Floskel des Monats
überrascht
Wenn die Temperaturen steigen, wird es wärmer. Wenn Sie das Radio einschalten, ertönt voraussichtlich so etwas wie ein Geräusch aus den Lautsprechern. Wenn Sie im Sommer in einen See springen, wird es nass. Und wenn Sie etwas essen, gelangt Nahrung in Ihren Magen. Um diese Kausalitäten zu verstehen, müssen Sie nichts studiert haben. Wissenschaft ist es dennoch: Auf eine Aktion folgt eine Reaktion beziehungsweise gibt es für eine Wirkung immer eine Ursache.
Sie wissen das, weil es einfach und verständlich scheint – und weil Sie diese wissenschaftlichen Fakten seit Ihrer Kindheit kennen. Dabei haben Sie vermutlich noch nie mit einer Magensonde nachgeschaut, wo das Essen tatsächlich hingeht. Komplizierter wird es dann bei jenen Ereignissen, die eben nicht so leicht und verständlich sind. Nach zwei Jahren Pandemie scheint trotz der Informationsflut noch immer kaum jemand zu verstehen oder verstehen zu wollen, was exponentieller Anstieg ist, wie Aerosole sich genau verbreiten oder was dieses Virus noch mal im Körper genau macht. Das ist auch okay!
Wir Menschen können nicht alles wissen, und wir können auch nicht alles alleine. Genau hier beginnt der Punkt, wo wir uns auf andere verlassen müssen, und zwar auf Expert:innen und mit Blick auf die Pandemie auf renommierte Personen aus der Wissenschaft. Fachleute, die verifizierte Prognosen einreichen und uns Lai:innen eine in weiten Teilen populärwissenschaftliche, also leichte Erklärung des Komplexen liefern.
Und jetzt tun Sie bitte nicht so überrascht, aber erstaunlich viele Entscheidungsträger:innen in der Politik sind seit zwei Jahren stets überrascht, dass es dann exakt so eintrifft, wie es diese Expert:innen eingeordnet haben. Niemand hätte doch ahnen können, dass ausgerechnet das, was die Wissenschaft sagt, auch stimmt. Deswegen ist dieses angebliche Überraschtsein, diese vermeintliche Unvorhersehbarkeit und diese geheuchelte Verwunderung, wenn mal wieder etwas schief gegangen ist, ein klarer Fall für die Floskel des Monats. Mit all ihren Synonymen. Die gefühlten Wahrheiten dienen nur der Buhlerei um Wählergunst, aber eine kluge Politik ist das nicht. Und mit einer wissenschaftlichen Expertise hat das erst recht nichts zu tun.
Wie sich Floskeln und Phrasen im Journalismus ausbreiten, machen Sebastian Pertsch und Udo Stiehl mit der sprach- und medienkritischen Floskelwolke sichtbar. Hier stellen sie Begriffe oder Formulierungen vor, mit denen KollegInnen besonders häufig danebenliegen.