Aktuelles

"Am Anfang habe ich mich oft klein gefühlt"

„Lasst auch Leute an diese Jobs ran, die nicht perfekt Deutsch können!“, sagt Ella Schindler. (Foto: Hannes Wiedemann)

Ella Schindler fragt sich, wann sie im Fernsehen oder im Radio öfter mal Menschen erlebt, die mit Akzent sprechen. Journalist*innen, die nicht in Deutschland aufgewachsen sind, bringen viele wichtige Kompetenzen mit, sagt die neue Co-Vorsitzende der Neuen deutschen Medienmacher*innen, die selbst erst mit 16 Jahren nach Deutschland kam und heute im Verlag Nürnberger Presse arbeitet. Interview: Kathi Preppner, Fotos: Hannes Wiedemann.

02.12.2022

Auf dem Weg vom Fotoshooting ins Café erzählt Ella Schindler von ihrer Zeit als Mentorin der Neuen deutschen Medienmacher*innen (NdM). Ihre Mentee macht inzwischen ein Volontariat bei der Süddeutschen Zeitung. Schindler engagiert sich neben ihrem Beruf als Volontärsverantwortliche im Verlag Nürnberger Presse in mehreren Ehrenämtern, gerade wurden sie und Autor*in Juri Wasenmüller zu neuen NdM-Vorsitzenden gewählt. Schindler sieht es als ihre Aufgabe, anderen Mut zu machen. Vielleicht liegt es daran, dass sie der Mut, Journalistin zu werden, nach ihrer Ankunft in Deutschland als Jugendliche für eine Weile verlassen hatte.

journalist: Frau Schindler, Journalistin zu werden, war Ihr Jugendtraum. Wie ist dieser Wunsch entstanden?

Ella Schindler: Die Hauptmotivation war meine Neugier auf die Welt und vor allem auf die Menschen. Wo kann man das besser ausleben als im Journalismus? Dazu kam, dass ich sehr gerne geschrieben habe. Mir gingen Texte leicht von der Hand.

Haben Sie schon als Schülerin geschrieben?

Ja, ich habe in der Ukraine auch einige Wettbewerbe gewonnen. Ein halbes Jahr vor der Ausreise nach Deutschland, da war ich 15, habe ich beim Ukraine-weiten Wettbewerb in der journalistischen Sparte den zweiten Platz gemacht. Das hat mich sehr ermutigt und darin bestätigt, diesen Weg zu gehen.

Stand es schon länger im Raum, dass Sie vielleicht auswandern würden?

Seit dem Mauerfall. Das war ein Signal für uns Russlanddeutsche, dass dieser Weg endlich auch für uns offen sein könnte. Ich bin in einer deutschstämmigen Familie in der Ukraine aufgewachsen. Es hat dann noch zwei Jahre gedauert, bis wir als Aussiedler*innen nach Deutschland kamen.

Und dann wollten Sie hier Ihren Traum vom Journalismus verwirklichen?

Ich bin voller Hoffnung nach Deutschland gegangen. Ich wollte sehen, wie Menschen in anderen Ländern leben. Und durch den Erfolg bei dem Wettbewerb für junge Journalist*innen fühlte ich mich bestätigt. Aber der Traum ist ziemlich schnell geplatzt, weil ich mir damals nicht zugetraut habe, die deutsche Sprache so zu erlernen, dass ich journalistisch schreiben kann. Ich habe ja erst hier angefangen, Deutsch zu lernen.

An welchem Punkt haben Sie gedacht, dass es doch nichts wird mit dem Journalismus?

Als ich im Sprachkurs diese zusammengesetzten Begriffe im Deutschen gelernt habe, die für mich richtige Zungenbrecher waren. Diesen Satz „Es freut mich, Sie kennenzulernen“ konnte ich am Anfang kaum aussprechen. Das waren Momente, in denen ich gedacht habe: Eine Sprache, die so kompliziert ist und klingt, die werde ich nie gut genug beherrschen, um später journalistisch tätig sein zu können.

Dann haben Sie Sozialpädagogik studiert.

Ja, weil das auch ein abwechslungsreicher Beruf ist, in dem man viel mit Menschen zu tun hat. Nach dem Studium in Nürnberg bin ich für ein Jahr nach England gegangen – auch das war eine wichtige Erfahrung in meinem Leben, eigentlich eine Schlüsselerfahrung. Ich wollte wissen, wie es sich anfühlt, woanders Migrantin zu sein. Und es war komplett anders.

„In Deutschland war ich für viele einfach eine Frau aus Osteuropa. Dieses Bild ist mit sehr vielen Klischees behaftet, und das habe ich auch zu spüren bekommen.“

Was waren die Unterschiede?

In Deutschland war ich für viele einfach eine Frau aus Osteuropa. Dieses Bild ist mit sehr vielen Klischees behaftet, und das habe ich auch zu spüren bekommen: Wir sind klüger, wir sind erfolgreicher, wir sind zivilisierter. Das wurde mir immer wieder vermittelt, mal deutlicher, mal subtiler. In England dagegen war ich „the German girl“ und somit eher auf Augenhöhe.

Was hat diese Erfahrung mit Ihnen gemacht?

Sie hat mir die Absurdität dieser Klischees offenbart. Zwischen Ella in Deutschland und Ella in England liegen zwei Stunden Flug – und ich werde ganz anders wahrgenommen. Die zweite wichtige Erkenntnis für mich war, wie wichtig die intersektionale Perspektive ist. In England habe ich mit Menschen mit Behinderung gearbeitet und erlebt, dass manche von ihnen diskriminiert und schlechter behandelt werden, weil sie bestimmte Merkmale in sich vereinen. Neben der Behinderung spielen dabei zum Beispiel auch ethnische Herkunft, sexuelle Orientierung, Gender, Religionszugehörigkeit und sozialer Status eine Rolle. Und die dritte Erkenntnis war: Ich kann auch auf Deutsch gut schreiben. Auf meine Mails nach Deutschland antworteten viele Freund*innen: Ella, du schreibst so schön, erzähl uns mehr! Das hat mich sehr bestärkt!

Haben Sie sich dann bei einer Zeitung beworben?

Nein, ich war noch nicht soweit. Ich habe erst mal Praktika im Bereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit absolviert.

Warum?

Gleich in den Journalismus zu gehen, kam mir vor, wie nach den Sternen zu greifen, das habe ich mir noch nicht zugetraut. In der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit riet mir dann eine Kollegin, auch ein journalistisches Praktikum zu machen. So kam ich auf den Gedanken, mich bei der Nürnberger Zeitung zu bewerben – und es hat geklappt. Daran sieht man, wie Menschen mit einem oder zwei Sätzen so vieles im Leben anderer Menschen verändern können, in positiver wie negativer Richtung. Einen entscheidenden Satz hat auch die Verlagssekretärin am Ende des Praktikums zu mir gesagt: „Frau Schindler, am Montag ist Bewerbungsschluss fürs Volontariat. Wollen Sie sich nicht bewerben?“ Von meiner Bewerbung habe ich niemandem erzählt, nicht einmal meiner Familie. Ich dachte, wenn ich das erzähle, sagen sie: Du bist eine Hochstaplerin, Deutsch ist ja nicht deine Muttersprache.

Obwohl Ihre Freund*innen Sie ja schon bestärkt hatten, was die Sprache angeht.

Aber ich dachte, für den Journalismus musst du wirklich perfekt Deutsch können, und das kannst du nicht lernen, wenn du mit 16 erst anfängst. Es hat doch geklappt und interessanterweise genau mit der Begründung, warum ich eigentlich mit einer Ablehnung rechnete: Es hieß, ein Mensch mit meiner Biografie könne neue Aspekte in den Lokaljournalismus bringen. Für mich schloss sich der Kreis: Ich war am 1. Oktober 1992 nach Deutschland gekommen und auf den Tag genau zwölf Jahre später ging ich in ein Medienhaus und fing eine journalistische Ausbildung an. Es fühlte sich an wie ein Sechser im Lotto.

Da waren Sie 28 Jahre alt. Wie waren die zwei Jahre Volontariat dann tatsächlich?

Mein Glücksgefühl währte nicht lange. Mir war klar: Das Volontariat kriege ich nicht geschenkt. Es wird eine harte Arbeit, ich muss an meinem Deutsch arbeiten. Auch heute merke ich an bestimmten Punkten, dass es nicht meine Muttersprache ist. Aber ich blicke jetzt mit einem ganz anderen Selbstbewusstsein darauf. Damals war zudem klar, dass ich vielen Menschen würde erklären müssen, wie es überhaupt dazu kommt, dass ich als Migrantin, die ohne Deutsch aufgewachsen ist, für eine Zeitung arbeite.

„Von meiner Bewerbung habe ich niemandem erzählt, nicht einmal meiner Familie. Ich dachte, wenn ich das erzähle, sagen sie: Du bist eine Hochstaplerin, Deutsch ist ja nicht deine Muttersprache.“

Was für Erlebnisse haben Sie da gehabt?

Auch sehr lange nach dem Volontariat haben mich Menschen noch oft für eine Praktikantin gehalten. Dabei hatte ich schon längst einen unbefristeten Vertrag als Redakteurin in der Tasche. Das spiegelte sehr deutlich die Haltung unserer Gesellschaft. Als ich 2004 mit dem Volontariat begonnen habe, haben wir noch nicht einmal darüber diskutiert, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist. Es war für viele Menschen absolut abwegig, dass eine Person wie ich journalistisch tätig sein kann.

Wie haben Sie reagiert, wenn jemand Sie für eine Praktikantin gehalten hat?

Ich habe das richtiggestellt. Im Nachhinein denke ich, vielleicht nicht mit der Souveränität, die ich jetzt habe und die nötig wäre. Am Anfang habe ich mich oft klein gefühlt. Auch darum waren diese ersten Jahre für mich sehr hart, weil ich auf mich selbst immer durch die Brille der Gesellschaft geblickt habe: Ella, dein Deutsch ist nicht perfekt, also kannst du keine gute Journalistin sein. Mit diesem Gefühl der Unzulänglichkeit habe ich jahrelang in diesem Job gelebt. Es sind nicht meine Deutschkenntnisse, auf die ich besonders stolz bin. Stolz bin ich vor allem darauf, dass ich all diese Jahre nicht aufgegeben, sondern an mir gearbeitet und weitergemacht habe.

Was hat Sie angetrieben?

Es lag zum Teil an anderen Menschen, die mir Mut gemacht haben – Freund*innen, Bekannte, vor allem auch Menschen, mit denen ich volontiert habe. Hinzu kommt: Ich habe einen langen Atem, ich war in der Ukraine Leistungsschwimmerin. Ich habe von klein auf gelernt, hart an mir zu arbeiten und trotz aller Widrigkeiten an Sachen dranzubleiben. Und zum Schluss war es auch der innere Trotz. Irgendwann wurde ich resoluter und selbstbewusster. Ich dachte mir dann: Der Verlag ist gut für mich, aber ich bin auch gut für den Verlag. Außerdem habe ich gemerkt, Journalismus ist nicht nur perfekte Sprachbeherrschung. Es gibt viele andere Kompetenzen, die Medienschaffende genauso brauchen: Sie müssen ein gutes Gespür für Themen haben, leicht Zugang zu Menschen finden, gut recherchieren können, gut im Team arbeiten können.

Würden Sie sagen, dass Sie am Anfang überschätzt haben, wie wichtig Sprache ist?

Sprache ist schon wichtig, aber viele andere Kompetenzen sind es auch. Dafür mache ich mich heute stark und sage: Lasst auch Leute an diese Jobs ran, die nicht perfekt Deutsch können! Im Zweifelsfall kann jemand über den Artikel lesen. Weil ich wusste, es kann passieren, dass in meinen Texten Fehler sind, habe ich umso ordentlicher und verantwortungsbewusster gearbeitet. Kein Text ging in den Druck, ohne dass ein, zwei Personen ihn redigiert haben. Wie viele Medienschaffende gibt es, die genial schreiben können, aber vielleicht nicht gerade teamfähig sind, und wie viel Kraft kostet das die Redaktionen? Das Redigieren eines Textes ist viel schneller erledigt, als die Konflikte innerhalb des Teams zu klären.

Sind Sie immer auf Verständnis gestoßen?

Es gab sicherlich Menschen, die sich erst einmal an den Gedanken gewöhnen mussten, dass ich als Migrantin diesen Job mache. Viele Kolleg*innen haben mich aber bestärkt und unterstützt.

Werden Sie heute manchmal noch für eine Praktikantin gehalten?

Nein, das passiert mir nicht mehr (lacht) – vielleicht aufgrund des Alters. Vielleicht betrete ich den Raum einfach viel selbstbewusster als in den ersten Jahren. Und ich glaube, unsere Gesellschaft ist auch weiter. Die meisten Menschen stellen nicht mehr infrage, dass wir eine Einwanderungsgesellschaft sind. Wir haben schon dazu gelernt.

Würden Sie das auch mit Blick auf die Medienlandschaft sagen?

Ich tausche mich sehr viel mit Volontärsverantwortlichen aus und merke: Sie wollen mehr Diversität in den Redaktionen haben. Das ist sehr oft Gesprächsthema zwischen uns: Wie schaffen wir es, die Volo-Jahrgänge divers zu besetzen? Was mich sehr freut: Auch für meine Kolleg*innen ist es keine Frage des Goodwill, es ist eine Frage der absoluten Notwendigkeit. Wir wollen vielfältigen Journalismus anbieten, unterschiedliche Zugänge zu Themen, unterschiedliche Blickwinkel. Und das kann man in einem divers zusammengesetzten Team einfach besser. Das erkennen viele Häuser inzwischen.

„Zwischen Ella in Deutschland und Ella in England liegen zwei Stunden Flug – und ich werde ganz anders wahrgenommen.“

Wird Diversität vor allem als wirtschaftliche Notwendigkeit gesehen, um sich neue Zielgruppen zu erschließen und neues Personal heranzuholen? Oder hat sich auch das Bewusstsein für das Thema gewandelt?

Ich denke, es ist eine Mischung all dieser Faktoren. Das Bewusstsein dafür ist gewachsen, vielleicht nicht in jeder Redaktion, aber in vielen. Aber es gibt eben auch diese Notwendigkeit, sich neue Zielgruppen zu erschließen. Mich persönlich bestärkt das eher, denn ich muss niemandem dankbar sein, dass ich diesen Job mache. Wir diverskulturellen Menschen sind für die Medienhäuser wichtig. Es ist nicht so, dass sie uns einen Gefallen damit tun, wenn sie uns einstellen.

Ist Diversität auch manchmal ein Label, mit dem sich Unternehmen gerne schmücken?

Das Prinzip Tokenismus gibt es schon noch, sicherlich. Durch den Diversity-Guide, den die Neuen deutschen Medienmacher*innen herausgebracht haben, habe ich Einblicke in viele Redaktionen bekommen. In den Gesprächen, die wir mit Chefredakteur*innen geführt haben, hieß es manchmal: Na, da haben wir schon jemanden.

Tokenism heißt, dass jemand als Vorzeigeperson genommen wird?

Genau, das gibt es sicherlich noch in einigen Redaktionen. Mit einer Person ist es eben nicht getan. Auch die Volos alleine können es nicht richten. Diversität zu leben bedeutet nicht nur, diverseres Personal ins Haus zu holen. Wir sind nicht die besseren Journalist*innen, auch nicht die schlechteren. Es geht eben darum, dass dieses Bewusstsein in der gesamten Redaktion geschaffen wird: Wie gehen wir an Themen ran? Spiegeln wir wirklich die Gesellschaft, wie sie ist? Wie oft kommen queere Menschen in unseren Produkten zu Wort – und zwar auch dann, wenn es nicht um den Christopher Street Day geht? Wie oft sehen wir Menschen mit Behinderung in unseren Geschichten?

Sie sagen, die Volontärsauswahl alleine wird es nicht richten, aber sie ist natürlich ein Baustein auf dem Weg zu diverseren Redaktionen. Sie sind selbst seit zwei Jahren verantwortlich für die Volontärsausbildung Ihres Verlags. Haben Sie da schon zur Vielfalt beitragen können?

Ich habe auf jeden Fall ein Auge darauf und die Antennen dafür. In unseren aktuellen Volo-Jahrgängen haben wir diverskulturelle sowie queere Menschen. Aber es ist generell nicht einfach, junge Menschen für Lokaljournalismus zu begeistern. Ich bin der Meinung, dass wir viel früher ansetzen müssten. Wir versuchen jetzt zu ernten, was da ist, aber wir müssen säen, bildhaft gesprochen. Wir müssen in die Schulen gehen oder auf Social Media noch stärker aktiv sein, um junge Menschen zu empowern: Hey, Journalismus könnte auch für dich ein spannender Beruf sein. Ich bin mir sicher, es gibt sehr viele Menschen aus migrantischen Familien, aus Arbeiter*innenfamilien, die nie von sich aus auf den Gedanken kommen, sich für diesen Weg zu entscheiden.

Wie kann man bei der Auswahl Diversität erreichen? Die eigene sexuelle Orientierung oder die Migrationsgeschichte der Familie schreibt man ja nicht unbedingt in die Bewerbung.

In der Tat ist es nicht so einfach zu erkennen, wenn ich die Menschen nicht persönlich kenne. Dann bin ich auf die Bewerbung angewiesen, und an diesem Punkt ermutige ich junge Menschen, auch auf diese Dinge einzugehen. In unserer Ausschreibung steht, dass wir uns über Bewerbungen von Menschen freuen, die für die Diversität unserer Gesellschaft stehen. Das machen andere Volontärsverantwortliche oft genauso, um zu vermitteln: Bitte, junge Menschen, bringt das in eure Bewerbung mit rein. Es ist eine Kompetenz.

„Irgendwann wurde ich resoluter und selbstbewusster. Ich dachte mir dann: Der Verlag ist gut für mich, aber ich bin auch gut für den Verlag.“

Die frühere NdM-Vorsitzende Ferda Ataman, heute Antidiskriminierungsbeauftragte, sagte kürzlich, in der Debatte um Diversität sei Diskrimierung der Elefant im Raum. Was kann man gegen Diskriminierung in Redaktionen tun?

Sie thematisieren. Die Souveränität mitbringen, Dinge nicht wegzulächeln, sondern darüber zu sprechen. Wir brauchen Räume, in denen wir uns damit befassen, wie sich Diskriminierungserfahrungen für unsere Kolleg*innen anfühlen. Dafür brauchen wir vor allem Vertrauen und Sensibilität. Um eine Redaktionskultur zu schaffen, in der sich alle wohl fühlen, braucht es Diversität auf allen Ebenen.

Sie geben auch Workshops zu Diskriminierung durch Sprache. Inwiefern diskriminieren Medien Menschen mit ihren Inhalten?

Sprache ist unser Handwerkszeug, wir müssen achtsam damit umgehen. Aber das passiert oft nicht. Ein aktuelles Beispiel: Die Neuen deutschen Medienmacher*innen verleihen heute Abend die Goldene Kartoffel an eine Dokumentation vom SWR, in der es um Russlanddeutsche geht. Die Doku steht stellvertretend für die unterirdische Berichterstattung deutscher Medien über Russlanddeutsche und andere Zugewanderte aus dem postsowjetischen Raum. Für mich beginnt die Schieflage schon damit, dass die betroffenen Menschen auf die Frage reduziert werden: Wie stehst du zu Putin? Hier gehen Medien oft unsensibel vor – und auch unkreativ: Wie viele Berichte gab es, in denen Menschen aus postsowjetischen Ländern vor russischen Läden interviewt wurden. Man sieht immer wieder die gleichen Bilder. Man merkt, dass viele Redaktionen einfach zu wenig über diese Menschen wissen und offensichtlich auch wenig Zugänge in diese Communitys haben. Und wie oft werden in Artikeln die Begriffe Russ*innen, russischstämmig, russischsprachig, russlanddeutsch synonym verwendet – dabei stehen sie für unterschiedliche Gruppen. Da geht viel durcheinander.

Ändert sich das nicht gerade, weil sich viele Leute seit Kriegsbeginn mehr damit beschäftigen?

Ja, dennoch frage ich mich: Wo wart ihr Kolleg*innen in den letzten 30 Jahren? Der Zuzug aus postsowjetischen Ländern seit 1990 war enorm, das ist eine der größten Einwanderungsgruppen in Deutschland. Ich will jetzt nicht alle an den Pranger stellen, ich habe in diesem Jahr auch viele gute Berichte über das Thema Post-Ost-Community gelesen und gemerkt: Hier ist jemand am Werk, der versteht, wie diese Menschen ticken – und das waren eben sehr oft Kolleg*innen, die selbst familiäre Bezüge zu diesen Ländern haben. Es ist gut, wenn die Redaktionen divers sind. Dann kann auch mal jemand in einer Konferenz einwerfen: Liebe Leute, russischsprachig und russischstämmig ist nicht das Gleiche.

Im vergangenen Jahr haben Sie ein sehr persönliches Stück über Ihre Familiengeschichte geschrieben. War das eher die Ausnahme?

Nein, das mache ich immer wieder mal, zu bestimmten Anlässen. Vor der Invasion habe ich einen großen Text geschrieben für die Seite 3, der ist zufällig tatsächlich am 24. Februar erschienen. Die Überschrift lautete: „Meine Heimat hat Anspruch auf Unabhängigkeit“. Darin versuche ich zu erklären, wie sehr der Blick des Westens auf die Ukraine durch Russland geprägt ist und wie die Ukraine schon immer von allen möglichen Mächten zerrissen wurde. Das sollte ein Warnschuss sein: Es ist jetzt an der Zeit, dass wir die Ukraine unterstützen, sonst wird es diesen Staat nicht mehr geben.

Der Krieg ist natürlich eine Ausnahmesituation, aber wie wägen Sie ab, wann Sie als Expertin für ein Thema auftreten möchten und wann nicht?

Das ist eine sehr individuelle Frage, die jede*r für sich entscheiden muss – und auch jedes Mal neu. Bei mir ist das oft mit bestimmten Daten oder Ereignissen verbunden, wie im Februar. Mir wurde schnell klar: Es ist der Moment, in dem ich mein Hintergrundwissen zur Ukraine in einen Artikel packe. Ich denke, dass meine persönliche Geschichte anschaulich macht, was diese historischen Ereignisse mit Menschenleben machen.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft der Medienlandschaft hierzulande?

Ich wünsche mir mehr Diversität in den Führungsetagen der Medienhäuser. Außerdem wünsche ich mir hörbare Diversität in den Redaktionen. Ich frage mich, wann ich im Fernsehen oder im Radio öfter mal Kolleg*innen erlebe, die so wie ich mit Akzent sprechen – ohne dass es um migrantische Themen geht. Hier sind wir noch nicht wirklich weit. Diese Menschen haben so viel zu bieten, sie sind viel näher an den Communitys und an den Ländern dran, in denen sie aufgewachsen sind. Sie nur darauf zu reduzieren, wäre aber auch falsch. Denn die Kolleg*innen bringen noch viele anderen Kompetenzen mit. Warum nutzen Redaktionen das so wenig für sich? Ich weiß, oft steht als Grund im Raum, dass man diese Kolleg*innen stärker unterstützen müsste, was eben mehr Ressourcenaufwand bedeutet. Mein Argument dagegen: Ja, es kostet euch einige Minuten mehr zu redigieren – aber hey, dafür habt ihr eine super Story.

Zur Person

Ella Schindler arbeitete nach ihrem Sozialpädagogik-Studium als Lehrerassistentin an der Willow Dene School in London. 2004 machte sie ein Praktikum bei der Nürnberger Zeitung, es folgte ein Volontariat. Danach arbeitete sie zunächst als Redakteurin für die Nürnberger Zeitung und den Fränkischen Kurier. Seit Herbst 2020 ist sie verantwortliche Redakteurin für die Volontärsausbildung im Verlag Nürnberger Presse. Bei den Neuen deutschen Medienmacher*innen ist sie seit zwei Jahren im Vorstand aktiv, im November wurde sie zusammen mit Autor*in Juri Wasenmüller zur Vorsitzenden gewählt.

Kathi Preppner ist Medienjournalistin in Berlin. Hannes Wiedemann arbeitet als Fotograf in Berlin.

Aktuelles Meinung