"Der Osten ist kein Zoo"
Marieke Reimann arbeitete in mehreren westdeutschen Redaktionen – und erschrak über Ossi-Klischees und Unwissen über ihre Heimat. (Foto: Paulina Hildesheim)
Stasi, Arbeitslosigkeit und Nazis: 35 Jahre nach dem Mauerfall ist die Berichterstattung über Ostdeutschland immer noch von Klischees geprägt. Das liegt auch daran, dass es in der deutschen Medienlandschaft kaum Führungskräfte aus Ostdeutschland gibt, sagt Marieke Reimann im journalist-Interview. Die 37-Jährige ist Zweite Chefredakteurin beim SWR, und damit die einzige ostdeutsche Chefredakteurin bei einem westdeutschen Sender. Zum Jahresende gibt sie ihren Posten auf. Warum? Interview: Sonja Peteranderl, Fotos: Paulina Hildesheim
03.12.2024
In den vergangenen 35 Jahren haben große Medien oft „nur mal rübergeschaut“ in die östlichen Bundesländer – dabei gehe es darum, permanent dabei zu sein, findet Marieke Reimann. Im Interview spricht sie darüber, warum in Ostdeutschland meist westdeutsche Journalist*innen die Redaktionen leiten, wie sich Medien diverser aufstellen können und was ihr Plan für die kommende Zeit ist.
journalist: Wie wütend machen Sie „Ossi“-Klischees, Frau Reimann?
Marieke Reimann: Mit Wut wird man vielleicht US-Präsident, selten ist aus ihr aber etwas Konstruktives erwachsen. Mit Wut spaltet man, man eint nicht.
„Die Ossis sind entweder Kommunisten oder Faschisten. Dazwischen tun sie es nicht“ – 2023 wurden solche Aussagen von Axel-Springer-Chef Mathias Döpfner publik. Ein Ausreißer oder eine Mainstream-fähige Meinung in der deutschen Medienlandschaft?
Nicht nur in der Medienlandschaft, sondern auch in weiten Teilen der westdeutschen Machtelite. Herr Döpfners Aussagen haben mich null überrascht. Sie decken sich mit dem, was ich selbst schon oft gehört habe.
Sie stammen aus Rostock. Mit welchen Klischees wurden Sie konfrontiert?
Ich habe schon öfter Kolleg*innen erlebt, die Ostdeutsche nachgeäfft haben. Sie sprachen im schlechtesten Sächsisch über Ostdeutschland und amüsierten sich über den Dialekt. Oft kam dann die Frage, warum ich kein „Ostdeutsch“ spräche, wenn ich doch von dort käme. Allein die Frage ist ignorant und verkennt die regionalen Unterschiede zwischen Mecklenburg und Erzgebirge. Westdeutsche kennen die Klischees vor allem durch TV-Sendungen der 90er und Nullerjahre wie Die Wochenshow oder TV total. Der dümmliche, sächsische Sidekick, dem ein Missgeschick passiert – das Bild hat sich verfestigt. Noch erschreckender als Kolleg*innen, die Ostdeutsche veräppeln, finde ich allerdings das breit vorhandene Nichtwissen auch in Führungsetagen über ostdeutsche und osteuropäische Kultur. Der Fokus in unseren überregionalen Medien liegt auf transatlantischer, westlicher Berichterstattung.
Fällt Ihnen ein Beispiel für diese Wissenslücken ein?
Als Reinhard Lakomy starb, ein DDR-Liedermacher, mit dessen „Traumzauberbaum“ jedes Ost-Kind aufwuchs, arbeitete ich bei einem großen Münchner Medium. Niemand in meinem Ressort wusste, wer Lakomy war. Das hat mich betrübt, weil es ein Teil meiner Kindheit war, der nicht wichtig genug schien, um darüber zu berichten. Dasselbe erlebte ich beim Tod von Václav Havel, dem ehemaligen tschechischen Präsidenten, Menschenrechtler und Regimekritiker. Als er starb, arbeitete ich bei einem Kölner Medium und wieder: Niemand kannte ihn. Die Unkenntnis über Ostdeutschland in Redaktionen ist symptomatisch.
Sie sind drei Jahre vor dem Mauerfall in Rostock geboren. Warum fühlen Sie sich ostdeutsch?
Menschen haben verschiedene Identitäten, in der Sozialwissenschaft spricht man von nested identities. Ich fühle mich Norddeutsch, aber eben auch als Ossi, weil ich im Osten zur Wendezeit groß geworden bin und dadurch eigene Transformationserfahrungen gemacht habe und die meiner Eltern und Lehrer*innen miterlebte. Das Problem an der ostdeutschen Identität ist ja, dass sie häufig von außen konstruiert wird, durch Medien zum Beispiel.
Wie nehmen Sie die aktuelle Berichterstattung über ostdeutsche Bundesländer wahr?
Ich beobachte einen leichten Anstieg einer diverseren Ostdeutschland-Berichterstattung in den vergangenen Jahren. Aber trotzdem finde ich: Wir müssen von diesem Fokus auf die Wahl- und Jubiläumsberichterstattung weg. Es reicht einfach nicht, wenn westdeutsche Reporter*innen vor den Wahlen „mal kurz rüberschauen“, indem sie vielleicht einen Roadtrip durch den Osten machen. Der Osten ist kein Zoo und auch kein Kriegsgebiet. Er findet genauso zwischendurch statt. Formate wie mittendrin der tagesthemen sind für mich ein gutes Beispiel dafür, wir regionalere Berichterstattung aus Ostdeutschland gelingen kann. In den vergangenen 35 Jahren wurde viel zu oft über – statt mit – Menschen im Osten geredet. Das ist zu eindimensional.
Einer kürzlich veröffentlichten MDR-Medienanalyse zufolge dominieren negative Themen wie Rechtsextremismus, Machtlosigkeit, Mangel oder Protest die Berichterstattung über Ostdeutschland. KI-Bilder, die auf Basis dieser Berichte erzeugt wurden, zeigen frustrierte Menschen.
Das war nicht immer so. Anfang der 90er etwa waren es Wörter wie „Aufschwung“, „Modernisierung“ und „Wachstum“, die häufig im Kontext der Ostdeutschland-Berichterstattung verwendet wurden. Ostdeutsche galten als „mutige Bürger“, die sich „im Aufbruch“ befanden, die „frech, provokativ, mündig und selbstkritisch“ waren. Etwa ab Mitte der Neunziger änderte sich das dann.
Warum bekam der Osten auf einmal so schlechte Presse?
Die Ursachen wurden bei den ostdeutschen Bürger*innen selbst gesucht. Sie waren ab sofort die „Unzufriedenen“, „Leidenden“. Verstärkt wird dieses Bild seither durch die häufig pauschalisierte Darstellung Ostdeutscher als homogene Masse mit typischen Merkmalen. Das verkennt die vielen regionalen Unterschiede und die jedes individuellen Charakters. Außerdem verstärken stereotypisierte Darstellungen wie heruntergekommene Plattenbauten oder Trabis und vermeintlich lustige „Bananenwitze“-Vorurteile, statt sie zu überwinden.
„Wir müssen von diesem Fokus auf eine reine Wahl- und Jubiläumsberichterstattung weg.“
Was läuft da schief im ost-westdeutschen Verhältnis?
Die Frage nach Unterschieden zwischen Ost und West ist häufig die Frage danach: Wann ist der Osten endlich genauso wie der Westen? Dabei wird aus einer westzentrierten Sicht gefragt, die davon ausgeht, dass sie die Norm ist. Harte wirtschaftliche Fakten werden dabei oft total ausgeblendet. Das Vermögen westdeutscher Haushalte etwa ist 35 Jahre nach dem Mauerfall doppelt so hoch wie das ostdeutscher. Ostdeutsche verdienen im Schnitt 824 Euro brutto weniger als Westdeutsche. Nur zwei Prozent der gesamtdeutschen Erbschaftssteuer werden in Ostdeutschland – ohne Berlin – gezahlt. Das ist ein Problem, da wir in einem Land leben, in dem vor allem mit geerbtem Geld Vermögen aufgebaut wird.
Spiegeln sich die unterschiedlichen Besitzverhältnisse auch in der Medienlandschaft wider?
Der Drang nach Meinungs- und Pressefreiheit in der sterbenden DDR war groß. Noch vor dem dritten Oktober 1990 wurden ganze 120 Lokalzeitungen in der Noch-DDR gegründet. Alle Zeitungen von damals sind in den ersten Monaten der Wiedervereinigung an westdeutsche Verlage gegangen. Auch renommierte Tageszeitungen, die für das Selbstverständnis der Ostdeutschen eine wichtige Rolle spielten, wurden von westdeutschen Verlagen aufgekauft. So ging zum Beispiel Die Leipziger Volkszeitung an Madsack und Springer, Die Thüringer Allgemeine, die zuvor Das Volk hieß, an die WAZ und die Schweriner Volkszeitung an Burda. Bis heute sitzt kein überregionaler Verlag im Osten.
Welche Folgen hatte das?
Dieser Vorgang ist bis heute fundamental für die mediale Darstellung Ostdeutscher. Denn Medienberichte sind immer auch abhängig davon, wem die Medien gehören. Ostdeutsche Bieter fehlten bei dem damaligen Verkauf komplett. Sie hatten schlicht und einfach nicht genug Geld, um die Zeitungen erwerben zu können. Und so wurde die Medienlandschaft zu Gunsten der Portemonnaies westdeutscher Zeitungsunternehmer und zu Ungunsten der Berichterstattung über Ostdeutschland neu geordnet.
Der Soziologe und Autor Steffen Mau sagt, die deutschen Eliten seien bis heute „eine ossifreie Zone“. Inwieweit gilt das auch für die Führungsetagen deutscher Medien?
Mit der Übernahme ostdeutscher Zeitungen erfolgte auch ein Eliten-Transfer in den Chefetagen. Westdeutsche Redaktionsleitungen und Chefredakteur*innen rückten statt ostdeutscher Journalist*innen in die Führungsebenen – und sitzen da mehrheitlich bis heute. Dem Elitenmonitor der Universitäten Leipzig und Jena sowie der Hochschule Zittau/Görlitz aus dem vergangenen Jahr zufolge sind nur acht Prozent der Führungspositionen deutscher Medien durch Menschen mit ostdeutscher Biografie besetzt – ein Armutszeugnis nach 35 Jahren Mauerfall. In den wichtigsten überregionalen Medien gibt es nur einen ostdeutschen Chefredakteur.
Und bei den Öffentlich-Rechtlichen, für die Sie arbeiten – sind Sie da Exotin?
Auch beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk sieht es mager aus: Beim ZDF gibt es keine Führungsperson mit ostdeutschem Hintergrund in der Geschäftsleitung. In der ARD ist ein Intendant ostdeutsch. Ähnlich dünn sieht es in den darunterliegenden Leitungsebenen aus.
„Einige konservative Medien haben den Boden für AfD-Rhetoriken genährt.“
Wie könnten Medien Vertrauen zurückgewinnen, gerade in Ostdeutschland?
Solange Ostdeutsche meist stereotypisiert und aus einer West-Perspektive dargestellt werden, sich also vorverurteilt beschrieben sehen, werden sie kaum mehr überregionale Medien konsumieren. Es braucht eine intensive Auseinandersetzung damit, wie die mediale Berichterstattung in den vergangenen Jahrzehnten zur Schieflage des Ost-West-Diskurses beigetragen hat. Journalistenschulen und Medienhäuser müssen umdenken, wenn sie Nachwuchsjournalist*innen rekrutieren und Führungsfunktionen besetzen. Wir brauchen Förder- und Forschungsprojekte, die die mediale Teilhabe Ostdeutschlands unterstützen.
Welche ostdeutschen Medien finden Sie gerade spannend?
Ich bin froh, dass es Magazine gibt, die sich mit – verglichen mit westdeutschen Medien – sehr wenig finanziellen Mitteln darum kümmern, Geschichten mit statt über Ostdeutsche zu erzählen. Das Katapult Magazin aus Mecklenburg-Vorpommern, das Veto Magazin aus Dresden und der Kreuzer aus Leipzig. Vor allem Katapult hat mittlerweile eine beachtliche überregionale Leser*innenschaft.
Wo fehlt es deutschen Medien jenseits ost- oder westdeutscher Herkunft und Perspektiven noch an Diversität?
Egal, ob Öffentlich-Rechtliche oder Privatmedien: Die deutsche Medienbranche ist vorwiegend westdeutsch, weiß, akademisch, vor allem in den Führungsetagen. Wir haben im gesamten Mediendeutschland keine*n Schwarze*n Chefredakteur*innen. Arbeiterkinder gibt es auch so gut wie keine im Journalismus. Doch journalistische Teams, deren Anspruch es ist, möglichst alle Menschen in Deutschland anzusprechen, sollten auch möglichst viele Lebensentwürfe in ihren Reihen haben, um authentisch berichten zu können.
Gibt es auch gute Nachrichten?
Der Nachwuchs ist diverser als noch vor 20 Jahren. Außerhalb der homogenen Führungsetagen sehe ich Fortschritte. Mittlerweile gibt es ein Verständnis dafür, explizit Menschen mit Einwanderungshistorie für Volos zu gewinnen. Was ich aber bemerke: Migrantische Journalist*innen, vor allem Jüngere, agieren meist in neuen Formaten als Hosts vor der Kamera.
Inwiefern ist das problematisch?
Einerseits ist das natürlich gut für die Sichtbarkeit migrantischer Menschen. Andererseits deckt sich dieser Eindruck nicht mit der tatsächlichen Zusammensetzung redaktioneller Teams. Hier müssen einige Medien nachjustieren, um Menschen mit Einwanderungshistorie nicht als Token zur eigenen Diversitäts-Repräsentativität zu nutzen.
Eine Umfrage unter ARD-Volontär*innen vor einigen Jahren (journalist 11/2020 „Wie divers ist der ARD-Nachwuchs?“) hat ergeben, dass die Befragten damals überwiegend weiblich waren, grün wählten und studiert hatten. Ist das ein Problem?
Nein, denn die Studie war nicht repräsentativ: Es war eine nichtwissenschaftliche Umfrage unter einigen Volontär*innen der ARD, der SR zum Beispiel war nicht dabei. Von damals 150 Volos nahmen 86 teil, also nur 57%. Und nur 77 von den 150 beantworteten überhaupt die Frage, wen sie wählen würden. Von 77 Volos auf die gesamte ARD zu schließen, schaffen nur rechtskonservative Akteure, die sowieso eine Anti-ÖRR-Agenda fahren. Vor allem in den Entscheiderebenen gibt es genügend wertekonservative ältere Menschen, die weit davon entfernt sind, durch einen eklatanten Linksdrall aufzufallen.
Viele Volontär*innen kommen aus einem urbanen Milieu. Was muss passieren, um noch mehr Nachwuchs „vom Land“ zu gewinnen?
Sender wie der SWR bieten schon länger sogenannte „Regio-Volos“ an, also Volontariate mit regionalem Schwerpunkt. Hier sind junge Menschen aus der ländlicheren Region natürlich besonders gefragt. Aufgrund der Bedeutsamkeit von Regionalität im Lokaljournalismus und in den Dritten Programmen ist es wichtig, die Zugangsbeschränkungen für Jung-Journos zu verringern: Sie gezielt zu werben, zu fördern, aber auch Zugangsbeschränkungen für Nachwuchs aus wohlstandsfernen Haushalten abzubauen.
Warum ist Journalismus immer noch ein geschlossenes Akademiker*innenfeld?
Für viele gilt ein Studium als Beleg für Intellektualität, abstraktes Denken und anspruchsvolle Sprache. Das Problem dabei ist der daraus resultierende, oft überheblich wirkende feuilletonistische Elfenbeinturm-Journalismus, bei dem Eliten für Eliten schreiben oder senden. Das führt dazu, dass Menschen mit nicht-akademischer Ausbildung und Sprache keine Medien mehr nutzen, weil es ihnen schwerfällt, die Nachrichten zu verstehen. Auch die Komplexität der Zusammenhänge macht es einigen sehr schwer, neue Informationen zu begreifen. Gerade deswegen wäre es sinnvoll, Nicht-Akademiker*innen für Redaktionen zu gewinnen. Sie wissen eher, wie man Informationen so vermittelt, dass man sie ohne Hochschulabschluss versteht und bringen andere Perspektiven und Themen in Redaktionen ein.
„Solange Ostdeutsche stereotypisiert werden, sich also vorverurteilt beschrieben sehen, werden sie kaum mehr überregionale Medien konsumieren.“
Wie fördern Sie Diversität im Journalismus?
Wenn man diversere Teams aufbauen möchte, muss man frühzeitig Talente fördern. Ich betreue seit Jahren als Mentorin in verschiedenen Förderprogrammen wie „Voices of Brandenburg“ oder als Jury-Mitglied der Deutschen Journalistenschule junge Journalist*innen, die erschwerte Zugangsbedingungen hatten oder haben. Es hilft, talentierte Nachwuchsjournalist*innen über Jahre hinweg im Auge zu behalten, um zu schauen, wie sie sich entwickeln und sie gegebenenfalls für einen Job weiterzuempfehlen. Das geht auch außerhalb des eigenen Mediums, indem ich auf Ausbildungstage fahre und dort mit den Menschen ins Gespräch komme.
Und intern, im SWR?
Der SWR bietet verschiedene Mentoringprogramme oder Führungstrainings an. Ich habe externe Speaker*innen zu Themen wie Kommunikation rechtsextremer Politiker*innen, Umgang mit Fake News oder geschlechtergerechte Sprache zum Gespräch eingeladen, um zusammen mit den Teams der Chefredaktion darüber zu reden.
Rechtsextremist*innen gewinnen weltweit an Macht und Einfluss, auch die Öffentlich-Rechtlichen werden massiv von Rechts angegriffen. Was bedeutet das für diversere Mitarbeiter*innen?
Wir müssen uns besser auf Social Media aufstellen, um Menschen, die Ziel von Hass und Hetze werden, zu schützen. Junge Frauen und BIPOC sind viel häufiger Opfer von Gewalt im Netz. Ich habe selbst einige Shitstorms erlebt. Man hat das Gefühl, ins Bodenlose zu fallen. Wir müssen die Strukturen schaffen, um Diversität zu verteidigen – Menschen etwa ein Coaching zur Seite stellen, sollten sie Opfer von Online-Hetze werden.
Soziale Netzwerke sind nicht die Ursache für den Aufstieg der AfD, doch die Partei hat etwa TikTok strategisch genutzt, um junge Menschen zu erreichen. Müssten Medien auf TikTok und Co. stärker präsent sein?
Nicht nur Medien, sondern vor allem Politiker*innen demokratischer Parteien. Die AfD hat von Beginn an ihren Fokus auf niederschwellige Ansprache via Social Media gesetzt und das funktioniert. Medienformate tun sich wegen des Datenschutzproblems auf TikTok schwer, zum anderen ist die Plattform und ihr Algorithmus überhaupt nicht erlernt. Dass es aber funktioniert, auch dort News an eine jüngere Zielgruppe zu bringen, beweist die tagesschau seit Jahren.
Die Historikerin Annika Brockschmidt sagt: „Die Rechten sehen Medien als Feinde, aber auch als nützliche Deppen.“ (Journalist 07/2024) Wie sollten Medien mit Parteien wie der AfD und Rechtsextremismus umgehen?
Die AfD verhält sich anders als alle anderen Parteien, das wissen wir seit Jahren. Sie tritt wütend auf, lügt und hetzt. Die AfD ist wie ein Unfall auf der Autobahn, alle fahren langsamer und gaffen, weil sie es nicht fassen können, dass so etwas passiert. Berichte über Aussagen oder das Vorgehen der AfD wirken, ähnlich wie bei Trump, derart absurd, dass sie eine hohe Aufmerksamkeit und dadurch Klicks und Quote generieren. Das ist Medienschaffenden bewusst – und der AfD auch. Die zunehmende Radikalisierung der in weiten Teilen rechtsextremen Partei war lange absehbar, man hätte frühzeitig über eine einordnendere Berichterstattung nachdenken müssen.
Wie könnte diese aussehen?
Zum Beispiel keine rechten Kampfbegriffe wiederholen, die teils ans Dritte Reich angelehnt sind. Man sollte sie nicht in Überschriften packen oder diskutieren, ob sie legitim sind. Statt in jeder Talkshow über „die Gefahren der Migration“ zu fantasieren, sollte man Menschen einladen, die von „Deportationsplänen“ tatsächlich betroffen wären. Wichtig sind auch Faktenchecks, die nachweisen, dass in Interviews systematisch gelogen wird. Hinzu kommt, dass einige reichweitenstarke konservativere Medien den Boden für AfD-Rhetoriken genährt haben, indem sie gegen einen vermeintlichen „Genderwahn“ anschrieben und Klimaschutz als „Grüne Spinnereien“ verunglimpften. Die Diskriminierung vermeintlicher Minderheitsthemen dient dazu, eine bestimmte Abo-Klientel zu erreichen, sie legitimiert rechtes Gedankengut. Da lacht sich die AfD ins Fäustchen.
Sie haben sich nach dreieinhalb Jahren in der Chefredaktion des SWR entschieden, aufzuhören – in einer politisch sehr turbulenten Zeit. Warum?
Der SWR hat 2023 für zwei Jahre den ARD-Vorsitz vom RBB übernommen. Das war stressig. Während dieser Zeit hatte ich die zusätzliche Aufgabe – und das Privileg – die ARD-Chefredakteursrunde und die der ARD Audio-Chefredakteur*innen zu leiten. Ich habe mir dabei immer wieder die Frage nach meiner eigenen publizistischen Wirkkraft gestellt. Das sehe ich als zentrale Aufgabe einer Chefredakteurin: Verantwortung für seine Teams, deren Entwicklung und die Inhalte des Mediums zu übernehmen. In einer Zeit, in der Rechtsextremist*innen weltweit zu Taktgebern (medien-)politischer Agenden werden, möchte ich meinen Grips und meine Gesundheit so einsetzen, dass ich eng mit unseren Redakteur*innen und Formaten arbeite. Da sich das mit der Strukturarbeit im SWR für mich nicht mehr vereinbaren ließ, war das Ende des ARD-Vorsitzes ein guter Zeitpunkt für mich, neue Wege zu gehen.
Wie geht es nun für Sie weiter?
Ich werde ab Januar erstmal ausschlafen und meine Blumen umtopfen. Alles andere lasse ich auf mich zukommen.
Marieke Reimann wurde 1987 in Rostock geboren. Von 2018 bis 2020 war sie Chefredakteurin des Magazins ze.tt, dem Zeit-Angebot für junge Menschen. Seit November 2021 ist Reimann Zweite Chefredakteurin des SWR und verantwortet als Hauptabteilungsleiterin einen Teil der Multimedialen Chefredaktion mit mehr als 400 Mitarbeitenden. Während des ARD-Vorsitzes des SWR leitet sie die Chefredakteurskonferenz Audio und, gemeinsam mit Oliver Köhr, die Chefredakteurskonferenz der ARD. Zuletzt übernahm sie für gut vier Monate die Interimsleitung der Multimedialen Chefredaktion des SWR. In Talkshows und Interviews, wie etwa in der MDR-Doku „Es ist kompliziert… – Der Osten in den Medien“, setzt sie sich für eine vielfältigere Medienberichterstattung über Ostdeutschland ein.
Sonja Peteranderl berichtet über Kriminalität, Gewalt und Technologie. Als Researcher & Journalist in Residence an der Humboldt-Universität Berlin forscht sie zu Eco Crimes & High Tech. Paulina Hildesheim ist Fotografin in Berlin.