch ist, dass unser Beruf diese Haltung seit jeher anzieht – sofern sie nicht mit dem Handwerk kollidiert. Wer das nicht trennen kann, kriegt auch mit mir ein Problem.
Wurde Ihnen Ihre SPD-Mitgliedschaft eigentlich je zum Vorwurf gemacht?
Nie! Und nach 16 Jahren Leitung der Tagesschau bin ich darauf ehrlich gesagt stolz, dass mir nicht ein einziges Mal vorgehalten wurde, ich hätte politische Kräfte egal welcher Richtung bevorzugt oder benachteiligt. Das zeigt mir: Es geht, und zwar auch an einer so exponierten Stelle, die nun wirklich unter Beobachtung steht.
Wie reagieren Sie da auf Polemiken wie jene von Mathias Döpfner als BDZV-Präsident und Springer-Chef, ARD und ZDF mit Nordkorea zu vergleichen?
Ach, manchmal unterschreiten Argumente ein Niveau, bei dem ich mich nicht mehr zur Reaktion aufgerufen fühle.
Sein Vorwurf der Nähe zur jeweiligen Regierung findet sich ähnlich oft im gesellschaftlichen Diskurs wie „Linksliberalismus“ oder „Gebührenverschwendung“. Wollen Sie eigentlich wissen, was die Leute draußen über die ARD denken, oder folgen Sie lieber dem inneren Kompass?
Wir wollen es wissen und tun auch was dafür – sowohl durch repräsentative Studien als auch direkte Gespräche. Wenn ich mich per Insta-Live an die Leute wende, kriege ich ungefiltert mit, was sie über uns und gegebenenfalls mich denken. Über eines müssen wir uns dabei jedoch im Klaren sein: Diejenigen, die uns verachten und weghaben wollen, sind ungleich lauter als diejenigen, die uns mögen und behalten wollen.
Analog oder digital?
Überall. Von den etwa 15 Millionen Menschen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, für die der SWR Tag für Tag da ist, veranstaltet keiner Demos für uns, sondern hört oder sieht einfach zu, bleibt ansonsten aber leise. Dieses stille Vertrauen nicht zu verspielen, heißt allerdings nicht, sich der lauten, gelegentlich unsachlichen Kritik zu verweigern. Ich rede auch mit denen, die rustikal argumentieren, sofern gewisse Mindeststandards des menschlichen Zusammenlebens eingehalten werden.
Wo also wären die unterschritten?
Bei Beleidigungen, gar Bedrohungen. Wir haben während der Pandemie einige Kritiker zu einem Onlinedialog eingeladen. In dieser Runde von einigen Leuten zeigte sich, dass der persönliche Kontakt selbst bei denen, die zuvor extrem emotional waren, zum echten Dialog führen kann, ohne am Ende einer Meinung sein zu müssen.
Eine dieser uneinigen Meinungen bezieht sich auf die inhaltliche Ausrichtung der ARD zugunsten leichter Unterhaltung – zu viele Shows und Krimis, zu viel Kai Pflaume und Rote Rosen bei zu schlechten Primetime-Plätzen für harte News und Reportagen.
Einspruch, Sie sprechen vom Ersten Programm, das nur einen Teil der ARD ausmacht. Wer dabei einen aufmerksamen Blick auf die Programme wirft, findet dort gewiss nicht zu wenig harte News und Reportagen. Das gilt umso mehr für die 64 Hörfunkwellen der ARD, wo das Regionale ein noch stärkeres Gewicht hat. Und ganz besonders gilt es für die Videos der Mediathek – mehr Info geht da kaum.
„Ich würde gern mehr in die Zukunft investieren, also mehr in exzellenten Inhalt und moderne Technologie insbesondere dort, wo die Zukunft spielt: in der ARD-Mediathek und -Audiothek.“
Sie hatten eingangs von ein paar Jahren gesprochen, bis das digitale Angebot das lineare übersteigt.
Es ist müßig, einen Zeitpunkt festzulegen. Es wird bald passieren. Fertig. Darauf müssen wir uns mit brillanten Inhalten in Mediathek und Audiothek einstellen, sonst werden die Menschen ihre mediale Heimat dort suchen, wo mit Emotionalität statt Inhalten, mit Polarisieren statt Analysieren und nicht nur mit Qualität um Publikum geworben wird.
Dürfen ARD und ZDF bei dieser Suche manchmal emotionaler, polarisierender, quantitativer sein als gewünscht?
Um Gottes Willen, nicht mit mir! Wir müssen das machen, was wir am besten können. Und das ist übrigens nicht nur Information, sondern auch Fiktion. Der SWR hat voriges Jahr den großartigen Film Ich bin dein Mensch mitproduziert, regionale Mehrteiler wie Höllgrund. Sehen Sie sich eine Serie wie Asbest von Kida Ramadan an. Wir können spannend erzählen, müssen es nur auch bekannt machen. Lassen Sie es mich so sagen: Wenn ich die mediale Lebensader eines Landes sein will, dann muss ich des Lebens pralle Fülle auch in ihrer Gesamtheit von Information über Fiktion und Service bis zu Bildung oder Beratung abbilden.
Mit PR-Agenturen wie Fischer-Appelt zum Beispiel, die Sie zusätzlich zu den gut besetzten Pressestellen zur Verbesserung der Außendarstellung engagiert haben?
Der SWR hat den ARD-Vorsitz ein Jahr früher übernommen als geplant. Das ist eine besondere Herausforderung, wir mussten einen Kommunikationsbereich gewissermaßen aus dem Boden stampfen, denn wir wollen ja offen sein gegenüber unserem Publikum und anderen Medienhäusern. Zur Unterstützung hat der SWR für die Anfangsphase externe Unterstützung eingeholt. Das ist ein Gebot der Professionalität.
Und wie weit ist jenseits dieser Anfangsphase der Plan gediehen, die Mediatheken von ARD und ZDF zu bündeln?
ARD und ZDF haben 2021 das gemeinsame Streaming-Netzwerk vereinbart, das heute schon sichtbar ist. Wer nach Dokumentationen im Ersten sucht, bekommt auch ZDF-Dokus angeboten und umgekehrt. Dieser Prozess verschränkter Inhalte mit technisch hervorragender Suchfunktion, kluger Empfehlungslogik und gutem Player geht weiter. Dabei bleibt die publizistische Vielfalt erhalten und die Absenderschaft klar. Die Senderfarben Orange und Blau bleiben weiterhin unterscheidbar.
Bis zu welchem Punkt genau?
Bis dahin, in Bezug auf die Technik das Beste beider Welten gut zugänglich zu machen. Würden wir das Branding verwässern, ginge es nämlich zulasten der journalistischen Vielfalt. Und das wäre gerade angesichts anhaltender Konzentrationsprozesse im Mediensektor der völlig falsche Weg.
Sind inhaltliche Synergien von ARD und ZDF dennoch denkbar, etwa in Rechercheverbünden, wie sie NDR und WDR mit Süddeutscher Zeitung oder der Zeit pflegen und bei Sportereignissen wie Olympia oder Fußball-WM, wo bisweilen die Studiotechnik geteilt wird?
Wir teilen uns Arbeit mit dem ZDF im Morgen- oder Mittagsmagazin und bei Sportgroßveranstaltungen. Das hat sich alles sehr bewährt und der journalistischen Qualität genutzt. Denn es geht bei jeder Synergie darum, den Qualitätsjournalismus generell zu stärken. Dafür könnten wir alle in den nächsten Jahren auch mit Verlagshäusern enger zusammenarbeiten.
Finden das auch die Verlage, denen die presseähnlichen Angebote gebührenfinanzierter Sender ja eher zu weit als zu kurz gehen?
Die Frage des Textes in den Web-Angeboten der ARD wird ein Thema bleiben. Die Verlage sind durch hohe Papier- und Energiepreise oder den Mindestlohn mit einer äußerst schwierigen Situation konfrontiert, in der Kooperationen besser sind als Konfrontationen. Darum wollen wir als Sender Signale an Verlage senden, dass wir deren Lage erkennen und gemeinsame Schmerzpunkte ausmachen. Dafür gibt es eine gute Gesprächsgrundlage.
Auf verstetigten Gesprächsplattformen?
Über das Instrument der Schlichtungsstelle hinaus, die jederzeit angerufen werden kann, hatten wir im vergangenen halben Jahr drei Gespräche mit Vertretern des BDZV, und ein weiteres Gespräch ist bereits geplant. Das kann man schon stetig nennen.
Wie ist es mit dem Publikumsdialog – wird der, wenn das Pendel vom Linearen ins Digitale kippt, leichter oder schwerer, weil im Internet kommunikative Anarchie herrscht?
Ja und nein. Durch die Möglichkeiten der Interaktion haben wir natürlich viel größere Möglichkeiten, mit dem Publikum in Kontakt zu treten. Zugleich aber vervielfacht sich Kommunikation im Bereich sozialer Medien so sehr, dass die Unübersichtlichkeit der Gesprächskanäle rapide wächst. Auch deshalb versuchen wir, regelmäßige Dialogformate zu etablieren, um mit dem Publikum im Gespräch zu bleiben.
Womit zum Beispiel?
Der Tagesschau etwa, das erfolgreichste deutsche Medienangebot bei Tiktok oder auch bei Instagram. Das zeigt uns: Traditionsmarken wie diese haben auch in der Generation Z große Bedeutung. Wenn wir daraus die richtigen Schlüsse ziehen, ist mir vor dem Wandel des Mediennutzungsverhaltens nicht bange.
Wird das gehobene Durchschnittsalter Ihres Publikums demnach automatisch sinken, wenn die ARD von Jüngeren als digitales statt analoges Medium wahrgenommen wird?
Na ja, das Durchschnittsalter unserer Jugendwelle Dasding ist Anfang 20, bei Funk liegt es nur unwesentlich höher. Wenn wir es weiter absenken, landen wir im Bereich des Kika. Deshalb müssen wir einfach mit dem Vorurteil aufräumen, öffentlich-rechtliche Angebote dienten ausschließlich der Senioren-Bespaßung. Die 4,4 Millionen Follower der Tagesschau bei Instagram dürften im Durchschnitt keine 60 sein.
Da die lineare Nutzung noch auf Jahre überwiegt, liegt der Altersschnitt insgesamt aber doch eher drüber, oder?
Nur wenn man die ARD und ihr Publikum auf das Erste und die Dritten Programme reduziert.
Wenn Sie jetzt, in dieser Sekunde, die Chance hätten, etwas Grundlegendes zu ändern – was wäre das?
Die gute Fee gewährt mir einen Wunsch, meinen Sie? (überlegt sehr lange)
Dann vorweg: Wo Sie sowohl SWR als auch ARD aus jahrelanger Erfahrung kennen – was kann der eine von der anderen lernen und umgekehrt?
Da jedes Haus ein bisschen die ARD im Kleinen ist, gibt es sie im Grunde gar nicht ohne ihre Bestandteile. Was der SWR gerade dennoch von der ARD lernen kann, ist größere Arbeitsteilung, bei der nicht mehr jeder der drei großen SWR-Standorte alles machen muss, sondern nur das tut, was er am besten kann.
Und die gute Fee?
Von der würde ich mir wünschen, dass sie uns die Abkürzung zu dem sehr langen, sehr steinigen Weg der Reform zur neuen, arbeitsteiligen, kooperativen ARD zeigt. Ein paar dieser Prozesse sind angeschoben, andere liegen noch vor uns. Wenn uns die gute Fee die Abkürzung zur Vollendung Ende 2023 zeigen würde, wäre ich ihr unendlich dankbar.
Jan Freitag ist freier Journalist in Hamburg. Chiara Bellamoli arbeitet als Fotografin in Karlsruhe.